Sie stand mitten im Gespräch mit ihrer Mutter auf und ging ans Fenster. Dann drehte sie sich um und sagte: »Entschuldige bitte, ich muss für eine Weile hinaus«, und ohne eine Erklärung ging sie aus dem Zimmer. Sie zog ihre warme Jacke an, steckte den Schlüssel in die Tasche und zog die Haustür hinter sich zu. Vorbei an den Nachbarhäusern des kleinen Dorfes schlug sie den kleinen Trampelpfad durch die Wiese des Nachbarn ein und erreichte tief aufatmend den Rand des Waldes. Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie einen Feldweg erreichte, der am Saum des Waldes vorbeilief. Es war Spätsommer, fast Herbst, und manche Blätter von Buchen und Eichen färbten sich bereits. Doch während sie sonst die Farben und die Landschaft wie ein Schwamm in sich aufsaugte, wenn sie aus der Stadt in ihrem Heimatdorf zu Besuch war, hatte sie heute kaum einen Blick dafür. Sie war in sich gekehrt.
Eine unerwartete Begegnung
Voller Rastlosigkeit und innerer Unruhe dachte sie an den Blick, den er ihr gestern auf dem alten Friedhof am Grab ihrer Großeltern zugeworfen hatte. Er war erstaunt gewesen, überrascht vielleicht, und hatte sich für Sekunden in ihre Augen versenkt, bevor er schnell weiterging.
Sie grübelte darüber nach, wann sie ihn zuletzt gesehen hatte, seit sie von ihrem Aufenthalt aus England zurück gekommen war. Der Brief fiel ihr ein, den er ihr ein Jahr zuvor in die Stadt geschrieben hatte. Er enthielt nicht viele Worte, doch er teilte ihr darin unmissverständlich mit, dass er seine Entscheidung getroffen habe, nachdem sie ihn von ihrer Abreise ins Ausland unterrichtet hatte. Auch wenn sie alles offen gelassen hätte, so nähme er doch an, dass sich ihre Wege hier trennten, und er wünsche ihr alles Gute.
Ihr Schmerz hatte sich damals in Grenzen gehalten, zu viel Anderes und Interessantes, eine neue Sprache und Freundschaften mit Menschen in ihrem Umfeld waren entstanden und hatten die Vergangenheit wenn nicht ausgelöscht, so doch verblassen lassen. Nach ihrer Rückkehr hatte sie von einer Freundin gehört, dass er verlobt sei mit einem Mädchen aus dem Dorf, sie war einige Jahre jünger als sie und fuhr wie er täglich mit dem Bus in die kleine Stadt zum Arbeiten. All das ging ihr durch den Kopf, als sie sich plötzlich am Anfang einer Waldlichtung wiederfand, umgeben von Fichten und Buchen, dichtes Moos bedeckte den Boden. Es war ihr gemeinsamer Platz. Ohne ihr Nachdenken hatten die Füße den Weg gefunden und sie sank seufzend zu Boden, den Stamm einer jungen Buche im Rücken. Schräg fiel das Sonnenlicht durch die Bäume, doch immer wieder verdeckten dunkle Wolken den Himmel und ein kühler Wind rauschte durch die Blätter. Während sie die Augen schloss, spürte sie eine tiefe Müdigkeit in sich aufsteigen, vermischt mit einer Trauer, die sie nicht benennen konnte und die in ihren Augen brannte.
Etwas hielt sie fest
Sie schrak von einem dumpfen Krachen auf. Der Himmel in den Kronen über ihr war von einem dunklen Graublau und ein wirbelnder Wind fuhr über den Boden und trieb kleine Äste und Laub vor sich her. Sie musste eingeschlafen sein, die Sonne war verschwunden und sie zog ihre Jacke enger um sich.
Noch etwas benommen stand sie auf und starrte fasziniert in den Himmel, der, durchsetzt von hellem Grau und Schwefelgelb, das sich mit den dunklen Wolken vermischte, wie in einem Film über sie hinweg trieb.
Ein Herbstgewitter, dachte sie und war erstaunt, dass sie das Kommen nicht gespürt hatte. Dann, ganz unvermittelt, sie war erst einige Schritte gegangen, zuckte ein greller Blitz, die bizarre Zickzack-Linie durchschnitt den Himmel und ein tosendes Krachen folgte fast unmittelbar danach. Dann setzte der Wind ein, der durch die Bäume toste und Kronen und Äste schüttelte wie kleine Pflanzen. Es folgten Blitz, Donner und Krachen in rascher Folge und sie wusste, dass sie weglaufen sollte, doch etwas hielt sie fest.
Alle Dämme brechen
Dann ein schrilles Pfeifen und ein splitterndes Krachen, das sich in immer schnellerem Stakkato wiederholte. Vor Schreck an ihren Platz gebannt sah sie zu, wie Fichten und Buchen um sie herum knickten wie kleine Hölzer und sich in andere Bäume bohrten, Kronen und Äste mit sich reißend.
Dieses archaische Toben löste etwas in ihr, das sich wie eine dichte Hecke um ihr Herz gelegt hatte, und sie hörte sich plötzlich laut schreien, durchsetzt mit einem Gelächter, das wie ein wild gewordener Fluss alles mit sich riss: Schmerz, Trauer, Wut und Angst lösten sich in einer Tränenflut, und während der Sturm um sie peitschte und an ihren Haaren riss, wiegte sie sich mit ihm, wie ein Kind, das zu einer Musik tanzt die nur ihm allein gilt. Die Zeit stand still und der Lärm um sie herum drang nur gedämpft an ihre Ohren, als sie plötzlich ihren Namen hörte. Dann wieder und wieder, ein lang gezogener Schrei. Doch ihre Aufmerksamkeit war nicht darauf gerichtet, es war die Stimme, die ihn rief. Seine Stimme. Sie drehte, gegen den Sturm sich vorankämpfend, um und sah, wie er geduckt über die Lichtung rannte, mit den Händen verzweifelte Bewegungen machte, die zum Ausgang des Waldes deuteten.
Die Antwort auf alle Fragen
Sich mühsam von Baum zu Baum an den Ästen entlang tastend, spürte sie plötzlich zwei Hände, die sich um ihre Schultern legten, seine Wange an ihrer, und sie ließ sich willenlos von ihm führen. Inzwischen fielen die ersten schweren Tropfen, und während er sie immer schneller gehend umschlungen hielt, blieben sie plötzlich stehen. An einer Wiese am Ende des Waldes stand ein alter Schäferkarren, der den Waldarbeitern zur Verfügung stand. Er stemmte die Türe auf, die in den Angeln klemmte, und zog sie hinein. Es roch nach Tannenreisern die neben dem alten Eisenofen lagen, und nach dem infernalischen Krachen draußen war es hier fast still. Sie wollte ihn fragen, wieso er hier war, doch er verschloss ihren Mund mit einem Kuss, der alle Antworten auf ihre Fragen enthielt. Und während sie sich an ihn drängte mit einer Leidenschaft, die dem Sturm draußen in nichts nachstand, küsste er ihr Gesicht, ihre Augen, ihren Hals, und stammelte wieder und wieder ihren Namen und flüsterte mit Augen, die noch immer von Angst geweitet waren, er danke Gott dafür, dass sie noch lebe und nicht von einem Baum erschlagen sei.
Im Rhythmus des Sturms
Sie sog jedes Wort ein wie den Atem vor dem Ersticken und umfasste sein Gesicht mit ihren Händen wie ein kostbares Gefäß, aus dem das Leben in sie überfloss. Da hob er sie mit seinen Armen auf und trug sie zu der breiten Bank mit der alten Decke. Während er sie langsam aus der Jacke schälte, leuchteten seine Augen, immer wieder vom Blitz erhellt, der durch die kleine Fensterluke fiel.
Lautlos fielen ihre Kleider zu Boden, während ihre Körper sich umklammerten, dehnten und wiegten im Rhythmus des Sturmes, der um das hölzerne Gefährt wogte, bis sie eins wurden mit dieser Welle, die sie hoch hinauf hob und sanft hernieder fallen ließ in das Wellental, eins werden ließ mit dem Ozean all ihrer nie gelebten Gefühle, um die die Konventionen eine Mauer errichtet hatten. Eng an ihn gedrückt, seine Arme wie Adlerflügel um ihre Brust, kosten ihre Lippen seine Haut, sog ihre Nase seinen Geruch nach Schweiß und Zigaretten ein.
Freisein
Als sie erwachte, zugedeckt mit ihren Kleidern, war sie allein. Benommen sah sie einen Sonnenstrahl, der in den Wagen fiel, und während sie sich langsam anzog, versuchte sie sich zu erinnern. Als sie die Tür aufstieß, war der Himmel hell und die Erde dampfte vom Regen. Am Waldrand sah sie in der Stille aufragend die zersplitterten Bäume, alles war real und trotzdem schien es ihr unwirklich, so als ob sie eben von einem Traum erwachte. Sie atmete tief durch, dann ging sie dem Dorf entgegen.
Sie war frei.
Was sagen Sie dazu?