Mit Zahlen kann man keine Qualität herstellen!« Diesen bemerkenswerten Satz hörte ich neulich in einer TV-Reportage über Tee-Anbau in Japan. Gesprochen wurde er vom Seniorchef eines kleinen Familienbetriebs, in dem eine Wachablösung der Generationen bevorstand. Und Adressat war sein Sohn, der eine hervorragende akademische Ausbildung erhalten hatte, und nun ganz auf rationale Betriebsführung setzte, in der eben Zahlen eine entscheidende Rolle spielen.
Etwas überspitzt formuliert standen in diesem Generationenkonflikt für den Sohn Maschinen im Zentrum der Strategie, während für den Vater Intuition der entscheidende Faktor war. Dieser Konflikt lässt sich verallgemeinern: Was ist die bessere Entscheidungsgrundlage? Ist es kühle, analytische Rationalität, oder ist es intuitives Wissen?
Intuition galt als »weiblich« und verdächtig
Lange schien es, als ob dieser Kampf längst entschieden wäre, und zwar zugunsten der Rationalität. Bestes Symbol dafür sind nach wie vor die Heerscharen von jungen Beratern, die direkt ab ihrem Studium angeheuert und in die zu beratenden Unternehmen geschickt werden, wo sie dann ihr erlerntes analytisches System der Wirklichkeit überstülpen. Logisch, es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, haben sie doch von dieser Wirklichkeit noch keine Ahnung, weshalb sie gar nicht anders können, als sich an ein abstraktes rationales Modell festzuklammern.
Intuition dagegen galt lange Zeit als verdächtig, was sich nicht zuletzt darin äußerte, dass man sie in einer durch und durch männlich geprägten Wirtschaftswelt gerne als weiblich diffamierte. Intuition, so hieß es, lasse sich nicht auf ein System abstützen und nicht rational nachvollziehen und begründen. Im Klartext: Intuition ist nicht kontrollierbar, und das macht sie in einer vom Kontrollwahn befallenen Welt natürlich mehr als verdächtig.
Etwas wachere Geister dagegen haben längst erkannt, dass Rationalität und Intuition zwei gleichberechtigte Pfade der Entscheidungsfindung sind. Voraussetzung für diese Erkenntnis ist ein neuer Blick auf das, womit wir entscheiden, also auf unseren Geist, auf unser Bewusstsein – und auf dessen Gegenstück, nämlich auf unser Unbewusstes.
Angst vor den unbewussten Tiefen
Spätestens seit Sigmund Freud wissen wir, dass es dieses Unbewusste gibt, doch das machte uns alles andere als froh. In den unbewussten Tiefen unserer Psyche, so lehrte uns Freud, steckt allerhand Verdrängtes und Unerfreuliches, das gerne die Macht über uns übernehmen würde, wenn es nicht vom Licht des Bewussteins in Schach gehalten würde. Die so genannten Freud’schen Versprecher, bei denen uns unser Unbewusstes einen Streich spielt, sind nur die harmloseste Variante dieses insgesamt als unheimlich und gefährlich empfundenen Einflusses unserer dunklen, unbewussten und unkontrollierbaren Elemente auf unsere Entscheidungen. Abzuwehren sind diese Gefahren nur mit einem hellen, klaren, rationalen und bewussten Geist.
Dieses polarisierende Bild steckt tief in unserer Kultur: Dem dunklen, gefühlsbetonten, chaotischen Unbewussten steht der klare, helle, analytische Geist unseres bewussten Denkens gegenüber, der selbstverständlich die Oberhand gewinnen muss, auch wenn dies manchmal hart erscheint. Und so kommen wir gar nicht auf die Idee, dass es auch unbewusste geistige Prozesse geben könnte, die zu mindestens so wertvollen Ergebnissen führen wie bewusstes analytisches Denken.
Doch genau darum geht es bei unserer Intuition: Eine intuitive Erkenntnis oder Entscheidung ist nichts anderes als das sichtbare, bewusste Ergebnis eines unbewusst abgelaufenen geistigen Prozesses. Anders als bei einem analytischen Denkprozess, bei dem wir jeden Teilschritt bewusst vollziehen, sind diese Teilschritte bei einem intuitiven Prozess für unser Bewusstsein nicht sichtbar. Einen analytischen Denkprozess können wir mit einer offenen Parlamentsdebatte vergleichen, bei der jedes Votum sicht- und hörbar wird, während ein intuitiver Prozess eher der Delegation an einen Ausschuss gleicht, der hinter verschlossenen Türen tagt, und zum Schluss nur das Ergebnis verkündet, während der Prozess, der dazu geführt hat, im Verborgenen bleibt.
Beide Verfahren haben durchaus etwas für sich – und beide funktionieren. Über die Gründe für die Existenz beider Wege lässt sich derzeit nur spekulieren, doch liegt es nahe anzunehmen, dass unser Gehirn völlig überfordert wäre, wenn es alles bewusst und analytisch entscheiden müsste. Unser bewusstes Denken hat eine reichlich begrenzte Kapazität, verglichen mit den vielen Leistungen unseres Gehirns, die völlig oder weitgehend unbewusst ablaufen. Dass das Gehirn da auch bei Denkprozessen auf die Möglichkeiten unbewusster, also intuitiver Formen zurückgreift, liegt deshalb nahe – übrigens gerade bei hoch komplexen Problemen und Fragestellungen, die so typisch für unsere Zeit sind.
Geistesblitze für wissenschaftliche Erkenntnisse
Dass Intuition funktioniert, zeigt sich ausgerechnet dort, wo die analytische, bewusste Rationalität besonders hoch gehalten wird, nämlich in den Wissenschaften. Jede unvoreingenommene Wissenschaftsgeschichte macht deutlich, dass auch intuitive „Geistesblitze“ zu Erkenntnisfortschritt führen können. Beispiele dafür gibt es genug, wenngleich sie nicht immer gebührend zur Kenntnis genommen werden.
Das liegt daran, dass die Vorstellung, eine Erkenntnis könne sich einstellen wie ein Geistesblitz aus dem Nichts, etwas zugleich Kränkendes wie Unheimliches hat. Kränkend, weil sie scheinbar all jene benachteiligt, die mühsam Schritt für Schritt eines bewussten analytischen Denkprozesses im Schweiße ihres Angesichts vollziehen müssen, und unheimlich, weil sich solche Geistesblitze weder planen noch kontrollieren lassen.
Dagegen könnte man argumentieren wie seinerzeit der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl: »Entscheidend ist nur, was hinten heraus kommt…« Doch selbst die Einsicht, dass intuitive Erkenntnis oft (wenngleich nicht immer) stimmig sind, genügt vielen Menschen noch nicht zur Ehrenrettung der Intuition. Wirklich überzeugen kann nur eine neue Sicht derselbigen.
Intuition ist das Ergebnis komplexer Denkprozesse
Und die wiederum kann nur heißen: Intuition ist das Ergebnis eines mindestens so komplexen Denkprozesses wie bei der bewussten rationalen Analyse. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese Denkprozesse unbewusst ablaufen. Und das wiederum heißt: Intuitive Geistesblitze kommen keineswegs aus dem Nichts. Das Gegenteil ist der Fall: Für erfolgreiche unbewusste Informationsverarbeitungsprozesse braucht unser Gehirn eine Menge Input an Informationen, denn aus Nichts kann nichts Gescheites werden.
Jemand, der nichts weiß, kann also keine sinnvolle und stimmige Intuition produzieren. Im Umkehrschluss gilt: Je mehr Wissen wir haben – und damit ist primär das gemeint, was wir als Erfahrungswissen bezeichnen – desto besser und stimmiger wird unsere Intuition. Und zudem gilt: Je mehr Erfahrungen wir mit unbewussten, intuitiven Denkprozessen haben, desto besser wird die Qualität unserer Intuition.
Beides, das Ansammeln von Erfahrungswissen wie die Übung in intuitivem Denken, braucht Zeit. Bei einem reifen Menschen ist die Chance auf qualitativ hoch stehende Intuition deshalb wesentlich größer als bei einem ganz jungen. Reife Intuition wird so zu einer wertvollen Ressource, deren Entdeckung und Würdigung uns weitgehend erst noch bevorsteht.
Um zum Anfang zurückzukehren: Welcher Tee schmeckt wohl besser, der auf Rationalität oder der auf Intuition beruhende? Die Antwort liegt ganz bei Ihnen …
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