Wie kam es dazu, dass du vor einem Vierteljahrhundert die Münchner Tafel ›› mitgegründet hast? Wie fing alles an?
Hannelore Kiethe: Meine Kinder waren aus dem Haus, ich hatte Zeit und beschloss, etwas Sinnvolles im Sozialbereich zu tun. Als meine Freundin Vera Mauser erfuhr, dass in Berlin eine Gruppe Frauen begonnen hatte, Lebensmittel an bedürftige Menschen zu verteilen, beschlossen wir: Eine solche Initiativgruppe gründen wir jetzt in München. Gemeinsam mit sieben Freunden und Freundinnen fing alles an. Die Wut auf die Verschwendung von Lebensmitteln in unserer reichen Stadt motivierte uns und trieb uns an.
Rasch bekamen wir Zugang zur Großmarkthalle, der Direktor war sehr angetan von unserem Projekt und unterstützte uns wo er nur konnte. Die Händler erklärten sich bereit, Kisten mit überschüssiger Ware an uns abzugeben. Dann folgte die mühevolle Aufbauarbeit. Wir brauchten ja Geld, wir mussten Sponsoren finden. Das war nicht leicht, denn, so hörten wir immer wieder, München sei doch eine wunderbar reiche Stadt, hier gäbe es keine Armut! Unser schwacher Punkt war: Wir waren kaum bekannt, man hörte nicht wirklich auf uns – das wollten wir unbedingt ändern!
Wie seid ihr vorgegangen?
Uns war klar, die Presse musste über uns berichten. Also beschlossen wir, eine Pressekonferenz einzuberufen, und zwar im Sheraton Hotel. Zu unserer Überraschung erschienen erstaunlich viele Journalisten, denen wir dann unser Programm erklärten. Siehe da, die Presse schrieb überaus positiv über uns, die Anerkennung war enorm!
Außerdem konnten wir Claus Hipp, Unternehmer und Geschäftsführer des Nahrungsmittel- und Babykostherstellers Hipp, von unserem gemeinnützigen Projekt überzeugen. Er wurde unser Schirmherr, Regina von Habsburg unsere Schirmherrin.
Wie ging es dann weiter?
Zunächst vergaben wir unsere Lebensmittel ausschließlich an soziale Einrichtungen. Doch uns genügte das nicht, wir wollten auch die versteckte Armut in unserer Stadt erreichen. Also sprach ich mit einem Pfarrer im Hasenbergl, damals Münchens größtes Problemviertel. Ich erklärte ihm unser Vorhaben, doch er war skeptisch. Schließlich meinte er, wir könnten ja mal probeweise einmal in der Woche unsere Lebensmittel vor seiner Kirche verteilen. Erfreut hingen wir Plakate auf – es konnte losgehen!
Es dauerte, das Vertrauen aufzubauen, aber dann wurde die Schlange länger und länger.
Es war tiefer Winter. Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich am Steuer eines Transporters, es lag auch noch hoher Schnee. Zu meiner Unterstützung waren nur eine einzige ehrenamtliche Helferin und eine an MS erkrankte Dame im Rollstuhl dabei. Guten Mutes luden wir die Lebensmittel aus dem Lieferwagen und bauten unsere erste Ausgabestelle auf. Nach und nach kamen einige Leute und beäugten uns misstrauisch. Lebensmittel umsonst? Kein Trick dabei? Es dauerte einige Wochen, bis die Menschen Vertrauen fassten, aber mit der Zeit wurde die Schlange an der Ausgabestelle länger und länger.
Von da ab lief also alles glatt und ohne Probleme?
Natürlich gab es Probleme! Einige unserer Gäste, wie wir sie nennen, waren ungeduldig, drängelten sich vor, fingen an zu pöbeln. Also mussten wir unbedingt etwas unternehmen.
Das taten wir: Erstens lernten wir, Unruhestiftern, beispielsweise aggressiven Alkoholikern, ruhig und bestimmt entgegenzutreten, sie notfalls von der Ausgabestelle zu entfernen. Außerdem führten wir Berechtigungsscheine ein: Alle Menschen, die zu uns kommen, müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen. Egal welche Hautfarbe, Religion oder Nationalität – jeder der in Not ist, darf zu uns kommen. Keiner wird bevorzugt oder benachteiligt. Wir arbeiten auf Augenhöhe mit unseren bedürftigen Gästen. Das sorgt für Ruhe und einen ordentlichen Ablauf bei der Ausgabe der Lebensmittel.
Wie viele Ausgabestellen sind in all den Jahren hinzugekommen?
Heute haben wir 27 Ausgabestellen, wöchentlich versorgen wir um die 20.000 Menschen. Unser Team besteht aus 640 ehrenamtlichen Mitarbeitern, die bei jedem Wind und Wetter da sind und ihre Arbeit machen. Viele transportieren die Lebensmittel in ihren eigenen Autos, Fahrgeld erhalten sie nicht. Doch sie kommen gern, denn bei uns herrscht eine sehr gute, freundschaftliche Atmosphäre. Außerdem erleben sie an den Ausgabestellen unendlich viel Dankbarkeit. Einige Ehrenamtliche sind schon 25 Jahre bei uns!
Mittlerweile sind wir im gesamten Stadtgebiet tätig, denn die Not ist groß. Mit unseren Lebensmitteln sorgen wir dafür, dass Hilfsbedürftige eine Woche lang versorgt sind. Wir nehmen übrigens keine abgelaufene Ware, unsere Gäste sollen nie das Gefühl haben, sie bekämen den „Wohlstandsmüll“ von uns.
Auch unsere Sponsoren wissen um die Qualität unserer Ware. Damit gewinnen wir ihr Vertrauen. Zudem pflege ich den Kontakt zu ihnen, sie kommen zu uns ins Büro, stellen Fragen, die wir selbstverständlich alle beantworten. Wir halten sie immer auf dem Laufenden.
Wir organisieren im Übrigen auch Konzerte und kulturelle Veranstaltungen für unsere Klienten. Mehrere bekannte Münchner Wirte laden die Bedürftigen in ihre Restaurants zum Essen ein.
Du verausgabst dich, legst dich unentwegt ins Zeug. Wird dir das nie zu viel? Du bist ja auch schon älter, da lassen bei den meisten die Kräfte nach.
Ich rede nie über mein Alter. Ich kann es mir nicht leisten, zu schwächeln. Ich bin immer noch die, die die Mitarbeiter pusht und motiviert, ich versorge sie mit neuen Ideen, muss ein Motor sein – so lange ich kann, mache ich weiter. Es macht doch Spaß, das umzusetzen, was du dir vornimmst und wenn es dann gelingt! Wir bekommen dauernd positive Resonanz – das stärkt! Immer wieder sprechen mich Leute aus dem Kreis der Bedürftigen an und erkundigen sich, wie es mir geht. Manche sind schon 10, 14 Jahre an der Ausgabestelle – sie kennen mich und sind sehr dankbar!
Was sagt deine Familie, was sagen deine Freunde dazu, dass du dich mit Haut und Haaren für die Tafel einsetzt?
Da gibt es schon Freunde die sagen: Mach doch endlich mal etwas für dich! Meine Antwort darauf: Genau das mache ich! Was ich tue, hat Sinn und macht Freude. Was will ich mehr? Lange Ferien und Golf spielen – das ist nichts für mich! Ich meine, es soll jeder in seinem Leben eine Aufgabe haben, die gut ist für ihn. Das gelingt nicht jedem, ich kenne tatsächlich sehr viele Menschen, die unzufrieden und unausgefüllt sind. Für mich gilt das nicht!
Meine Familie steht ganz und gar hinter mir, auch das motiviert und bestärkt mich.
Wie wird man denn – wie du – quasi aus dem Nichts eine Führungskraft, die von allen respektiert und geachtet wird?
Ich bin in einem sehr sozialen, liberalen Elternhaus groß geworden. Mein Vater hatte in einem Sportverein viel zu sagen, erreichte die einfachsten Menschen, mühelos gewann er ihre Anerkennung und Sympathie. Mein Vater ist mein Vorbild. Wie er behandle ich alle Menschen gleich, bei der Tafel gibt es keine Unterschiede, egal aus welcher Schicht jemand kommt, welchen Bildungsstand er hat. Das danken mir meine Mitarbeiter. Sie erleben es täglich: niemand wird hier untergebuttert oder klein gemacht. Wir kennen keine Hierarchien bei uns – an den Ausgabestellen stehen Professoren und Ex-Manager neben einfachen Leuten, und keiner sagt dem anderen, was er zu tun hat. Gäbe es hier nicht diesen gegenseitigen Respekt, ich müsste den Laden schließen!
Ich bedaure allerdings, dass ich nicht genügend Zeit habe, um häufiger mit Fahrern und Helfern zu sprechen, oder mich öfter mit jenen auszutauschen, die wegen eines Delikts verurteilt wurden und bei der Tafel Sozialstunden abarbeiten. Auf jeden Fall zeigen wir immer Verständnis für die schwierige Lebenssituation, mit der so manche Mitarbeiter zurechtkommen müssen. Es ist eine Freude zu erleben, wie diese Menschen bei uns zupacken, etwa als Lagerarbeiter oder Disponent, und ihre Probleme in dieser Zeit hinter sich lassen.
Wir zahlen zwar niedrige Gehälter, weil wir uns hohe nicht leisten können. Aber wir haben Förderprogramme für unsere Angestellten, manche von ihnen sind bereits 14 Jahre bei uns.
Eines musste ich allerdings lernen: mich abzugrenzen. Oft werde ich zu Taufen, zu Geburtstagen, zur Kommunion eingeladen. Das freut mich, aber ich sage diese Einladungen ab, es geht nicht anders. Ich erkläre den Menschen, dass ich für sie da bin, mich aber auch meiner Familie widmen möchte. Sie verstehen das und nehmen es mir nicht übel. Ich muss mir einfach selbst gerecht werden.
Also alles bestens?
Natürlich gibt es hie und da Unzufriedenheit und Spannungen, etwa wenn eine Ausgabestelle immer mehr Gäste aufnehmen soll. Das überfordert manche Ehrenamtlichen und Mitarbeiter. Dann gehe ich dorthin, schlichte zwischen den Helfern, in der Regel mit Erfolg. Außerdem sorge ich dafür, dass der Ausgabestelle mehr Mitarbeiter zur Verfügung stehen.
Erfreulicherweise bekomme ich laufend neue Mitarbeiter. Etliche kommen aus kreativen Berufen, etwa aus der Werbebranche, manche sind ehemalige Unternehmensberater. Wir setzen uns zum Brainstorming zusammen, sie bringen neue Ideen ein, überlegen, was ausgebaut und verändert werden sollte.
Es gibt keinen Stillstand bei uns. Da wir ständig wachsen, sind wir stets darauf bedacht, uns weiter zu entwickeln und noch besser, noch effizienter zu werden. Als ich mit dem Aufbau der Münchner Tafel begann, dachte ich nur an eine „schöne, nützliche Aufgabe“ . Niemals hätte ich mir vorgestellt, dass unser Verein eine solche Dimension erreichen würde. Das macht mich dankbar und glücklich.
Was sagen Sie dazu?