Barbara Osterwald ist Jahrgang 37, also eigentlich schon eine ganze Weile im Ruhestandsalter. Trotzdem arbeitet sie weiter, Tag für Tag, unermüdlich. Daneben ist sie sechs Wochenenden im Jahr unterwegs, um europaweit an Kongressen teilzunehmen, Fortbildungen und Workshops zu veranstalten oder Vorträge zu halten.
Die Tätigkeit, der sie nachgeht, nennt sich „Arbeit am Tonfeld“, ein geschützter Begriff, unter dem ich mir zunächst nichts vorstellen konnte. Eine Freundin, Künstlerin und Kunsttherapeutin an einer psychosomatischen Klinik, hatte mir davon erzählt. Sie hatte nach einer Fortbildung bei Barbara Osterwald eine Prüfung abgelegt, und sie schwärmte so sehr von der alten Dame als Person und von der Arbeit am Tonfeld, dass ich neugierig wurde.
Frau Osterwald war dann auch sofort einverstanden, als ich sie fragte, ob ich sie zu einem ersten Gespräch aufsuchen dürfe.
Es war nicht einfach, bei der viel beschäftigten alten Dame einen Termin zu bekommen, aber im Dezember letzten Jahres war es dann schließlich soweit.
Frau Osterwald empfängt mich in dem hellen, freundlichen, mit liebevollen Details ausgestatteten Therapieraum, in dem sie ihrer „Leidenschaft“, wie sie es nennt, nachgeht. Sie ist eine überaus vitale, energische Frau, die für ihre Arbeit brennt. Auf meine Frage, ob ihr dieses rastlose Engagement und die vielen Reisen nicht zu anstrengend sind, antwortet sie:
„Ich mache diese Arbeit seit 35 Jahren. Sie ist für mich ungeheuer wichtig. Wenn Sie eine solche Kraft und Motivation in sich spüren, dann schaffen Sie das auch. Ich würde mir selber was nehmen, wenn ich damit aufhören würde.“
Die Faszination von menschlichem Verhalten
Und wie ist sie zu dieser ungewöhnlichen Tätigkeit gekommen, von der allgemein so wenig bekannt ist? Eigentlich sollte ihr Berufsleben eine ganz andere Richtung nehmen, wie sie erzählt:
„Die ersten Jahre meiner Kindheit bin ich in Stendal in der Altmark aufgewachsen. Als ich etwa 10 Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir in den Westen geflohen. Den zweiten Teil meiner Jugend habe ich dann in Goslar verbracht.“
Auf Wunsch der Eltern studierte sie Englisch und Französisch und unterrichtete 15 Jahre lang am Münchner Sophie-Scholl Gymnasium. Doch ihre eigentlichen Interessen lagen woanders: „Schon als Heranwachsende war ich fasziniert von dem, was Menschen erleben und erfahren, was sie von sich zeigen, wie sie sich ausdrücken und wie sie sich verhalten.“
So machte sie nebenbei Fortbildungen in Tiefenpsychologie am Alfred Adler Institut in München. Und während der Schulferien fuhr sie in das kleine Dorf Rütte im Schwarzwald, wo sich in den 70er Jahren um den deutschen Zen-Meister Karlfried Graf Dürckheim ›› ein Kreis an ganzheitlicher Psychologie Interessierter angesiedelt hatte.
Dort lebte auch ein gewisser Heinz Deuser ››. Wie viele andere experimentierte er mit verschiedenen Methoden, wie man Menschen in schwierigen Situationen therapeutisch helfen kann, Lösungen zu finden. Dabei entwickelte er die Idee des Tonfelds, einer Art Kunsttherapie mit Hilfe von formbarer Tonerde. „Ich war von Deusers Idee fasziniert. Nachdem ich aus gesundheitlichen Gründen den Schuldienst quittieren musste, habe ich mich intensiv damit beschäftigt. Und ich habe die Entwicklung des Tonfelds von den Anfängen an mitgemacht, bis heute, wo es nach einem 50-jährigen Prozess erwachsen geworden ist“.
Die Hände sind unser Handwerkszeug, damit gestalten wir, wir „handeln“ auf der Basis unseres Ichs
Was genau aber ist die Arbeit am Tonfeld?
Barbara Osterwald führt mich zu einem Tisch. Ein rechteckiger Holzrahmen ist mit einem Tuch abgedeckt. Sie nimmt das Tuch ab, das den feuchten Ton in der Form vor dem Austrocknen schützen soll:
„Der Rahmen hat eine besondere Bedeutung. Er bietet ein Gefühl des Gehaltenseins, so wie ein Mensch am Anfang seines Lebens von der Mutter gehalten wird. Es geht hier um Beziehungsarbeit. Wenn Hände berühren, gehen sie in Beziehung, in die die alte Erfahrung einfließt, die ich als Kind mit meinen Bezugspersonen gemacht habe.“
Der Rahmen ist mit Ton gefüllt. Die Tonerde ist etwas Konkretes, ein plastisches Material, das man formen kann. Die Hände „begreifen“ das Geformte, es bleibt stehen, ist stark, stabil, steht gerade – oder auch nicht. Das Tonfeld zeigt, dass etwas real so war. Es macht Aussagen über Empfindungen und Beziehungsaspekte.
„Der eine empfindet das Material als weich und entgegenkommend, und er wird sich bei der Arbeit damit frei entfalten. Für den anderen ist es kalt und abweisend. Er reagiert dann sehr zurückgenommen. Er fühlt, er muss vorsichtig sein. Man sieht das sofort an der Bewegung der Hände. So wird schon in der ersten Berührung des Tons die Elternbeziehung offenbar. Die Hände sind unser Handwerkszeug, damit gestalten wir, wir „handeln“ auf der Basis unseres Ichs.“
Das erinnert mich an die Aussage der Graphologin Renate Joos, die bei unserem Gespräch › zum Thema Handschrift sagte, dass die Handschrift eines Menschen eine „gefrorene Bewegung“ sei und Rückschlüsse auf das Wesen und die Befindlichkeit des Schreibers zulasse.
Traumatisierte und verhaltensgestörte Kinder sprechen besonders gut an
Ich frage Barbara Osterwald, ob es eine Altersgruppe gibt, für die sich diese Art der Therapie besonders eignet?
„Das Alter spielt keine Rolle für die Arbeit am Tonfeld. Meine älteste Klientin war 90. Erwachsene kommen, um Probleme mit dem Beruf, der Beziehung, der Gesundheit in allen Spielarten aufzuarbeiten. Besonders wirkungsvoll aber ist diese Art der Therapie bei verhaltensgestörten oder auch traumatisierten Kindern und Jugendlichen.“
Sie hat deshalb im Jahr 2007 die gemeinnützige Barbos-Stiftung ›› gegründet, die für „psychisch gestörte, sich verweigernde oder seelisch desorientierte Kinder oder Jugendliche“ die Kosten für kreativ-therapeutische Einzelstunden übernimmt, damit sie sich „besser in die Gemeinschaft eingliedern und selbst ein unbeschwerteres Leben führen können.“
Für diese Stiftung ist sie 2013 für den Deutschen Engagementpreis nominiert worden und hat 2017 den Ellen Amman Preis erhalten.
Die haptische Erfahrung ist unmittelbar, emotional, körperlich
Frau Osterwald selbst arbeitet bevorzugt mit Erwachsenen. Für einen zweiten Termin, bei dem wir auch Fotos machen dürfen, hat sie eine Klientin und Fortbildungsabsolventin eingeladen. Sylvia S. ist einverstanden, dass wir eine Sitzung beobachten und dokumentieren dürfen.
Sie setzt sich vor das Tonfeld und schließt die Augen. Barbara Osterwald erläutert:
„Erwachsene arbeiten mit geschlossenen Augen, um sich ganz auf den Dialog der Hände mit der Erde einzulassen. Durch das sinnliche Erleben werden tiefe emotionale Strukturen angesprochen. Bei Erwachsenen erleichtern die geschlossenen Augen die sensorische Empfindung. Kinder haben noch einen direkteren Zugang zu den frühen Emotionen, sie arbeiten deshalb mit geöffneten Augen.“
Meine Frage, ob der Klient theoretisch auf das Geschehen vorbereitet wird, verneint sie:
„Er wird einfach ans Tonfeld gesetzt. Der Kopf ist dabei sofort ausgeschaltet. Alles geht über die haptische Erfahrung. Sie ist unmittelbar, emotional, körperlich. Oft kann der Klient diese Erfahrung zunächst gar nicht benennen, er kommt vielleicht erst später darauf und erkennt: ach, das war es!
Mancher spürt auch das Bedürfnis, den Kasten erst mal leer zu räumen und dann neu zu befüllen und so in die alte Biographie hinein zu kommen. Diese eigene Aktivität erfüllt dann mit großer Befriedigung: „Ich hab es getan! Mir ist das möglich!“
Das sinnliche Erleben spricht tiefe emotionale Strukturen an
Ähnlich ergeht es auch unserer Beispiel-Klientin: Nach einer Weile der Konzentration beginnt sie, mit kräftigen Bewegungen den Ton von der Mitte her aus der Form zu räumen und ihn daneben aufzuhäufen. Für mich entsteht so ein Muster, das mich an ein Gerippe auf Höhe des Brustkorbs erinnert.
Barbara Osterwald sitzt etwas entfernt neben der Klientin und beobachtet sie. Hin und wieder macht sie kleine, ermunternde Bemerkungen.
Sylvia S. antwortet nicht. Sie wirkt ganz auf sich selbst zurückgeworfen, ganz auf ihr Tun konzentriert.
Nach einer Weile legt sie die Unterarme in den fast leeren Rahmen und senkt erschöpft den Kopf. „Ich will jetzt aufhören“, sagt sie. Und Barbara Ostermann gibt ihr zu verstehen, dass das ganz in Ordnung so ist.
Bei unserem ersten Gespräch hatte sie mir erzählt, dass es meist 45 bis 50 Minuten dauert, bis eine Form da ist, die befriedigt, bis „die Hände sagen: jetzt stimmt’s.“
Nach jeder Sitzung gibt es ein Gespräch mit dem „Begleiter“ (der sich aus juristischen Gründen nicht Therapeut nennen darf), wenn der Klient das wünscht. „Ich berichte dann, wie ich das Spiel der Hände zum Feld, zum Rahmen, zum Material wahrgenommen habe.“
Bis der Klient zu der gesuchten Erkenntnis kommt und der Entwicklungsprozess abgeschlossen ist, kann es mehrere Sitzungen brauchen.
Die Arbeit am Tonfeld ist international wenig bekannt
Barbara Osterwalds Kolleg*innen kommen meist aus den Bereichen Kunsttherapie, Gesundheit, oder sie arbeiten als Soziologen. Die Begleiter während der Sitzungen können Lehrer sein, Kindergärtner*innen oder auch Keramiker. Sie alle machen das nebenberuflich, nachdem sie vorher bei ihr eine Ausbildung absolviert haben.
Barbara Osterwald wünscht sich, dass die Arbeit am Tonfeld international bekannter wird. Eine Kollegin hat in Australien ein Buch darüber veröffentlicht, das in der englischsprachigen Welt großen Erfolg hatte. Doch als sie kürzlich auf einem Kunsttherapie-Kongress in Reykjavik war, hatte noch niemand dort vom Tonfeld gehört.
Aufhören? Auf keinen Fall!
Auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen antwortet sie: „Oh, ich hab noch was vor! Ich will die Stiftung weiterführen und meiner Nachfolgerin einen guten Übergang bereiten – es gibt noch viel zu tun.“
Ob sie nicht ans Aufhören denkt?
„Um Gottes Willen, nein! Ich will mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhen. Das wäre überhaupt nicht mein Ding, nein, das könnte ich nicht. Das Tonfeld ist mir so wichtig, es ist meine Lebensaufgabe. Ich bin so dankbar dafür!
Ich war nicht verheiratet und habe keine Kinder. Dadurch sind viele Kräfte frei geblieben und ich habe mich voll für meine Arbeit einsetzen können.
Ich will mein persönliches Leben dem Tonfeld „opfern“ und dabei sehr vergnügt sein! Und ich will mich von altersbedingten Problemen nicht ausbremsen lassen.“
Was für eine beneidenswerte Einstellung! Und sie zeigt wieder einmal, was ich schon bei so vielen anderen Gesprächen erfahren konnte: eine Tätigkeit, die man mit Leidenschaft ausübt, kann auch im hohen Alter noch körperlich und geistig fit und aktiv halten.
[…] die Leitung der dortigen Abteilung für Kunststherapie. Hier lernt sie über eine Kollegin auch die Arbeit am Tonfeld › kennen. Sie macht eine Zusatzausbildung bei der Tonfeld-Therapeutin Barbara Osterwald ›› , und […]