Menschen sprechen häufig mit Tieren. Wir empfinden es als selbstverständlich, dass Hund, Katze oder Pferd darauf reagieren. Wenn aber ein Tier spricht, erschrickt man. So ging es mir, als ich eines Tages lesend auf einer Bank im Park saß. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass eine Krähe auf dem Kiesweg näher stakste und mich beäugte. Ich sagte: „Na? Etwas nicht in Ordnung?“
„Ihr Beinkleid“, sagte die Krähe. Ich zuckte zusammen. Das Buch fiel mir herunter. Ich hob es wieder auf und sah mich um. Es war kein Mensch in der Nähe.
„Was meinst du?“, fragte ich.
„Sie haben vergessen, Ihr Beinkleid zu schließen“.
Tatsächlich! Hastig zog ich den Reißverschluss zu.
„Wieso sagst du Beinkleid statt Hose?“
„Ich schätze das Althergebrachte.“
„Du sprichst. Was bist du denn für eine Krähe?“
„Ich bin ein Rabe!“
„Verzeihung! Hast du auch einen Namen?“
„Jaromir “, stellte der Vogel sich vor und deutete eine Verbeugung sowie einen Kratzfuß an.
„Horst Huelsbeck, angenehm“, sagte ich.
„Da wir gerade dabei sind“, sagte der Rabe, „es geht nicht an, dass Sie mich duzen, sintemal wir nie zusammen Schweine gehütet haben.“
„Verzeihung!“, sagte ich schon wieder.
Der Rabe schwieg, bis die drei vorbei waren
Ein Paar mittleren Alters mit einem Labrador näherte sich. Geistesgegenwärtig zückte ich mein Brillenetui und tat als spräche ich in ein Mobiltelefon. Der Rabe schwieg, bis die drei vorbei waren. Er hüpfte in respektvollem Abstand vor dem schnüffelnden Hund beiseite und behielt ihn misstrauisch im Auge. Dann kam er wieder näher und krächzte: „Herr Huelsbeck, hier sind wir nicht ungestört. Ich würde Sie gern zu mir einladen, aber meine Behausung ist für Sie schwer erreichbar. Vielleicht darf ich Ihnen einmal meine Aufwartung machen?“
„Ja, gern“, sagte ich. „La Fontaine Straße 10. Morgen um 17 Uhr?“
„Ergebensten Dank, Herr Huelsbeck“, sagte der Rabe. „Gehaben Sie sich wohl bis dahin!“
„Auf Wiedersehen, …Jaromir!“, rief ich ihm nach, als er sich mit kräftigen Flügelschlägen aufschwang und davon flog.
Ich blätterte noch etwas in meinem Buch, einer Abhandlung über kasachische Kunst im 17. Jh., aber mir fehlte die nötige Konzentration.
Wir begrüßten uns wie alte Bekannte
Obwohl ich anderntags dachte, ich sei wohl auf der Bank eingenickt und hätte geträumt, deckte ich rechtzeitig den Tisch auf meiner Dachterrasse. Es war bewölkt, windstill, eher kühl. Ich legte eine leichte Wolldecke über meine Knie. Für meinen Gast hatte ich Wasser, Kräutertee, Kekse und Früchte bereit gestellt. Er erschien pünktlich und nahm auf der Lehne des zweiten Korbstuhls Platz.
Wir begrüßten uns wie alte Bekannte, und Jaromir nahm sehr zierlich mit seinem kräftigen, schwarzen Schnabel einige Trauben, je einen Schluck Tee und Wasser. Dann fragte ich ihn: „Warum haben Sie gerade zu mir Kontakt aufgenommen?“
„Sie haben mich angesprochen“, erinnerte der Vogel mich. „Es ist allgemein bekannt, dass Raben sprechen können. Aber ich persönlich dränge mich niemandem auf. Es kommt selten vor, dass ein Mensch unsereinen etwas fragt.“
„Leben Sie schon länger in dieser Gegend?“, setzte ich das Gespräch fort.
„Erst seit einem Jahr. Und Sie?“
Er hatte die Welt in alle vier Windrichtungen erkundet
So kam es, dass wir einander einen Abriss unserer Lebensstationen gaben. Jaromir, der wie ich im besten Mannesalter stand, war in seiner Jugend ein rechter Springinsfeld gewesen und hatte die Welt in alle vier Windrichtungen erkundet. Nun fand er es in der hiesigen Gegend recht angenehm. „Allmählich schätze ich das Gemäßigte“, sagte er, worin ich ihm nur zustimmen konnte. Ich vertraute meinem neuen Bekannten an, dass ich ein zurückgezogen lebender, weithin unterschätzter Privatgelehrter bin, der sich mit der Geschichte und Kultur ausgewählter kleiner Steppenvölker befasst.
So gab ein Wort das andere, bis es dunkel wurde und Jaromir sich verabschiedete. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen zum Frühstück.
Es nieselte leicht, doch unter meiner Markise war es für uns beide angenehm. Jaromir erzählte Reise-Anekdoten, ich hielt ein kleines Referat über Webtechniken der Uiguren, und der Rabe verspeiste ein Nusshörnchen und Apfelstücke.
Wir beschlossen, uns zu duzen
Ich lud ihn nun regelmäßig zu mir ein, und er kam gerne. Jaromir machte sich Gedanken, dass er sich nicht angemessen für meine Gastfreundschaft revanchieren könne, aber ich sagte ihm, das sei nicht nötig. Ich hätte so viel Freude an unseren Gesprächen, dass er keineswegs in meiner Schuld stehe. Bald beschlossen wir, uns zu duzen. Wenn er nachmittags vorbei kam, nahm ich zum Tee gern einen Cognac, während Jaromir Kirschwasser schätzte.
Inzwischen ist ein Jahr vergangen. Jaromir, der Rabe, besucht mich nicht mehr. Unsere Beziehung veränderte sich an dem Tag, als ich Jaromir mit einem Leckerbissen überraschte. Ich bereitete mir ein Tartar zu und hatte die Idee, dass Jaromir gerne davon kosten würde. Also stellte ich einen Teil beiseite, bevor ich den Rest würzte, wie ich es gern mag: mit Zwiebeln, einem Eigelb, Pfeffer, Salz, Paprika und ein paar Kapern. Ich trug die beiden Teller hinaus, und Jaromir ließ nicht lange auf sich warten. Der Rabe hatte seinen Anteil schon verputzt, als ich kaum anfing zu essen. Er schaute auf meine Portion und sagte: „Wir haben etwas gemeinsam, Horst, wir sind Aasfresser.“ Ich sagte nichts, war jedoch verstimmt.
Dann kam die Sache mit der Taube
Dann die Sache mit der Taube. Wir waren uns einig in der Verachtung dieser Spezies. Bevor Jaromir sich mit mir anfreundete, flogen diese Vögel ab und zu auf meine Terrasse. Ja, sie besaßen sogar die Frechheit, aufdringlich zu gurren, zu balzen und schamlos zu kopulieren. Die Anwesenheit des Raben hielt sie mir vom Hals. Ich erwähnte im Gespräch, dass ich Tauben dumm und schmutzig fand. Jaromir knurrte etwas Unverständliches.
Dann kam eines Tages diese junge, hellgefiederte Taube und landete tollpatschig neben dem Tisch auf meinen sandfarbenen Fliesen. Jaromir stürzte sich auf sie, hielt sie mit den Krallen fest und hackte mit dem Schnabel in ihren Hals. Weiße Federn flogen, schwarze Schwingen waren über der Beute ausgespannt. Blut floss. Das arme Ding zuckte noch, als der Rabe ihm die Augen auspickte und sie verschlang. Ich sprang auf und stieß einen Schrei aus. Der Rabe wandte sich zu mir.
„Was ficht dich an? Ich dachte, du hasst sie? Für mich ist das eine Mahlzeit. Ich gebe dir gern etwas ab.“
„Ich möchte dich hier nie wieder sehen!“, rief ich und ging drohend auf ihn zu.
„Du bist ein komischer Vogel, Horst.“ Ohne Eile flog er mit der Taube in den Krallen von dannen. Sein Krächzen klang wie Gelächter.
Was sagen Sie dazu?