Was ist ein Kommunist, Onkel Walter?“
Ich bin vier Jahre alt, stehe auf dem Stuhl und sehe durchs Fenster Herrn und Frau Kirschner auf dem Hof herumrennen. Gerade hat meine Tante meinem Onkel Schweigen geboten, weil er sich mit seiner lauten Stimme über die Sturheit dieser Mieter beklagt hat: „Pst, die sind Kommunisten.“
Mein Onkel, Flüchtlingskind aus Schlesien, im Krieg beide Eltern verloren, erklärt: „Ein Kommunist sagt zu dir: ‚Gib mir dein Hemd.‘ Du musst es ausziehen und ihm geben.“ Diese frühe Konditionierung konnten zwölf Jahre sozialistische Schule nicht aufweichen. Meinen Onkel liebte ich, die Lehrer naturgemäß nicht. Ich blieb der ganzen herrlichen Zukunftsmalerei vom kommunistischen Staat gegenüber skeptisch, zumal die Gegenwart eher grau und trist war.
Mit viel Mühe hatte sich meine Familie eine Wohnung in dem Haus, das sie gekauft hatte, erkämpft. Meine Großeltern und ihre zwei Töchter wollten raus aus dem Bauerndorf, in dem sie immer nur die Habenichtse aus dem Sudetenland gewesen waren. Ich war zwei Jahre alt, als wir in das Haus im Grünen Weg zogen. Und ich verdankte mein Leben der Tatsache, dass es noch keine Abtreibungen gab. Meine 22-jährige Mutter war auf den Charme eines Mannes hereingefallen, der sich dann als verheiratet und Vater eines Kindes entpuppte.
Hauseigentümer ohne Rechte
Als mein Großvater starb, musste wieder ein Mann ins Haus. Meiner Tante wurde ein ehrlicher, fleißiger Junggeselle von einer Verwandten empfohlen. Der hatte einen Freund, und so wurden zwei Jahre nach dem Tod meines Großvaters die zwei Schwestern verheiratet. Danach wohnten wir zu sechst in zwei Zimmern, einer Kammer und einer Wohnküche, mit Plumpsklo auf dem Hof. Immerhin war schon ein Wasserhahn im Gemeinschaftsflur.
Meine Familie wollte die Wohnung gegenüber dazu haben, damit die Paare jeweils eine eigene Wohnung hätten. Es handelte sich dabei um eine Küche und anderthalb Zimmer, auch nicht gerade luxuriös, aber ausreichend für ein junges Paar. Meine Cousine wurde erst drei Jahre später geboren. In der begehrten Wohnung lebten Kommunisten. Das würde das Wohnungsamt nie mitmachen. Denn das Wohnungsamt bestimmte, wer in welcher Wohnung leben durfte, Hauseigentümer hatten null Rechte.
Ich habe mich immer weggewünscht aus einem Staat, der mich einsperrte, der von mir verlangte, sinnlose Gesetze nachzubeten, der kontrollieren wollte, was in meinem Kopf vor sich ging. Deshalb fallen mir diese Erinnerungen nicht leicht, aber sie sind in mir und drängen heraus. Mal sehen, was ich mit ihnen anstelle.
Am liebsten wäre es mir, wenn ich über sie lachen könnte, jetzt, nach 30 bis 50 Jahren Abstand. Und: „Es war nicht alles schlecht.“
Wenn ich diesen Satz höre, könnte ich kotzen. Natürlich war nicht alles schlecht, das würden nicht einmal die Sklaven im alten Rom behaupten.
Im Geschichtsfälschungsunterricht
Lola. Sie war unsere Klassenlehrerin ab der Elften. Wir hatten ein wenig Bange vor der alten Dame, sie war sehr streng, vor allem in der Zensierung. Sie konnte nach einem miesen Schülervortrag lächelnd sagen: „Ma chère, das war eine Fünf“, damals die schlechteste aller Zensuren. Als Klassenlehrerin war sie aber fast mütterlich, in einer sehr ladyliken Form. Wie sie überhaupt Geschichte unterrichten konnte – Geschichtsunterricht in der DDR war Geschichtsfälschungsunterricht. Lola versuchte, uns wahrhaftig zu unterrichten.
„Mes amis, Ihnen fehlt jegliche humanistische Bildung.“ Wir wussten, dass sie uns keine Schuld daran gab, aber hätte sie uns das konkret zu verstehen gegeben, wäre sie von der EOS geflogen, wie das Gymnasium damals hieß, das von Klasse 9 bis 12, später nur 11 bis 12 reichte.
Einer der Lehrer begrüßte seine Schüler zum täglich geforderten Politgespräch mit der Frage: „Habt ihr alle die Tagesschau gesehen?“ Er flog von der Schule. In der DDR hieß die Sendung „Aktuelle Kamera“. Der Sozialismus war humorlos.
Österreich war so unerreichbar wie der Mond
Jedes Schuljahr begann mit stundenlangem „Rotlicht“, wie wir es nannten. Dann wurden die Erfolge des Arbeiter- und Bauernstaates heruntergebetet und die glorreichen neuen Aufgaben des Fünfjahresplans, die die ökonomischen und kulturellen Bedürfnisse unseres Volkes immer besser befriedigen sollten.
Aber Fräulein Langner, so hieß Lola mit bürgerlichem Namen – und dass sie sich mit fast sechzig noch immer Fräulein nennen ließ, sagt viel über sie aus – sagte nur einen Satz: „Guten Tag meine Lieben, ich begrüße Sie in der Erweiterten Oberschule, zu der sie seit 1.9.1977 juristisch gehören. Nehmen sie einen Stift, ich diktiere Ihnen jetzt den Stundenplan.“ Wir waren total geschockt, der Stundenplan kam immer ganz am Ende des Agitationsgesülzes, also kurz vor Schulschluss.
Und dann begann ihr Deutschunterricht.
Lola hatte noch in Österreich Germanistik studiert. Österreich war für uns so unerreichbar wie der Mond. Sie wusste zu berichten, dass Frauen im 3. Reich scharenweise in Hitler verknallt waren. Das hatte uns noch niemand erzählt. Dabei hatten wir den Nationalsozialismus bis zur Selbstauflösung durchgehechelt. Waren ja alle ganz böse oder verblendet, nur die Kommunisten waren gut und klug.
Lolas humanistische Bildung
Durch Lola begriffen wir erst, dass die Menschen dieser Zeit nicht so einfach in Faschisten und Antifaschisten einzuteilen waren, sondern dass es echte Menschen waren mit all ihren Facetten. Natürlich hatten wir das in unseren Familien erfahren, einige jedenfalls, aber in der Schule wagte kein Lehrer so darüber zu sprechen. Lola hatte den Nationalsozialismus selbst erlebt und im Krieg ihren Verlobten verloren. Das hat uns eine gehörige Portion Respekt abgenötigt, in einem Alter, in dem wir naturgemäß die Alten eher kritisch sahen.
Sie sorgte dafür, dass wir doch ein wenig von der humanistischen Bildung abbekamen: Werke des realistischen Sozialismus, wie „Neuland unterm Pflug“ von Michail Scholochow nahm sie in kürzester Zeit durch. Sie verteilte Leseaufträge zu den Figuren und ließ uns unser Wissen in nur einer einzigen Schulstunde vorstellen. Danach war das Thema abgehakt, der Lehrplan erfüllt. Shakespeares Hamlet aber bearbeiteten wir gefühlt ein halbes Jahr lang, und zu „Sein oder Nichtsein“ ließ sie einen Aufsatz schreiben. Ob das im Lehrplan vorgesehen war?
Opium für das Volk
Wir waren zwei Schülerinnen in der Klasse, die sich im Aufsatzschreiben hervortaten, Marika und ich. Marika hatte eine Parteimutter, die auch uns zuquatschte, und sie glaubte an den Fortschritt des Sozialismus. Wir bekamen einen Aufsatz zu „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz zurück, Marika hatte eine Fünf. Hohoho! Was war da passiert? Sonst brillierte sie doch immer! Sie hatte geschrieben, dass nur die Kommunisten im KZ menschlich geblieben waren und Widerstand leisteten. Lola wurde richtig wütend: „Christen, Familienväter und viele andere Humanisten setzten sich heldenhaft für Mitgefangene ein. Inhalt verfehlt. Deshalb bekommen Sie eine Fünf.“ Marika weinte.
Dass Lola das Wort Christen in einem positiven Zusammenhang erwähnte, war allein schon mutig gewesen. Religion ist Opium für das Volk, beteten wir Lenins Weltsicht nach. Meine beste Freundin Gabi und ich lebten in christlichen Familien, sie evangelisch, ich katholisch. Wir besuchten beide sowohl die evangelische, als auch die katholische Jugendgruppe und wurden geprägt von Pastor und Pfarrer. Das war eine wohltuende menschliche Begegnung und das Gegenteil von der verkrampften Heuchelei, die wir vor ebenfalls heuchelnden Lehrern inszenierten.
Die Anspannung wegtrinken
Vielleicht gab es ein oder zwei Lehrer, die an die glorreiche, gerechte und glückliche Zukunft im Kommunismus glaubten, aber nicht einmal unser Stasi-Lehrer (Lehrer für Staatsbürgerkunde) lebte angstfrei. Als er uns kurz vor den Weihnachtsferien einmal grinsend verriet, dass er sehr wohl auch die Weihnachtsgeschichte kannte, baten wir ihn scheinheilig:
„Oh, Herr Dude, erzählen Sie mal!“„Ihr glaubt wohl ich bin so dumm und erzähle vor der zwölften Klasse die Weihnachtsgeschichte!“ rief er erbost.
Es wäre eine seiner letzten Schulstunden gewesen. Konnte er denn wirklich glauben, dass ein System, das ihm den Mund verbot, etwas Gutes sein konnte? Vielleicht war er deshalb immer als Erster auf Schulfesten betrunken gewesen, diese Anspannung, uns den Marxismus/Leninismus verklären zu müssen und im Schulalltag ja kein falsches Wort zu sagen, musste mal weggetrunken werden. Es hätte immer so jemand wie Marika der Partei zugetragen. Lehrer mussten eine tadellos rote Weste tragen, da gab es kein Orange und kein Rosa, Blutrot, wie die Arbeiterfahne, war Bedingung in dem Job.
Alles eine Frage der Macht?
Um zu begreifen, wie Marika tickte, eine kurze Episode: Wir waren im Sportunterricht mit Leichtathletik beschäftigt. Am Rande des Sportplatzes sahen uns russische Soldaten, immer hungrig nach Frauen, interessiert zu. Meine Freundin Gabi machte mich darauf aufmerksam: „Guck mal, wie die Russen glotzen!“ Sofort schritt Marika ein: „Birgitt und Gabi, ich finde es nicht gut, dass wir im Unterricht von Freunden und Brüdern reden und hier draußen gebraucht ihr ein Schimpfwort.“ Wir gaben ihr Recht und verdrehten heimlich die Augen. Damals galt Russen als Schimpfwort, Sowjetbürger war die gewünschte Bezeichnung.
Gabi wurde zufällig Zeugin eines Gesprächs zwischen Lola und Marika:
„Fräulein Langner, wissen Sie, dass Birgitt Koch jeden Sonntag in die Kirche geht?“
„Ich schätze es, wenn junge Menschen überhaupt noch eine Überzeugung haben. Aber Birgitt wird eines Tages erkennen, dass auch in der Kirche alles nur eine Frage der Macht ist.“
Damals dachte ich, dass musste Lola so formulieren, damit sie ihren Job behalten konnte. Marika mit ihrer Parteimutter konnte leicht zum Judas werden. Heute, vierzig Jahre später, muss ich oft an meine Lehrerin denken: Kindesmissbrauch, Sexskandale in Rom, Bischof mit goldenem Klo.
Marsch der ‚Gehirnamputierten‘
Es gab Situationen, da musste man einfach nur lachen, so peinlich und unwirklich waren die. Zum 1. Mai mussten wir natürlich an den Demonstrationen teilnehmen. Auch meine Mutter musste marschieren. Als Kindergärtnerin gehörte sie zur Volksbildung und war verpflichtet, z.B. am monatlichen Parteilehrjahr teilzunehmen, obwohl sie gar nicht in der SED war. Das war einfach eine Agitationsveranstaltung, Rotlicht. Wir marschierten in Uniformen, die Jungen in GST – Klamotten. GST war die Gesellschaft für Sport und Technik, eine paramilitärische Organisation für Jungen. Wir Mädchen trugen DRK Uniform.
Als die Demonstration zu Ende war, nötigte uns Schrotti, er war FDJ-Sekretär und hieß eigentlich Messing, noch eine Extrarunde zu marschieren, nämlich genau an der Transitstrecke entlang. Die Axe BRD-Westberlin führte durch Ludwigslust. Die F6 wurde gesperrt, Mercedes und Volkswagen mussten warten und wir marschierten vorbei. Schrotti lief manisch an unserem Block auf und ab und brüllte Parolen: „Eins zwei drei – wir sind für die Partei!“ und „Frieden, Freundschaft, Solidarität!“ Wir mussten nachbrüllen. Die Blicke der Westdeutschen werde ich nie vergessen, es war einfach nur peinlich, sie müssen uns für Gehirnamputierte gehalten haben.
Übrigens, mein Vater, der Arbeiter war, brauchte nicht zur Demo im Arbeiter- und Bauernstaat. Niemand konnte ihn zwingen, er hatte keine Karriere zu verlieren. Aber wenn er teilnahm, gab es eine Prämie in Form von Geld. Er nahm trotzdem nie daran teil, sondern werkelte an diesem freien Tag zusammen mit meinem Onkel am Haus. Die zwei hatten keine Zeit zu verschwenden.
Die Macht der Großmütter
Kurz vor dem Abitur mussten wir alle einen Fragebogen ausfüllen, er war die Zuarbeit zu Lolas Beurteilung, von der maßgeblich unsere Studienzulassung abhing. Darin sollten wir auch angeben, ob wir katholisch oder evangelisch wären. Große Aufregung bei den Mitschülern: Wir sind zwar getauft, aber gehen nicht mehr zur Kirche. Lola empfahl: „Schreiben Sie: evangelisch getauft, aber konfessionell nicht gebunden.“
Erinnerungen an eine ähnliche Situation schossen in mir hoch: In der sechsten Klasse der POS (Polytechnischen Oberschule, entspricht heute etwa der Regionalschule) höhnte mal unser Mathelehrer: „Na, wer geht denn von euch noch in die Kirche? Das ist doch nur was für Omas.“ Betretenes Schweigen. Er war berüchtigt dafür, Schüler mit Wollust vorzuführen. Ich erinnerte mich an die Worte Jesu: „Wer mich auf Erden kennt, den werde ich vor meinem himmlischen Vater erkennen. Wer mich aber verleugnet…“ Die ewige Verdammnis erschien mir schlimmer als ein paar Minuten Hohn vom Lehrer. Ich blickte zu meiner katholischen Mitschülerin, wir waren nur zwei Katholen in der Klasse, Mecklenburg ist traditionell protestantisch, und wir hoben beide zögernd die Hand. Dann geschah das eigentliche Wunder: Fast alle Hände der Mitschüler gingen hoch, nach und nach. Und unser Klassenclown setzte noch einen drauf, indem er versicherte, an jedem Sonntag mit seiner Oma zur Messe zu gehen. Der Mathelehrer verstummte. Wahrscheinlich sah er sich im Geiste von zwanzig Großmüttern gejagt.
Ein fester Standpunkt
Aber so kurz vor dem Abitur galt es das Beste herauszuholen, um einen Studienplatz zu ergattern. Voraussetzung dafür war ein klarer Klassenstandpunkt, das Bekenntnis zum Sozialismus. Gabi und ich ließen den Nebensatz mit dem konfessionell ungebunden weg, da stand nur katholisch, bzw. evangelisch. Das wars mit dem Studieren, dachten wir. Atheismus war ungeschriebene Voraussetzung, außer bei zwei Pastorenkindern, die trotz Nichtteilnahme an der Jugendweihe Abitur machen durften. Sie hatten eine Alibifunktion, um Glaubensfreiheit in der DDR vorzutäuschen. Wir mussten übrigens auch zur Jugendweihe gehen, unsere Eltern fürchteten die Repressalien, wollten nicht, dass wir uns die Zukunft verbauten. Als ich mein Zeugnis mit der Beurteilung später in Händen hielt, begriff ich einmal mehr, wie uns Lola zu bilden und zu schützen versuchte. Der erste Satz lautete: „Birgitt hat einen festen Standpunkt.“ – Kein Wort darüber, welchen.
Nach dem Abi fuhren Gabi und ich nach Prag. Unser schönstes Ferienerlebnis:
Plötzlich ist da dieses Haus, auf dem weht die amerikanische Flagge! Die amerikanische Flagge! Wir umkreisen es, wieder und wieder, in kleineren und größeren Bögen, um nicht aufzufallen. Wir können uns nicht sattsehen.
Marita Benl schreibt
Liebe Birgitt!
Ich sehe ähnliche Parallelen zu meinem Lebenslauf, bin ich ein bisschen älter und habe auch in der DDR gelebt.
Mein Abitur habe ich an der Abendschule nach gemacht, weil ich als Christin keinen Abiturplatz bekam. Auch meinen ursprünglichen Traumberuf, den einer Kindergärtnerin, konnte ich damals nicht ergreifen, da ich mutig damals bei einem Bewerbungsgespräch meine Konfessionszugehörigkeit darstellte. Die gute Frau, die über die Zulassungen der Studienplätze an der Kindergärtnerinnenschule befand, war früher selbst katholisch und hatte sich entsprechend des gesellschaftlichen Wandels sehr angepasst und wurde 200%ige Genossin. Sie hat mich damals sehr hämisch beschimpft…
Ähnlich erging es meinem Bruder, der von seiner Klassenlehrerin in der Unterstufe aufgefordert wurde (sie wusste, dass wir zur Kirche gingen), sich in der Klasse niederzuknieen und zu beten… Vielen Christen erging es in der damaligen DDR so, ich habe schließlich auf Umwegen mein Abitur gemacht und mein Studium an der Humboldt Universität absolviert, in den Facharbeiten musste immer ein „sozialistisches Schwänzchen“ in Bezug auf irgendeinen Parteitag /oder irgend ein politisches Zitat vorhanden sein.
Die Stories über die Manifestationen anläßlich des 1. Mai und und Republik Geburtstages (7.10.) kenne ich auch. Man sah zu, dass man sich blicken ließ und verduftete dann schnell…
Zu DDR Zeiten bekam ich keine eigene Wohnung, da ich alleinstehend war. Es gab große Schiebereien auf dem Wohnungsmarkt und wer nicht gesellschaftlich integer war, der konnte lange warten. Bei der letzten Volkskammerwahl habe ich mich geweigert, meine Stimme abzugeben und musste zur Bürgermeisterin von Ludwigslust antreten (gemäß dem Motto, „wenn ich kein Wohnrecht habe, gehe ich auch nicht zur Wahl“). Deine Tante hat mir damals die Eingabe geschrieben und ich bekam von Egon Krenz damals die Nachricht, dass ich in 4 Jahren nochmals einen Antrag stellen konnte (ich hatte damals ein Zimmer im Stift Bethlehem und arbeitete aber anderweitig in einer Kinderkrippe und dieser Zustand war der Stiftsverwaltung nicht genehm, dass ich dort noch immer wohnte.
Dann kam die Wende, ich bekam endlich eine eigene kleine Wohnung, war stolz (mit fast Mitte 30) wie ein Spanier, verlor aber meine Arbeit als Krippenerzieherin, für mich ein Schock, da ich arbeiten wollte. (Die DDR Krippenvereinigung löste sich auf, die Genossinnen haben sich schon vorher ihre Pöstchen gesichert, der persönliche Sprecher des damaligen Bürgermeisters, selbst katholisch, gab mir keinen Arbeitsvertrag, da ich als alleinstehende Person nicht zum Sozialplan passte.) Für mich eine schwierige Situation, nun eine kleine Wohnung zu haben, aber Wohngeld zu beantragen und arbeitslos zu sein. Ich habe über ein Jahr um eine ABM Stelle an der G Schule in Ludwigslust gekämpft. War immer wieder beim Schulrat vorstellig (mit Hoch und Fachschulabschluß) … Wurde dann eingestellt, nach einem Jahr (da war ABM Stop) wieder arbeitslos. Daraufhin habe ich Beschwerde beim Arbeitsamt eingelegt, die ABM lief dann weiter an, eine andere Erzieherin, die arbeitslos war, bekam die Stelle und ich wurde fest angestellt. Wir haben beide zusammen in einer Klasse gearbeitet und wir waren ein tolles Team. Bedingt durch meine Eheschließung habe ich dann schweren Herzens meine Zelte in Mecklenburg abgebrochen…
Mit meinen Ausführungen möchte ich auch Deine Erlebnisse bekräftigen, aber auch zufügen, dass es leider auch viele Brüche in der Biografie manch ehemaliger DDR Bürger gab, die trotz guter Ausbildung und auch rechtschaffend, arbeitslos wurden und sich mit kleineren Renten, falls sie ihren Platz nicht in der sozialen Marktwirtschaft bekommen haben, heute begnügen müssen. Dazu gehört meine Mutter, die mit 57 Jahren als sehr engagierte Kinderkrankenschwester in den Vorruhestand geschickt wurde. Nun klagt man heute im Gesundheitswesen über Personalmangel… und auch Erzieher fehlen … Eine Cousine von mir hat mit ihrer Familie (Mann und Kleinkind) Republikflucht begangen,sie wurden denunziert und eingesperrt, der kleine Sohn kam in ein Heim und dank des Kampfes der Großeltern durfte er bei ihnen leben, bis er dann kurz vor seiner Einschulung bei den Eltern (die damals freigekauft wurden) in Westdeutschland leben durfte. Kürzlich fiel mir der Lebenslauf des Vaters meiner eben erwähnten Cousine in die Hände, der als Christ in den 50iger Jahren eine Dorfschule leitete, aber von den staatlichen Organen so schikaniert wurde,dass er den Direktorposten aufgab und als Lehrer an der Erweiterten Oberschule tätig war. Er war sehr beliebt bei den Schülern. Mein Onkel studierte dann Logopädie in Berlin und hatte seine Praxis bis zu seiner Erkrankung inne.
Birgitt Flögel schreibt
Liebe Marita,
danke für Deinen ausführlichen Bericht. Es kommen immer wieder Erinnerungen hoch, die uns bitter machen können. Es gab so viele Mechanismen der Unterdrückung, so mancher wurde gebrochen. Habe gerade mit Freunden das Dokumentationszentrum in Schwerin (ehemaliger Stasi-Knast) besucht. Dort begreift man erst, in welcher Gefahr wir alle gelebt haben. Die DDR war eindeutig ein Unrechtsstaat. Alles Gute für Dich und herzliche Grüße Birgitt Flögel
Irm schreibt
„Wenn einer wissen will, wie es denn wirklich gewesen ist in der späten DDR, sollte man ihm rasch und entschlossen den Roman von Uwe Tellmann „Der Turm“ in die Hand drücken oder „Es war nicht alles schlecht“ von Birgitt Flögel.“ Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, ergänzt von Irm.
Liebe Frau Flögel, mit Ihrem trockenen Humor haben Sie den tristen DDR Alltag prima überstanden. Hat mir sehr gut gefallen!
Irm
Birgitt Flögel schreibt
Vielen Dank für Ihren Kommentar und herzliche Grüße aus Mecklenburg.
Birgitt Flögel