Als ich das erste Mal in meinem Leben zu einer chemotherapeutischen Station unterwegs war, quasi Schritt für Schritt ins Unbekannte, kam mir auf dem Weg dorthin eine merkwürdige Wunschvorstellung in den Sinn. Ich nähere mich einem Raum, der als gläserner Würfel auf der Kuppe eines baumlosen Hügels steht, außen vom Wind der Welt umtost und innen – in der Ruhe vor einem ganz eigenen Sturm verharrend – von einer Lautlosigkeit erfüllt, die dem Moment der absoluten Gelassenheit gleichkommt.
Von dem Raum aus ließe sich über das Land in alle Richtungen schauen, man könnte über die Landschaft hinweg gleiten als wäre man ein großer Vogel auf der Reise, vermutlich nach Süden, wo das Land zunehmend sommerlich wird.
Wir haben Anfang Dezember, und kalte Temperaturen um die vier Grad überziehen zusammen mit einem leichten Wind die Stadt.
Ich will die mir verbleibende Zeit genießen
Nachdem ich weiß, was mir bevorsteht, habe ich mir vorgenommen, die mir verbleibende Zeit bei jedem Wetter zu genießen.
Ich beginne damit, indem ich mich darin übe, den Blick für die Kleinigkeiten um mich herum zu schärfen.
Vor meinen Füßen tanzt ein Blatt auf und ab. Es stammt von einer wilden Weinranke und wurde aus einem der Innenhöfe über das Dach auf den Gehsteig geweht. Das Rot seiner Haut hebt sich vom Grau der Umgebung ab wie ein glühender Farbakzent, den jemand dort hinterlassen hat. Das Blatt sieht schon sehr gealtert aus und es ist bei näherer Betrachtung auch etwas löchrig, aber jedenfalls immer noch so fest, dass es sich im Wind wiegen kann. Ich will das Blatt aufheben, aber seine Freiheit bewegt es geheimnisvoll über den Zebrastreifen an der Ampel zur Haltestelle der Tram. Auch ich möchte dorthin. Und wie der Zufall will – oder das, was auch immer dahintersteckt – huscht es mit mir in den Waggon und legt sich dort direkt unter einen Sitz. Ich beobachte, wie es da am Boden klebt: wie ein großer rostiger Falter kommt es mir vor, ein Falter mit einer bewegten Geschichte.
Eine neue Erfahrungsstätte
In der Tram tummeln sich lärmend jede Menge Kinder, die jedoch bereits nach einer Station nach draußen drängen, einige mit bunten Wollmützen und blinkenden Schuhen. Dort am Eck ist eine große Schule. Hoffentlich macht das Lernen ihnen Freude und sie können heute neue Geschichten erfahren. Aber ich befürchte, ihre bunte Kleidung ist das einzig Freudige. Ich bin im Augenblick nicht in der Lage, mir etwas anderes vorzustellen. Mit meinen 75 Jahren fahre ich ab heute in eine andere Erfahrungsstätte zum Eingang des Krankenhauses.
Beim Aussteigen bemerke ich, dass ich nicht mehr auf das Blatt geachtet habe. Es ist den Kindern ins Freie gefolgt. Besser so.
Es dauert, bis ich mich an die Situation gewöhne
Wir haben 7:45 und in 30 Minuten ist Beginn.
Zur Anmeldung geht es in den zweiten Stock in einen Liegeraum. Die Aufnahme verläuft problemlos. Schließlich hat man alle meine Daten bereits im Computer deponiert. Der Raum ist mit einer Reihe Liegen bestückt, und man weist mich an, ich solle mich an der Glasfront zur Straße niederlassen. Dort steht auch bereits mein Name. Na immerhin, denke ich. Nur keine Verwechslung. Zur Sicherheit fragt man mich auch mehrfach nach meinem Geburtsdatum.
Es dauert ein wenig, bis ich mich an die Situation gewöhne. Alles sieht danach aus, als handle es sich um eine Behandlung in einer Zahnklinik. Nein, ich bin in einer chemotherapeutischen Station. Und leider ist der Raum auch kein transparenter Glaswürfel, sondern nur ein hoher Körper mit einer Glasfront an der Seite zur Straße, durch die die Tram rattert. Eigenartig ist, dass mich das sterile Ambiente hier nicht stört und auch nicht die Geschäftigkeit um mich herum. Jede benutzte Stelle muss sofort desinfiziert werden. Alles Berührte muss viren- und bakterienfeindlich sein. An den Geruch der entsprechenden Reinigungsmittel gewöhne ich mich.
Die Atmosphäre ist erstaunlich entspannend
Bis auf das ständige Piepsen der Geräte ist die Atmosphäre auch erstaunlich entspannend. Vielleicht kommt das von dem sehr freundlichen Personal, zwei Schwestern aus Osteuropa und einem bayrischen Pfleger. Sie alle kennen das Leid der Leute, kennen jeden Handgriff. Man hat den Eindruck, dass sie sich mit den Todeszonen offenbar gut auskennen. Das alles wirkt erleichternd und schafft eine Atmosphäre, die – wenn man die Augen schließt – durchaus geeignet ist, eigenen Phantasien nachzugehen.
Um mich herum sind etwa zehn weitere Personen, die sich einer chemotherapeutischen Behandlung in der Station der onkologischen Abteilung des Krankenhauses Rechts der Isar in München unterwerfen.
Ich werde im Abstand von zwei Wochen dort sein und hoffe, ich stehe die Prozedur gut durch. Ich werde jeweils bis zum Nachmittag tröpfchenweise umnebelt und bekomme am Ende noch einen Tank mit einem Liter umgehängt, den ich in zwei Tagen leer wieder abgeben muss.
Die Zeit vergeht schneller als gedacht
Durch die Gleichförmigkeit der Abläufe vergeht die Zeit schneller als gedacht.
Meist bietet sich mir dasselbe Bild. Einige kenne ich vom Sehen, es sind immer aber auch neue Patienten unter ihnen. Manche lernt man auch etwas näher kennen und man unterhält sich im Telegrammstil und flüsternd über das eine und andere, über die Vorgeschichte der Krankheit, über das, was hinter einem liegt, die Operation, die Aufenthalte in Krankenhäusern und Rehas, aber auch über das Leben, das mit einem Schlag so ganz anders ist, vor allem, wenn man die Chemotherapie bis ans Lebensende durchstehen muss.
Ich hoffe, dass das für mich nicht gilt.
Eine Frau asiatischen Aussehens
In der Halbzeit – es ist die sechste Runde – wird der Tag für mich dann doch ziemlich mühsam. Mein Körper fühlt sich schwächer an.
Ich bin wieder in der Station und bemerke, dass ich heute mein Gespräch mit meinem Nachbarn der letzten Male nicht fortsetzen kann, weil er nicht mehr da ist. An seiner Stelle liegt neben mir eine Frau asiatischen Aussehens. Sie hält die Augen geschlossen, so als würde sie schlafen, während ich meinen Platz noch etwas vorbereite, und dann vergeht ziemlich viel Zeit, bis die Ruhe-Routine einkehrt.
Ich schau zu ihr hinüber und ich bin mit einem Mal mehr als überrascht. Die Gesichtszüge führen mich in vergangene Tage und ich frage mich mit jeder Sekunde mehr, ob sie die Frau ist, der ich vor langer Zeit – es ist bestimmt über zwei Jahrzehnte her – auf einer Reise durch China an Bord eines Schiffes von Guilin nach Yangshuo begegnet bin, auf dem Lijijang inmitten einer märchenhaften Bergwelt.
Ein unwiederbringlicher Moment – gut, dass es die Erinnerung gibt.
Aber ich wage nicht, sie zu fragen. Schließlich versuchen in der Station alle, möglichst ruhig zu bleiben, und Gespräche dürfen nur im Flüsterton geführt werden. Auch Handys sind unerwünscht.
Mika
Nachdem sie mich damals gebeten hatte, antworte ich im Geiste:
»Aber gerne fotografiere ich Sie vor dem Panorama.«
Können Sie sich noch erinnern? Wir haben uns ein wenig unterhalten, und es hat mich gewundert, wie gut Sie Deutsch sprachen. Gemeinsam haben wir dann das Schiff verlassen. Sie voran mit einem Rucksack am Rücken, an dem bunte Turnschuhe baumelten. Dann sind wir im Touristenschwarm am Ufer entlang nebeneinander ins Zentrum gegangen.
Ihr Name sei Mika, haben Sie gesagt. Es war doch so? Oder?
Plötzlich ist alles wieder da
Ich schaue zu den flachen Leuchten an der Decke des hohen Raums, schließe die Augen und plötzlich ist alles wieder da, so intensiv da, als wäre es nie weggewesen.
Ich weiß, dass Sprechen im Moment schwierig ist.
Also entscheide ich mich, nichts zu sagen, sondern mich nur geistig auf etwas zu konzentrieren, dessen Anlass im Augenblick eine verblüffende Ähnlichkeit ist, zwischen der Frau, die sich gerade neben mir befindet, und Mika, deren Gestalt sich nun auch deutlich in mir abzeichnet.
Doch je länger ich das innere Bild mit dem äußeren vergleiche, werde ich immer unsicherer, ob sie es tatsächlich ist. Und mit dem Zweifel passiert es auch, dass eine sich unangenehm anfühlende Befürchtung in mir auftaucht, es könnte nun wirklich das Verkehrteste sein, sie gerade hier, in diesem Moment, anzusprechen.
Also tue ich, als würde ich über sie hinweg das Szenarium der chemotherapeutischen Station betrachten.
Einige um mich herum habe ich schon öfter gesehen. Ein Großteil sieht sehr schwach aus, kaum jemand hat eine gesunde Gesichtsfarbe.
Mika neben mir – ich erlaube mir, sie einfach so zu nennen – ist auch sehr blass. Ihre Haut aber ist glatt als wäre sie aus Wachs. Falls es sich wirklich um Mika handelt, ist sie im Gegensatz zu mir eigentlich kaum gealtert. Das ist das Privileg asiatischer Gene, denke ich.
Alles wird wieder.
»Wie geht es Ihnen heute, Frau Zhang?« höre ich den Arzt sprechen. »Oh, Sie sehen gut aus, das wird schon. Wird schon.«
Natürlich wird es wieder. Alles wird wieder.
Ich kann mich nicht erinnern, dass Mika Zhang hieß. Die Frau ist also wahrscheinlich doch jemand anderes, aber genau wissen würde ich es erst, wenn ich dem konkret nachginge.
Doch soweit komme ich nicht, weil der Arzt sie anspricht.
»Heute müssen wir etwas warten. Die Cocktails sind noch nicht eingetroffen«, sagt er wie ein Gastgeber, der das Buffet in einem Lustschloss eröffnet. Die speziellen Mischungen werden von der Apotheke gefertigt und normalerweise pünktlich geliefert. Nur ausgerechnet heute verspätet sich die Ankunft wegen des hohen Verkehrsaufkommens. München leidet unter einem ständigen Baufieber, gegen das kein Kraut gewachsen ist.
Eine Art von Endgültigkeit
Neben jeder Liege steht ein Gestänge auf Rollen, an denen die Cocktails in Plastikbeuteln aufgehängt mit den Schläuchen zu den zuvor durchgespülten Ports an der Brust oder den Armbeugen verbunden werden.
Mika lässt wie ich alles regungslos an sich geschehen: den Einstich in den Port unter dem Schlüsselbein, die Reinigung mit einer besonderen Substanz, von der jedes Mal ein intensiver und leicht ekelhafter Laborgeruch ausgeht und sich mit anderen klinischen Düften mischt.
Bei dieser Wahrnehmung spüre ich wieder eine Art von Endgültigkeit, die im Raum hängt. Diese merkwürdige unsichtbare Wolke des nicht Hinterfragbaren, hinter der die Hoffnung kaum mehr zu spüren ist.
Mir hat man die Bauchspeicheldrüse entfernt, aber zum Glück haben keine Metastasen die Lunge erreicht. Ich kann also hoffen, dass mit der zwölften Runde die chemische Armee alles Böse besiegt hat, was sich zu gerne in meinem Körper weiter ausbreiten möchte.
Ob das bei ihr auch so ist?
Fortsetzung folgt
dodo lazarowicz schreibt
was für eein schönes bild! an den text wage ich mich nur vorsichtg, zurückhaltend. ich scheue mich vor dem thema, habe gerade mehrere leute sterben sehen wieder. manchmal wird mir das u viel. zu viel sterben.
aber mir gefällt die idee der beschreibung der therapie verwoben mit einer china-reise. das ist schön. ich möchte dem autor aber auch zurufen: geh da nicht hin, mach die chemo nicht, lauf raus und fahr wirklich nach china!
jetzt schau ich mal, was er in der fortsetzung schreibt…