Was mache ich hier eigentlich?, dachte Adalbert nicht zum ersten Mal, seit er sich auf diesen Ischia-Urlaub eingelassen hatte. Es war alles so verwirrend. Ein Mann von 70 Jahren unter südlicher Himmelskuppel – ratlos. Am besten einfach wegtauchen.
Adalbert erhob sich von der Liege, schlüpfte in seine Adiletten, duschte flüchtig, ließ die Badeschlappen akkurat ausgerichtet am Beckenrand stehen und stieg die flachen Stufen in das Thermalbecken hinab. 38° Wassertemperatur bei 22° Lufttemperatur – herrlich! Jeder Quadratzentimeter Haut, der eintauchte, prickelte auf’s Angenehmste. Bis zum Hals drinnen zu sein kam fast einem Orgasmus gleich. Er hätte stöhnen und seufzen mögen vor Wonne. Ganz innen drinnen tat er das auch. Er würde sich künftig zu Hause öfter mal ein Vollbad gönnen, statt der täglichen Dusche, nahm er sich vor. Adalbert machte ein paar Schwimmzüge. Wie leicht und frei er sich fühlte! Er strebte zum hinteren Beckenrand, hängte seine Arme rückwärts rechts und links in die Ablaufrinne ein und ließ Bauch, Becken und Beine schwerelos treiben. Über ihm spendete eine Dattelpalme Schatten; die Morgensonne stand hinter ihm, er konnte ungeblendet über das glitzernde Wasser schauen und die gepflegte Anlage genießen.
Ein fragiles Paradies
Wirklich schön war es hier! Lilien, Rosen und Hibiskus, im Hintergrund weiße Bungalows und die großen Fenster des Restaurants. Ein Gärtner werkelte herum, kontrollierte die Bewässerung und zupfte Unkraut aus den Ritzen zwischen den Steinplatten. Vögel zwitscherten in den Stauden und den Pinien, die der Wind von der Steilküste her spielerisch bewegte. Die dreifarbige Hauskatze setzte graziös eine Samtpfote vor die andere, während sie mit wachem Blick nach Beute Ausschau hielt. Große, seidige Schmetterlinge torkelten heiter und wie beschwipst von Blume zu Blume. Was für eine Idylle, welch ein Gleichgewicht in der Natur!, dachte Adalbert und war sich zugleich bewusst, dass das eine Täuschung war. Alles menschengemacht, fragil, musste gepflegt, gedüngt, gejätet und beschnitten werden, konnte bei Vernachlässigung jederzeit kippen. Wie alles andere auch.
Aber er war ja im warmen Wasser, das diese Insel freundlicherweise reichlich spendete, er durfte sich entspannen, durchatmen, die Seele baumeln lassen, wie das Klischee es nahe legte.
Nur ganz allmählich kamen weitere Hotelgäste zu den Pools, rückten Sonnenschirme und Liegen zurecht, breiteten Handtücher aus und cremten sich ein. Astrid war noch nicht zu sehen. Sie war eine Langschläferin, hatte er erst hier erfahren. Ihre Zimmer lagen nebeneinander. Als Adalbert vom Frühstück kam, um seine Badesachen zu holen, drang noch kein Laut von ihr herüber. Dabei waren die Wände dünn.
Er kannte sich selbst nicht mehr
Ja, Astrid … sie hatte ihn gefragt, ob er ganz spontan mitkommen wolle nach Ischia. Sie führe da mit einer Gruppe hin, leichte Wanderungen und Besichtigungen stünden auf dem Programm und es seien noch Plätze frei. Spontan! Das war ganz und gar nicht sein Ding. Er war eher der bedächtige, lange voraus planende Typ. Aber seit er Astrid kennen gelernt hatte, kannte er sich sowieso selbst nicht mehr. Bluejeans hatte er sich gekauft! Statt Flanell oder Chinos. Also, warum nicht auch zehn Tage mit Astrid nach Ischia? So eine Gelegenheit ergab sich vielleicht so bald nicht wieder. Gelegenheit … Gelegenheit wozu?
Wenn er ehrlich war, machte ihm das Angst. Was erwartete sie von ihm? Einerseits fühlte er sich zu Astrid hingezogen wie ein verliebter Pennäler, andererseits hatte er die Sorge, dass ihre Gefühle für ihn auf einem Irrtum beruhten.
Da schwammen Eva und Klaus auf ihn zu, ein Ehepaar aus der Wandergruppe, und sie begrüßten ihn fröhlich: „Ciao Adi, freust du dich auch so über den freien Tag? Die Wanderung gestern war echt anstrengend.“ Diese rheinischen Frohnaturen hatten ihm gerade noch gefehlt. Aber natürlich blieb Adalbert nichts anderes übrig, als in das Geplauder einzustimmen.
„Adi, was ich dich oder Astrid schon längst fragen wollte“, sagte Eva schließlich, „ihr kennt euch noch nicht lange, oder? Habt ihr euch im Internet kennengelernt?“ „Wie kommst du denn darauf?“ fragte Adalbert ausweichend zurück. Klaus lachte. „Eva ist eben neugierig. Uns ist aufgefallen, dass ihr noch in der Schnupper-Phase zu sein scheint.“
Am liebsten hätte Adalbert die beiden angeschnauzt, dass sie das gar nichts angehe, aber er zwang sich zu einem vielsagenden Lächeln, und sagte: „Wir bewahren gern unsere Geheimnisse, sonst wären sie ja keine.“ „Dann lass ich dich in Ruhe“, sagte Eva und zwinkerte ihm zu, bevor sie weiter schwamm. „Nichts für ungut, Adi“, raunte Klaus, und verschwörerisch: „Viel Glück! Die Astrid ist ein heißer Feger.“ Damit folgte er seiner Frau.
Also so sehen die uns, dachte Adalbert. Bekanntschaft durchs Internet! Nicht im Traum würde ihm so etwas einfallen. – Jetzt aber raus aus der warmen Brühe, kalt duschen und die Badehose wechseln.
Als er im Liegestuhl saß und gerade den „Spiegel“ aufgeschlagen hatte, betrat Astrid die Bühne. Im schwarzen Badeanzug und bunten Pareo, einen breitrandigen Sonnenhut auf den kastanienbraunen Locken. Sie schlüpfte aus ihren hochhackigen silbernen Sandaletten und nahm die Sonnenbrille ab. Adalbert stand auf und ging einen Schritt auf sie zu, unsicher, in welcher Form er sie begrüßen sollte. Er streckte eine Hand aus. Die ergriff sie mit beiden Händen, zog ihn zu sich heran und küsste ihn auf die Wangen. Ihr Hut fiel herunter, er hob ihn auf und reichte ihn ihr. – So, das war überstanden. Fast wären sie mit den Köpfen zusammen gestoßen.
„Du warst sicher schon im Wasser, Adi?“, sagte sie, „ich gehe erst mal rein.“
Er sah ihr zu, wie sie mit einem seligen Lächeln in das Heißwasser-Becken glitt und ihm auf dem Rücken schwimmend zuwinkte. Ihre Eleganz und Lässigkeit! Adalbert war ja auch nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen, aber neben ihr kam er sich unbeholfen wie ein Waldbauernbub vor. Und sie war siebzehn Jahre jünger. Seine Frau, Gott hab sie selig, war ein paar Jahre älter als Adalbert gewesen und ein ganz anderer Typ. Über 40 Jahre Ehe – Adalbert hatte gar nicht mehr gewusst, wie flirten geht, als er Astrid im Italienisch-Kurs kennen lernte. Er hatte sie nur sehr verhalten, aber immer wieder bewundernd angeschaut. Sie war verheiratet, erfuhr er. Irgendwie hatte es sich ergeben, dass sie sich vor oder nach dem Kurs in der Cafeteria der Volkshochschule trafen. Astrid erzählte dann von sich und ihren vielen Aktivitäten und sagte, Adalbert sei der beste und klügste Zuhörer und Gesprächspartner.
Beide waren sich unausgesprochen einig, dass daraus nicht mehr werden sollte. Es genügte, dass einer dem anderen Flügel wachsen ließ.
Nobody is perfect
Und jetzt waren sie hier, fern der Heimat. Astrids Mann war kein Wanderer, hatte sie kurz mitgeteilt. Aber da war ja die Gruppe. „Warum möchtest du, dass ich mitfahre?“ hatte er sie gefragt. „Ich würde mich einfach freuen.“ Dazu ein tiefer Blick und ein Lächeln. War das nur charmant, vielleicht kokett, oder einladend, verführerisch, verheißungsvoll? Erst hier hatte sie ihn zum ersten Mal auf die Wangen geküsst. Aber das machten alle. Man war schließlich in Italien.
Astrid kam aus dem Pool zurück, wickelte sich in ihr Badetuch und rückte ihren Liegestuhl dicht neben Adalberts. Als sie wie nebenbei eine Hand auf seine legte und sie dort so lange liegen ließ, dass es etwas zu bedeuten schien, erschrak er. Er sagte: „Weißt du, Astrid, vielleicht irrst du dich, der Altersunterschied, ich glaube nicht, dass ich…“
„Ich weiß, Adi“ sagte sie, „nobody is perfect.“
Was sagen Sie dazu?