Es ist vielleicht ein etwas rassistischer Vergleich, aber so kam ich mir an diesem denkwürdigen Abend vor: Wie ein naiver Missionar, der im riesigen Kochtopf von Menschenfressern gelandet war. Solche gruseligen Geschichten aus alten Zeiten hatte ich früher gerne gelesen.
Was war geschehen?
Umzug aufs Land
Ich war mit meiner Familie von der Großstadt aufs Land gezogen, nach Kiesselbach am Kiesselsee. Es gab dort einen schönen kleinen Bahnhof, ein Kriegerdenkmal, eine moderne katholische Kirche, einige Bauernhöfe, wo man Milch holen konnte, einen Bäcker, der am Sonntag offen hatte, und einen kleinen Supermarkt, an dessen Kasse neben der Kassiererin oft ein dicker, grapschender Landwirt stand.
Schnell lernten wir nette Leute kennen, besonders in der gerade gegründeten Friedensinitiative. Diese Initiativen schossen zu Beginn der 80ger Jahre überall wie Pilze aus dem Boden, meist getragen von Jusos, fortschrittlichen Kirchenleuten oder Grünen-Anhängern.
Treffen der Friedensinitiative
Wiedermal ein Treffen im evangelischen Gemeindehaus. Wir diskutierten über Pershing-Raketen, die in der BRD stationiert werden sollten, über die letzte Menschenkette, über den Krefelder Appell, über Helmut Schmidt, der von Helmut Kohl mit Hilfe der FDP geschasst worden war.
Zum Schluss kam Edi mit einem Papier:
»Ich hab hier einen Antrag für die Bürgerversammlung, der wird gerade in vielen Orten ähnlich eingebracht: Kiesselbach atomwaffenfrei!«
Edi, ein sehr engagierter Gemeinderat, trug den Antrag vor. »Was meint ihr? Sollen wir das bei der nächsten Bürgerversammlung hier auch machen?«
Allgemeine Zustimmung. Klar, machen wir.
»Wer würde das dort vorlesen?« fragte Edi.
Langes Schweigen. »Du?« »Nein« »Oder du?« »Nein, trau ich mich nicht.« »Ja, was tun wir denn jetzt?«
Mir wurde das Hin und Her zu dumm. »Lesen kann ich ja eigentlich. Also gebt her! Ich mach es.«
Große Erleichterung in der Runde. Fröhlich lachend gingen wir auseinander.
Ich hatte keine Ahnung, was ich mir da eingehandelt hatte.
Die große Turnhalle
In der Grundschule gab es eine große Turnhalle, in der es immer leicht nach Schweiß und alten Turnschuhen roch.
An diesem Tag war sie für die große Bürgerversammlung hergerichtet. Als ich zehn Minuten vor Beginn mit etwas mulmigem Gefühl und dem Antrag in der Hand reinkam, war sie schon ziemlich voll.
Hinten saß ein junge Mutter, die ihr Kind stillte.
»A Sauerei is des, was will die hier? Die soll ihr Kind daheim säugen!« hörte ich ein paar Lederbehoste murren. Der etwa zwei Meter große Vater neben ihr mit langen Haaren und handgestricktem Pullover flößte ihnen wohl Respekt ein, sie nörgelten nicht weiter.
Ich suchte mir einen Platz bei den Friedensgenossen und wartete gespannt, was jetzt passieren würde. Die Halle füllte sich weiter, teils mit ländlichen Menschen, teils mit neu zugezogenen Speckgürtelbewohnern, so wie wir.
Ich war noch nie auf so einer Versammlung auf dem Land gewesen, es war spannend. Ich fühlte mich wie im Bauerntheater.
Wie im Bauerntheater
Schließlich wurde es ruhig und der ehrenamtliche Bürgermeister trat ans Podium.
Zuerst begrüßte er den Landrat, der gleich neben dem Podium saß. Ich kannte ihn schon aus der Zeitung. Da gab es oft Bilder von ihm, wie er bei Feuerwehrfesten oder Vereinsjubiläen in dicke Würste biss oder Bierkrüge hob. Sein Leibesumfang war entsprechend.
Der Landrat seinerseits begrüßte seine Untertanen, dann legte der Bürgermeister los:
»Wir hoben im vergongenem Johr für Gemeindestroßen siebenundfünfzig äh, nein, fünfundsiebzigtausend Demork ausgegeben.«
»Für die Konolisation woren es donn vierundzwonzig, äh äh zwoaundvierzigtausend. Für die Schule… «
So ging es in echtem Opfelsoft-Bayrisch noch eine Weile weiter, bis er auf einmal sagte:
»Gibt es von Seiten der Bürger wos dazu zu sogen?«
Niemand meldete sich. Da merkte ich, wie mich jemand in die Seite stieß:
»Du musst vor!«
Das Theater war zuende, es wurde ernst.
Im Kochtopf
Vorsichtig meldete ich mich. »Sie, da hinten, wos wollen Sie?«
»Ich hätte da einen Antrag.«
»Wos? Einen Ontrog? Wos wollen`S denn?«
Ich war schon ein bisschen nach vorne gegangen und antwortete: »Wir wollen, dass Kiesselbach atomwaf…«
»Das ist nicht zulässig! Das gehört nicht hierher!« rief der Landrat, seine Knödelstimme überschlug sich fast.
Der Bürgermeister schaute ratlos in die Menge.
»Vorlesen lassen! Vorlesen lassen!« Hinter mir ertönte plötzlich ein lauter Sprechchor. Ich wusste gar nicht, dass so viele Friedenfreunde hier waren.
Das gab mir Mut, ich marschierte mit hochrotem Kopf und schweißnassen Händen auf das Redepult zu.
»Das ist nicht zulässig! Nicht zulässig! Lesen Sie die Gemeindeordnung!« knödelte der Landrat weiter.
Der Sprechchor wurde heftiger und wütender. »Vorlesen lassen! Vorlesen lassen!«
Das Baby schrie.
Der Antrag
Nun wollte der Bürgermeister wohl die Situation entschärfen und meinte: »No, donn lesen`S holt vor!«
Mit zitternder Stimme las ich vor, Kiesselbach solle sich, wie es schon viele andere Gemeinden vorher gemacht hatten, zur atomwaffenfreien Gemeinde erklären …
Ein paar Minuten war es mucksmäuschenstill, bis der Landrat wieder loslegte:
»So, jetzt gehen`S wieder zurück. Der Antrag ist nicht zulässig! Eine Abstimmung ist nicht zulässig!!!«
Der Saal tobte: »Abstimmen lassen! Abstimmen lassen!«
Dazwischen der kreischende Landrat: »Nicht zulässig! Illegal! Gegen die Gemeindeordnung!«
Wie sollte ich aus diesem Hexenkessel wieder rauskommen? Ratlos stand ich vorne.
Die Abstimmung
Plötzlich eine Stimme aus dem Publikum: »Wer ist dafür?«
Unzählige Hände hoben sich. Es wäre wohl die Mehrheit gewesen. Jubel in der Menge wie bei einem Fußballspiel.
Der Landrat kam auf mich zu, wollte mich wegscheuchen.
»Jetzt machen`S endlich Schluss! Geben`S das Mikrofon frei!« hörte ich ihn schreien.
Ich musste weichen. Immerhin hatte es ja eine Art Abstimmung gegeben. Wie in Trance stolperte ich zurück an meinen Platz und wurde von den Friedensfreunden als Heldin empfangen.
Weitere Anträge wurden nicht gestellt. Wir gingen raus, der Alptraum war zuende. Ich lebte noch und atmete wieder ruhiger. Puh, das war hart! Ich war in den Niederungen dörflicher Politik gelandet.
»Lasst uns noch was trinken!« rief eine Friedensfreundin.
So viel Power hab ich bei einer Kiesselbacher Bürgerversammlung nie wieder erlebt. Aber immerhin:
Kiesselbach ist bis heute atomwaffenfrei!
dodo lazarowicz schreibt
grad hab ich „meinen senf“ auf workplace zu deinem köstlichen text gegeben, weil ich den kasten vorhin nicht gefunden hatte. ein tolles stück erinnerung an das demokratische erwachen vieler aus unserer generation und von der angst und der zitterpartie „darf man das überhaupt“ und von den dürren oder gwamperten „potentaten“ jeder couleur.
kieselbach bleibt atomwaffenfrei, herrlich. wie mutig, helden- und wehrhaft gegenüber der momentanen zeit, wo man locker fast alles dürfte, aber gar nichts mehr davon wissen will und stattdessen nach waffen, rüstung und krieg schreit und nach remigration. was für eine traurige zurückentwicklung! danke für deine lebhaften und leibhaftigen erinnerungen an unsere aufbruchszeiten!
Anne schreibt
Das lässt alte Zeiten sehr lebendig wieder aufleben. Vielen Dank dafür, liebe Doja! Und für deinen Mut, natürlich.
Doja Muggenthaler schreibt
Liebe Anne,
danke für das Kompliment!
Vielleicht war es auch naiv, aber jedenfalls ein unvergessliches Erlebnis!