Das Notizbuch blieb liegen.
Sie hatte es zunächst gar nicht bemerkt. Ihr Sitznachbar sprang auf und stieg hastig aus, nachdem er fast die Haltestelle verpasst hatte. Ein Sitznachbar, mit dem sie noch nicht einmal ein Kopfnicken ausgetauscht hatte, als er sich neben sie gesetzt hatte, den sie völlig aus dem Bewusstsein gestrichen hätte, hätte er nicht einen merkwürdigen Geruch gehabt. Nicht schlecht, aber anders. Sie hatte dennoch keinerlei Interesse gehabt hatte, ihn auch nur aus dem Augenwinkel anzusehen.
Sein Da-Sein war ihr unangenehm gewesen, sie fuhr gern Bus, zog es aber immer vor, eine Bank für sich zu haben. Normalerweise nahm sie den Platz am Gang und legte auf dem Platz am Fenster ihre Tasche ab. Wenn dann jemand unbedingt den freien Platz neben ihr haben wollte, stand sie selbstverständlich auf und ließ den Jemand an den Fensterplatz. Hauptsache, sie konnte jederzeit aufstehen, ohne einen Sitznachbarn ansehen und fragen zu müssen.
Sie hatte wenig Lust auf Nähe
Sie war eine freundliche Frau, da gab es gar keinen Zweifel, und sie hätte nie die Frage nach dem freien Platz neben ihr mit einem Nein beantwortet, aber abends auf dem Heimweg und eigentlich auch morgens vor der Arbeit hatte sie wenig Lust auf solche Nähe.
Heute aber war sie müde und wollte auf der Fahrt das Kinn auf die Tasche und den Kopf ans Fenster lehnen. Ein bisschen hinaus schauen. Die Gärten wurden ja schon langsam bunter. Das war am Ende besser als vor sich hin zu starren und Gefahr zu laufen, dass der Kopf nach unten sank, die Augen zufielen und der Unterkiefer aufklappte, weil sie kurz eingeschlafen war.
Der Bus schaukelte. Die Haltestellen wurden angesagt. Er saß auf einmal da und sie konnte ihn riechen. Dann war er aufgesprungen und der Geruch war weg. Sie wusste gar nicht, was sie zuerst wahrgenommen hatte. Das Aufspringen oder den fehlenden Geruch.
Da lag das Notizbuch
Und jetzt lag da dieses Notizbuch. Er musste darauf gesessen haben. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass man auf einem so dicken Buch sitzt und es nicht bemerkt. So gut gepolstert waren die Sitze im Bus jetzt auch wieder nicht.
Der Bus war sofort wieder angefahren. Sie hatte zwar noch jemanden von der Haltestelle wegrennen sehen, aber ob das ihr vorheriger Sitznachbar war, wusste sie nicht.
Für das Notizbuch fühlte sie sich sofort verantwortlich. Weil sie den Besitzer nicht auf sein Vergessen hatte aufmerksam machen können.
Wie auch.
Sie betrachtete jetzt das Buch.
A6 dachte sie, matter, tannengrüner Plastikeinband, vielleicht ein Werbegeschenk, dachte sie. Sowas kauft man doch nicht, ist so hässlich, dachte sie und zögerte, das Buch in die Hand zu nehmen. Dachte, ob sie es vielleicht besser mit einem Taschentuch hochnehmen solle. Schmuddelig sieht es nicht aus, dachte sie, aber er ist ja drauf gesessen.
»Ach was«, dachte sie, und nahm es hoch, zögerte aber noch, es zu öffnen. Als ob sie genau wisse, dass der Inhalt nicht für sie bestimmt war. Aber vielleicht stand eine Telefonnummer drin oder eine Adresse …
Ein Wort an immer derselben Stelle
Sie nahm das Buch also in die linke Hand, legte den rechten Daumen auf den Einband und ließ die Blätter durchrauschen. Daumenkino, dachte sie, aber keine Bilder, dennoch schien ein Wort sich an der immer selben Stelle zu bewegen. Ziemlich voll, dachte sie, denn bis auf einige Blätter ganz hinten waren die Seiten beschrieben.
Sie bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass der Bus ihre Haltestelle erreicht hatte, sprang auf, wischte durch die sich eben schließende Tür und lief ein paar Schritte, bis ihr auffiel, dass sie dazu gar keinen Grund hatte.
Sie steckte das Notizbuch in die Tasche und spazierte die kurze Strecke bis zum Supermarkt, kaufte ein, was sie für den Abend brauchte und ging dann nach Hause.
Dort stellte sie die Tasche auf eine Kommode neben der Wohnungstür, hängte ihre Jacke auf, zog die Schuhe aus, trug ihre Einkäufe in die Küche, schaltete ihr Radio ein, bereitete ihr Abendessen zu, telefonierte rasch mit einer Freundin und machte es sich auf der Couch bequem und aß. Sie duschte, machte sich bettfertig, ging ins Schlafzimmer, öffnete das Fenster, legte sich ins Bett und wollte noch eine Weile lesen.
»… schöner Name für schöne Frau«
Ein Windstoß schob das Fenster weiter auf. Sie stand auf, schloss das Fenster und im Schließen fiel ihr das Notizbuch ein. Sie tappte noch einmal in den Flur, nahm das Buch aus der Tasche und ging wieder ins Bett.
Sie ließ die Seiten des Buches wieder durch Daumen und Zeigefinger gleiten und besah das bewegte Wort genauer.
Schöne Handschrift dachte sie. Noch einmal durch Daumen und Zeigefinger.
»Rosenblättchen«.
Das Wort Rosenblättchen wanderte über die Seiten, als ob es vom Wind verweht würde und kam auf der letzten Seite wieder auf seinem angestammten Platz zu stehen.
Sie musste lächeln. Und sie musste das Buch jetzt öffnen. Da war nicht hastig mit Kugelschreiber notiert worden. Der Jemand benutzte Tinte.
»Nenn ich Dich Rosenblättchen jetzt« stand da auf der ersten Seite. »Hat jemand mir sagen, dass Rosenblättchen schöner Name für schöne Frau«.
Am rechten Rand steht Rosenblättchen.
Sie musste lächeln.
»Fahr ich jeden Tag mit Bus auch Wochenende aber Du nur Montag bis Freitag. Seh ich Dich schon lang, aber nix sprechen mit Dir. Keine Mut. Denke, ich schreiben und dann irgendwann Du lesen«.
Am rechten Rand steht Rosenblättchen.
Für jeden Tag ein Eintrag
»Jeden Tag erzähle Dir was ich getan. Was ich lernen, was ich kann, was nicht kann, was mag, was nicht mag. So muss nicht sprechen. So kein Angst, dass Du nicht hören mag.«
Am rechten Rand steht Rosenblättchen – in Höhe und Richtung leicht verändert.
»Heute Dir sagen, dass komme aus Afghanistan. Dir nicht sagen, dass dort Angst oder schlimm Krieg oder Haus kaputt, obwohl so ist, aber Dir sagen, dass dort kein gute Zeit auf mich warten. Heute haben Deutsche Stunde in Schule. Deutsche Stunde schwer für mich weil Deutsche Sprache schwer für mich. Hab nicht Englisch lernen Afghanistan obwohl studieren, aber jetzt Deutschland und Englisch mir nicht helfen. Möglich ein Bisschen, aber nicht sicher. Hier niemand Pashtu. Obwohl schön. Spricht mit viel Blumen. Darum mag Rosenblättchen«.
Am rechten Rand weht das Rosenblättchen.
»Heute Sonntag – da nicht Bus fahren und nicht sehen. Aber morgen«.
Rand rechts: Rosenblättchen.
Jede Seite in schöner Schrift. Auf der rechten Seite des Buches ein Eintrag mit den Gefühlen und dem Erlebten eines Tages, mal nur ein paar Worte oder nur ein Satz, manchmal viel mehr, und immer das Rosenblättchen, sich hebend, drehend, senkend am rechten Rand. An jedem Tag ein Eintrag, dem Rosenblättchen gewidmet.
Ein Leben auf hundertfünfzig Seiten
Sie liest Seite für Seite.
Liest, dass er von der Familie verheiratet werden sollte. Liest, dass seine Schwestern nicht mehr zur Schule gehen durften. Liest, dass ein Onkel und zwei Cousins ermordet wurden.
Liest, dass er verfolgt wurde, weil er laut gesagt hatte, an keinen Gott zu glauben, dass Bildung für alle der Weg zur Freiheit für alle ist. Liest, dass er die Schönheit der Gebirge vermisst, dass er von den Bildern der Gärten träumt, die seine Großeltern pflegten.
Liest, dass er die Geschichte und die Märchen seiner Heimat in der Seele trägt. Liest, dass er als Ingenieur eine Wasserversorgung für die trockenen Gebiete des Landes plante, damit Gärten und Äcker wieder hätten entstehen können.
Liest von der Aussichtslosigkeit, die zur Flucht führte, über die Reise, über die Ankunft, über das Sich-Zurecht-Finden.
Liest ein Leben auf einhundert und fünfzig Seiten.
Liest einhundert und fünfzig Tage Geduld.
»Jetzt ich letzte Seite schreiben. Jetzt musst Du bekommen das Buch. Jetzt vielleicht ich Glück. Jetzt mein Telefon 0176-xxxxxxx
Samir «
In der Mitte der Seite ein Rosenblättchen.
Was sagen Sie dazu?