Ein außerirdischer Beobachter hätte die Geschehnisse vielleicht in Form eines Gleichnisses nach Hause rapportiert:
Eine Schulklasse darf für einen Tag das Chemielabor ohne Aufsicht eines Lehrers benutzen und stimmt nun darüber ab, wer aus ihren Reihen die Chefrolle übernehmen soll, wohl wissend, dass man im Labor Dinge anstellen kann, die das ganze Schulhaus in die Luft jagen könnten. Nach einigen Vorausscheidungen stellen sich schließlich ein Mädchen und ein Knabe zur Wahl. Das Mädchen wirkt leider nicht sehr sympathisch und hat keine rein weiße Weste, doch es ist in Sachen Chemie unzweifelhaft kompetent und erfahren. Und es weist den für ein solches Amt erforderlichen Reifegrad auf.
Der Knabe dagegen hat keine Ahnung von Chemie, ist zudem ein ungehobelter Rüpel, in jeder Beziehung unreif, doch er schürt geschickt die Ressentiments der schwächeren Schüler gegen die Streber da oben und verkündet, es sei an der Zeit, dass endlich die schulisch Abgehängten ans Ruder kämen. Sie werden es nicht glauben, hochverehrte Mitglieder des Ältestenrats, und doch ist es traurige Wahrheit: Entgegen jeder Vernunft hat die Klasse den unreifen Jungen gewählt!
Was der außerirdische Kundschafter wohlweislich verschwieg, weil seine Auftraggeber das nie und nimmer hätten verstehen können: Der unreife Junge ist siebzig Jahre alt. Und er ist vornehmlich von sogenannt reiferen Jahrgängen ins Amt gewählt worden.
Ähnlich war es ein paar Monate zuvor in Großbritannien. Auch beim Brexit, einem Entscheid von beispielhafter Unreife, gaben die Älteren den Ausschlag. Dasselbe galt, rund zwei Jahre früher, für die Schweizer Zustimmung zur sogenannten „Masseneinwanderungsinitiative“. Dass dieser Entscheid kein Ausfluss von reifer Klugheit war, zeigt sich in den Schwierigkeiten bei dessen Umsetzung überdeutlich.
Die Unreife feiert Triumphe – gerade bei den reifen Jahrgängen
Mein Schock ist also ein zweifacher: Erstens darüber, dass die Unreife überall solche Triumphe feiert. Und zweitens darüber, dass sie ausgerechnet bei den reiferen Jahrgängen so populär ist. Beim zweiten Punkt muss ich mich allerdings selber an der Nase nehmen. Meine Enttäuschung darüber, dass eine älter werdende Gesellschaft nicht davor gefeit ist, unreife Entscheidungen zu treffen, ja diese gar begünstigt, ist die Folge einer Täuschung. Allzu lange habe ich geglaubt, eine älter werdende Gesellschaft werde tendenziell auch reifer. Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens…
Ganz so naiv, dass ich von einer automatischen Verbindung zwischen Alter und Reife ausgegangen wäre, war ich nie. Mein Credo lautete immer: Älter werden wir von allein. Reifer nicht. Und dennoch bin ich blauäugig davon ausgegangen, dass die Chancen zur Reifung mit zunehmendem Alter steigen. Einfach, weil mehr Zeit für die Reifung zur Verfügung steht, und weil es mit steigendem Alter mehr Erfahrungen gibt, die Reifung begünstigen. Oder begünstigen könnten, wie sich jetzt zeigt. Die These muss gar nicht falsch sein, vermutlich steigt die Wahrscheinlichkeit der Reifung tatsächlich mit den Lebensjahren – doch eine größere Wahrscheinlichkeit bedeutet eben nicht zwangsläufig, dass sie auch Realität wird. Und deren Zeichen stehen derzeit nicht auf Reife, sondern auf deren Gegenteil.
Da habe ich mich geirrt. Das ist bitter genug, denn die Dominanz des eigenen Wunschdenkens über die Realität ist ja gerade kein Hinweis auf Reife. Ausdruck derselben ist es jedoch, einen Irrtum zugeben zu können, um sich dann auf die Wirklichkeit einzulassen und zu fragen, was wir jetzt damit machen.
Indizien für Unreife
Viel ist gerätselt worden über die Persönlichkeit dieses Donald Trump. Für mich ist er einfach der im Körper eines Siebzigjährigen steckende Geist eines spätpubertären Jünglings, der nie weiter gereift ist. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass er in dieser ja durchaus sinnvollen und nützlichen Entwicklungsphase stecken geblieben ist: Totale Ichbezogenheit. Unterstützung eines schwachen Ichs durch scharfe Abgrenzung gegen alles Andersartige. Respektlosigkeit. Fehlende Emotionskontrolle. Überlegenheitsgefühle und entsprechend rüpelhaftes Auftreten. Schuld sind immer die anderen, und es muss unbedingt Schuldige geben. Vorrang der (eigenen) Meinung vor den Fakten.
So weit, so schlecht. Solche Figuren gibt es überall auf der Welt, leider gehäuft in gehobenen Positionen. Doch wie konnte es kommen, dass eine derart unreife Persönlichkeit bei einer Mehrheit der Wähler Resonanz fand, obwohl ein Gutteil seiner Wähler gar nicht glaubt, Trump sei für das Präsidentenamt besonders geeignet?
Man muss es ganz brutal formulieren: Weil diese Wähler und Wählerinnen Trumps Unreife teilen. Mehr oder weniger jedenfalls. Sicher sind nicht alle so ungehobelte Rüpel wie ihr Idol, doch elementare Elemente von Unreife teilen sie mit ihm. Etwa die totale Ignoranz für Fakten.
Ein schlagendes Beispiel dafür fand sich neulich im SPIEGEL. Im Vorfeld der US-Wahlen wurde nach dem Verhältnis zur Vergangenheit gefragt: „Stimmen Sie zu, dass das Leben heute in Amerika schlechter ist als vor 50 Jahren?“ Trump-Anhänger bejahten dies mit 81 Prozent! Der SPIEGEL kommentierte diese erstaunliche Zahl treffend:
Was, bitte, war denn besser in den USA der Sechziger- und Siebzigerjahre? Von 1964 an kamen im Vietnamkrieg 58000 Amerikaner um. Die Rassenkonflikte waren in vollem Gang. Das mittlere Einkommen amerikanischer Haushalte ist zwar nach 2008 vorübergehend gesunken, im Vergleich zu 1967 aber um rund 25 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosigkeit liegt heute weit unter dem Schnitt der letzten 50 Jahre und ist halb so hoch wie Anfang der Achtziger. Die Lebenserwartung ist um neun Jahre gestiegen. Die Mordraten sind gesunken. Hinzu kommen unzählige technische Errungenschaften sowie Verbesserungen der Bildung, der Ernährung, der Krankenversicherung und so weiter und so fort. Nostalgie ist ein gefährliches Gefühl. Es ist ein Filter im Kopf, der nur die schönen Erinnerungen durchlässt, alle anderen löscht. Im Vergleich zum Trugbild, das daraus resultiert, muss die Gegenwart immer dekadent erscheinen. Nein, es sind nicht nur ökonomische Verlierer oder „Abgehängte“, die den Populisten der Welt gerade hinterherlaufen. Es sind auch reaktionäre Nostalgiker, die glauben, irgendetwas „great again“ machen zu müssen, was es gar nie gab.
Eine solche Verleugnung der Realität ist unvernünftig. Sie bindet Kräfte, die dringend für die Gestaltung einer noch besseren Zukunft gebraucht würden. Sie ist Ausdruck von Unreife. Und sie ist ein Fakt. Nicht ohne Grund wurde „postfaktisch“ gerade zum internationalen Wort des Jahres gewählt.
Besinnung auf reife Werte
Das sprichwörtlich Gute, das selbst in einem so üblen Phänomen wie den gegenwärtigen Triumphen der Unreife steckt, könnte dies sein: Wir, die wir auf Reifung und Reife setzen, werden zu einem durch Schönfärberei ungetrübten Blick auf das gezwungen, was wir nicht wollen, was wir ablehnen, ja verabscheuen, auf unappetitliche unreife Werte und den daraus resultierenden Verhaltensweisen. Das könnte uns zu einer verstärkten Beschäftigung mit der Frage bewegen, was wir denn stattdessen wollen, was unsere, reifen Werte sind.
Diese Frage beschäftigt mich persönlich seit geraumer Zeit. Ursprünglich, das heißt so um die Jahrtausendwende, habe ich den Begriff „reif“ vor allem propagiert, weil er besser klang als das mit negativen Assoziationen behaftete „alt“ – als Marketing-Gag sozusagen. Immer mehr habe ich dann gemerkt, dass Reife ein Bündel von Werten bedeutet, die mir (und vielen anderen) wertvoll sind. Nun bin ich durch die Fakten mehr oder weniger sanft gezwungen, dieses Werte-Bündel endgültig vom biologischen Alter zu entkoppeln. Das hat auch etwas Befreiendes, öffnet es doch den Blick dafür, dass es in allen Altersgruppen reife (und eben auch unreife) Menschen gibt.
Sieben klassische Laster seit der Antike
Welche Werte sich um diesen für mich immer noch schön und gut klingenden Begriff der Reife herum gruppieren, habe ich verschiedentlich untersucht. Dabei bin ich aktuell auf eine Denkschule gestossen, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Es geht um das symbolische Bild von den vier Kardinalstugenden, denen die sieben klassischen Laster gegenüberstehen. Es gab im Laufe der Jahrhunderte kleinere Veränderungen dieser Bildsprache, doch die Essenz ist bis in die Moderne dieselbe geblieben.
Beginnen wir mit den Lastern. Ihre Auflistung liest sich wie eine perfekte Zusammenfassung jener unreifen Werte, die sich in einer Person wie Trump manifestieren:
- Hochmut (Stolz, Eitelkeit, Übermut)
- Geiz (Habgier)
- Wollust (Ausschweifung, Genusssucht, Begehren)
- Zorn (Wut, Rachsucht)
- Völlerei (Gefrässigkeit, Masslosigkeit, Selbstsucht)
- Neid (Eifersucht, Missgunst)
- Faulheit (Feigheit, Ignoranz, Trägheit des Herzens)
Interessanterweise stehen diesen Lastern , die wir als Verkörperung von Unreife lesen können, nur vier Kardinalstugenden gegenüber, die wir aber als umfassende Beschreibung von reifen Werten verstehen können:
- Klugheit (oder Weisheit)
- Gerechtigkeit
- Tapferkeit (oder „Hochsinn“, Seelengröße)
- Mäßigung
Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, wie viele wertvolle Werte in diesen vier einfachen Begriffen stecken. „Gerechtigkeit“ zum Beispiel enthält für mich alle Werte, die sich auf das menschliche Zusammenleben beziehen, Respekt etwa. Oder nehmen Sie die „Mäßigung“, die man auch als Sinn für das richtige Maß bezeichnen könnte. Meine langjährige Forschung über Lebensqualität hat gezeigt, dass man diesen Sinn für das richtige Maß, kombiniert mit der Fähigkeit, die einzelnen Lebensqualitäts-Sphären auszubalancieren, das ist, was man als Lebenskunst bezeichnet, unerlässlich für die Gestaltung einer reifenden Lebensqualität.
„Tapferkeit“ und „Seelengröße“ mögen etwas pompös klingen, doch ist diese Tugend eine unerlässliche Voraussetzung für jeden Reifungsprozess. Offen zu sein und zu bleiben gegenüber dem Anderen und gegenüber Veränderungen, sei es in sich selbst oder in der Außenwelt, neugierig und lernwillig zu bleiben, sich über die eigenen Reifungsschritte freuen zu können und die unvermeidlichen Rückschritte gelassen zu akzeptieren – all das erfordert Tapferkeit und Seelengröße.
Dabei ist es durchaus klug, wenn nicht gar weise, reifen zu wollen. Erfahrungsgemäß werden wir durch Reifungsprozesse zu klügeren, gelasseneren und zufriedeneren Menschen, die von einer verbesserten Lebensqualität profitieren. Wobei immer klar sein muss, dass es um Reifung geht, also um einen stetigen Entwicklungsprozess, um nicht um für uns Menschen ohnehin unerreichbare absolute Reife.
Reifen können wir nicht nur als Individuen. Reifen können auch Beziehungen und ganze Gesellschaften. Und auch dabei gilt: Eine gereifte und weiterhin reifende Gesellschaft wird menschlicher und gerechter, und deshalb immer besser sein als eine unreife.
Zum Schluss eine Vision
In Zeiten, in denen die Unreife und die Unreifen so auf dem Vormarsch sind wie in den unsrigen, sind Reife und Reifende herausgefordert, ihre Gegenkräfte zu mobilisieren und zu bündeln, frei nach dem Motto Reife aller Länder und jeden Alters verbündet Euch!
Wenn Sie finden, das klinge zu martialisch, haben Sie natürlich Recht. Aber wie wäre es, wenn wir einfach einen Buchstaben im zweitletzten Wort ändern würden? Aus dem Verbünden würde dann ein Verbinden. Ein Vernetzen. Eine verbesserte Vernetzung jener Köpfe und Gruppen, die sich für eine reifere Welt einsetzen und sich dabei selbst nicht ausnehmen, ist ohne Zweifel eine wünschenswerte Vision.
Ist sie auch denkbar? Vielleicht so: Um für Gleichgesinnte besser sichtbar zu werden, markieren alle, die sich für reife Werte einsetzen, ihre Auftritte im Netz mit Stichworten wie „Reife“, „Reifung“ oder „reif“. Und um über alle Sprachgrenzen hinweg verstanden zu werden, setzen sie dabei auch auf das visuelle Symbol für Klugheit und Weisheit – die reife Eule.
Bald taucht eine Liste auf, die alle Hinweise auf dieses Symbol auflistet und einen Link zu dessen Absender öffnet. Dann können alle Verfechter von reifen Werten jederzeit Kontakt mit Partnern aufnehmen. Sofern es ihnen sinnvoll erscheint. Was nun mal auch ein Ausdruck von Reife ist …
Was sagen Sie dazu?