Bernardo sang Tenor in der »Grupo gett«, wie der Chor eines längst nicht mehr existierenden Goethe-Instituts in Arequipa ›› hieß, und hatte sich aus purer Freude an der Chormusik zusätzlich einen kleinen gemischten Privatchor zugelegt. Seine Einsätze als Dirigent waren abenteuerlich, ja akrobatisch. Die Sorge, dass er einmal kopfüber in den Sopran und Alt hineinstürzen könnte, war beim Musizieren allgegenwärtig. Seine Hände tanzten vor den Gesichtern der Sänger in zwei, manchmal auch drei Sprüngen nach oben, dann wippten sie herunter, schwangen rhythmisch vor und zurück. Doch mit welcher der Handbewegungen nun die erste Note erklingen sollte, das mussten die Sänger erahnen lernen.
Die Proben klappten bestens
In einem Konzert in der Kirche La Merced wollte Bernardo gerne Mozarts Ave Verum ›› zu Gehör bringen, als Krönung des Abends sozusagen. Die Sangesfreunde der Grupo Goethe bat er, seinen Chor zu verstärken, ich sollte die Orgelbegleitung auf einem Harmonium übernehmen. Eine Orgel gäbe es dort nicht. Die Proben in der Schule klappten bestens, statt des Harmoniums nahmen wir das Klavier.
Das Harmonium steht links vom Dirigenten mit Blick zum Chor, der sich auf den Altarstufen formiert hat, etwa drei Meter von diesem entfernt. Ein Einsatz durch Bernardo ist zum Glück nicht vonnöten, die Begleitung setzt zwei Takte vor dem Chor ein.
Ich trete also beide Pedale kräftig, mache mit dem Blasebalg ordentlich Wind, damit die Töne nicht jaulen, sondern von der ersten Note an voll und klar im Kirchenraum stehen.
»Ave, ave verum corpus« setzt der Chor verhalten ein. »Gruß dem wahren Leib, geboren aus Maria, reinem Weib.«
Bei »Leib« irritiert mich eine seltsame Empfindung, als wollte sich das Instrument von mir entfernen. Nicht sichtbar zwar, aber es scheint sich zu bewegen.
»Echt gefoltert, hingeopfert am Kreuze für des Menschen Heil« singt der Chor, und ich werde das Gefühl nicht los, als müsste ich meinen Stuhl etwas nachziehen. Mit den Beinen geht dies nicht, weil ohne Wind kein Harmonium klingt. Permanent den Blasebalg treten treibt den Schweiß, dazu gesellt sich die Angst, das Instrument könnte sich verstärkt selbständig machen.
Rettung im letzten Moment
Es tut es – gegen meinen Willen! Über einen halben Meter habe ich sicher schon seit dem ersten Takt zurückgelegt. Ich rutsche jeweils mit dem Gesäß bis an die äußerste Kante der Sitzfläche. Für einen Moment bleibt nur das einhändige Spiel. Unmittelbar bevor der Stuhl kippt, zack, Stuhl nachziehen und wieder volles Werk.
»Mit der Lanze aufgestochen, Wasser floss heraus und Blut«
– Gottlob, die Hälfte ist überstanden, doch die Reisegeschwindigkeit nimmt zu. Die Fliesen, über die ich mit dem Instrument nun zu gleiten beginne, sind noch glatter, noch akkurater mit Wachs behandelt als es die auf der Startposition waren. Ich sitze einfach zu tief, trete deshalb die Pedale eher nach vorn statt nach unten.
Die Erkenntnis kommt zu spät, eine geeignetere Bank hätte ohnedies nicht zur Verfügung gestanden.
»Sollen wir gekostet haben, wenn der Tod uns prüfen wird.«
Statt auf ihren Dirigenten zu achten, werfen mir Soprane und Tenöre vermehrt besorgte Blicke zu, denn ich nähere mich deren Flanke bedrohlich. Mehr als zwei Meter bin ich seit dem Vorspiel musikalisch unterwegs, in Richtung Altar.
Das Postludium ist in Sicht! Noch drei Takte!
Geschafft!
Knapp vor dem Chor komme ich zum Stehen – schweißgebadet!
Was sagen Sie dazu?