Ich möchte Sie einladen zu einem Spaziergang durch das Atriumhaus. Wer das Haus nicht kennt, den mag der Name in die Irre führen. Die Großzügigkeit und Weite, die der Begriff „Atriumhaus“ vermittelt, findet sich bestenfalls im Inneren des Geschehens, keinesfalls in der Architektur der Räume.
Atriumhaus hieß der Ort schon vor uns. Zentral, in einer ruhigen Seitenstraße gelegen, wurde das Haus 1972 für die Olympiade in München als Stadthotel erbaut. Die Theresienwiese vor der Tür. „Atrium“ bedeutet umfriedeter Innenhof und ist auch eine Bezeichnung für den Vorhof des Herzens. Konnte das ein geeigneter Ort für ein Psychiatrisches Krisenzentrum sein? Was haben Seele und Gehirn mit dem Herzen zu tun?
Zum Stadthotel Atriumhaus sind zwischenzeitlich ein angrenzendes Nachbargebäude aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und mehrere nahe gelegene Altbauetagen hinzugekommen.
Das Atriumhaus ist, so kann man sagen, in die Umgebung hineingewachsen.
Auf unserem Spaziergang werden Sie beobachten, ins Gespräch kommen, Geschichten hören: Von den unterschiedlichen Menschen, die das Haus beleben; die anrufen, kommen, gebracht werden, ein- und ausgehen, sich begegnen, sich wieder trennen. Von Kurzzeitbesuchern, Pendlern, Laufkundschaft, Stammgästen.
Ohne dass wir die Türen zu den Patienten- und Mitarbeiterzimmern öffnen oder gar eintreten, werden Sie von den Beziehungen zwischen den Menschen erfahren. Im Foyer und im Empfang, auf Treppen und Fluren, in den Höfen und Gärten. Sie werden das Atriumhaus als Ort kennen lernen und bemerken, wie das „Tür-an-Tür“ mit der Psychiatrie auf die Nachbarschaft wirkt.
Auch werden Sie die Architektur wahrnehmen und sich möglicherweise fragen, ob die Unzulänglichkeit und der unklinische Charakter der Räume die Haltung und das Miteinander der Menschen hier prägen. Vielleicht werden Sie am Ende etwas spüren von dem Freiraum, der uns gegeben wurde, konsequent das Modell einer Psychiatrie umzusetzen, die nah am Menschen ist.
Im Wartebereich des Foyers: ein Ort mit Leben, aber ohne Eile
Ich hole Sie im Foyer ab. Setze mich, da etwas zu früh, auf einen der bequemen Holzstühle, die sich um die kleinen, runden Tische gruppieren. Gegenüber die lange gewölbte Theke der Rezeption. Neben mir ein unruhig blickender älterer Herr mit einem auffallend schönen Hund. Auch eine mir seit Jahren flüchtig bekannte Borderline-Patientin, heute mit einem Kinderwagen. Dazu, wie eine Laufkundschaft, die Patientinnen der Tagesklinik, die ständig die Halle queren, auf dem Weg von und zu ihren Therapien.
Ich liebe die seltene Gelegenheit, hier für eine Weile zu warten. Erinnerungen an Kindertage, an denen ich das Bett hüten muss; die Tür zur Küche halb offen, mildes Licht, Alltagsgeräusche. Hören. Horchen. Einfach nur da sein, dazu gehören. Bruchstücke eines Telefonates, das eine der beiden Mitarbeiterinnen hinter dem Empfangstresen führt, dringen zu uns, den Wartenden, herüber. Wichtige Fäden des Hauses laufen hier zusammen: Telefonzentrale, Ambulanzsekretariat, Auskunft und Information, Poststelle.
Auch der Tagesterminplaner für das 16-köpfige Ambulanzteam hat hier seinen Platz. Wer hat wann das Krisentelefon? Bei wem ist kurzfristig Zeit für eine Notfallpatientin? Wer ist gerade auf Hausbesuch? Wer hat heute dienstfrei? Wer kommt wann, wie lange, zu wem? Herr B. bekommt eine Depotspritze, Frau F. eine Blutentnahme, Herr R. und Herr Z. sind im 30-Minutentakt einbestellt, das heißt, sie kommen offenbar zu einem „regulären“ Termin. Frau O. und Herr T. scheinen zu kriseln, da für sie jeweils 60 Minuten eingeplant sind. Frau A., Herr B., Frau D. sind „Neue“, erkennbar an der leuchtend gelben Markierung, der Kalkulation von einer Stunde und der Tandemeinteilung; also ein Arzt und ein nichtärztlicher Mitarbeiter für den Erstkontakt.
Wie von sehr aufmerksamen Gastgebern werden die wartenden Patienten von ihren Therapeuten im Foyer abgeholt und wieder zurückgebracht.
Ich beobachte das unturbulente Treiben. Ein Ort mit Leben, aber ohne Eile. Kein Taubenschlag, trotz der vielen Bewegungen und Aktivitäten. Wie war das noch: „Vorhof des Herzens?“
Endlich sind Sie alle versammelt und es kann losgehen.
Wir nehmen die Treppe hinauf. Mit großen Schritten, immer zwei Stufen auf einmal, überholt uns Claudio Unger*. Herr Unger ist einer von den Menschen für die es das Atriumhaus gibt. Die wir vor Augen hatten, als wir Ende der 80er Jahre, damals noch in unserem Mutterhaus, dem BKH Haar, begannen, für eine Anlaufstelle in der Stadt zu kämpfen. Das Krisenzentrum, das wir uns vorstellten, sollte für alle da sein, die es brauchen. Ganz besonders aber für Menschen, die hartnäckig und beharrlich, oft ihr ganzes Leben lang anders bleiben. Menschen, die auf Grund der Diagnosen Schizophrenie, affektive Psychosen oder Persönlichkeitsstörung früher für Jahre, später dann, als sogenannte Drehtürpatienten, immer wieder in psychiatrischen Krankenhäusern waren. Die herausfallen aus den Rahmen gewöhnlichen und gewünschten Verhaltens. Herausfallen deshalb oft auch aus den Schulen, Ausbildungen, Arbeitsplätzen; auch aus den Wohnungen, den Krankenkassen, den Partnerbeziehungen. Falls sie dort überhaupt angekommen sind.
Und nicht, wie Claudio Unger, schon mit 17 Jahren von der psychiatrischen Anstalt verschluckt wurden. Diesen von der Gesellschaft vernachlässigten und ausgegrenzten Menschen wollten wir bei einem möglichst „normalen“ Leben in und nicht außerhalb der Gemeinschaft helfen. Wissend um ihre Verletzbarkeit und Störanfälligkeit, wollten wir ihnen aber auch einen Ort schaffen, an dem sie mit all ihrer Andersartigkeit, so oder so, ankommen können; der gleichzeitig offen ist und Schutz gewährt; ohne die Furcht einflößenden Utensilien der Macht und der Demütigung. Einen Ort, an dem sie ihre Krisen frühzeitig, lebens- und alltagsnah auffangen können, ohne gleich wieder aus ihren fragilen Bezügen herausgerissen und neuerlich stigmatisiert zu werden. Ein Ort zum Ordnen und Zu-Ruhe-kommen. Eine neue „therapeutische Heimat“.
Eine „Gute Adresse für das Leid der Seele“ öffnet ihre Türen
1994 schließlich durften wir uns dieser Herausforderung stellen. Das erste psychiatrische Krisenzentrum Münchens öffnete seine Türen. Die Erwartungen waren hoch.
Unter dem Titel „Gute Adresse für das Leid der Seele“ schreibt Karl Forster am 10.11.1994 in der Süddeutschen Zeitung: „Eine Mauer ist eingerissen worden um die Trutzburg Psychiatrie. Eine Mauer, hinter der bisher gerne jener Bereich menschlichen Leidens versteckt wurde, der wie kein anderer belastet ist mit Vorurteilen, Unwissen und Abscheu. Nicht von außen wurde die Mauer geschleift, sondern von innen heraus, von der Psychiatrie und ihren Verwaltungseinheiten selbst. Nur allzu gerne nämlich hielten wir „Normalen“ jene dunkle Seite des Lebens von uns fern, in der Wahn, Schizophrenie und Psychose regieren. Nun steht das Atriumhaus, eine Anlaufstelle für all jene, die unter Nervenkrankheiten leiden, nicht am Stadtrand auf der grünen Wiese, sondern mitten in München, in der Bavariastraße. Kein Gitter an den Fenstern, keine automatisch schließende Tür, nichts entspricht dem gängigen Kuckucksnest-Klischee altherkömmlicher Psychiatrie. Nicht Ausgrenzung und Abschottung ist das Ziel, sondern Offenheit für Kranke und deren Angehörige. Eine Schaltstelle zwischen Diagnose, Therapie und sozialpsychiatrischer Betreuung ist hier entstanden – eine späte Frucht der Psychiatrieenquete der siebziger Jahre, die den Verwahr-Charakter der deutschen Nerven- Heil?-Anstalten öffentlich gemacht hat.“
Im ersten Stock halten wir kurz an. Federnden Schrittes kommt uns Claudio Unger, mittlerweile von oben, entgegen. Weder sein ungestümes Äußeres noch Verletzungsspuren in seinem Gesicht können uns die sanften Seiten seines Wesens verbergen. Claudio Ungers Geschichte ist beispielhaft für Menschen, die in den 60er Jahren an einer Psychose erkrankt sind.
Claudio kommt manchmal einmal, manchmal fünf Mal pro Woche ins Atriumhaus. Nie meldet er sich vorher an. Er wartet vor dem Zimmer seines behandelnden Arztes, bis der gerade frei ist, und huscht hinein. Auch nach 40 Jahren heftiger Psychose und Psychiatrieerfahrung sind sein Lebensdrang, seine sprudelnde Ideenflut und sein in Wahnwelten funkelnder Charme ungebrochen.
Claudio Unger war seit 1967 – damals sechzehnjährig – 31 Mal und insgesamt fast 10 Jahre in Haar. Dort sind wir uns 1972 wieder begegnet. Er Patient in Haus 5, einer besonders gesicherten Abteilung für unruhige Männer, ich Praktikantin. Wir kannten uns aus der Schule, die er in der 11. Klasse verlassen hatte. Niemand wusste damals wohin. Heute lebt Herr Unger in der Türkenstraße in München-Schwabing. Humus Türkenstraße: Der Boden, auf dem etwas gedeiht. „Bodenständigkeit, gepaart mit Verrücktheit, die Kunst gebiert,“ beschreibt ein Kultbuch die Türkenstraße … Claudio Unger hat hier einen Platz und Lebensraum gefunden.
Vor einigen Wochen ist Claudio’s Vater gestorben und hat seinem Rechtsbetreuer eine gewisse Summe hinterlassen. Von der will Claudio mir eine Badekur in Murnau spendieren, mit Hirschmedaillons zum Abendessen. Claudio Unger ist übrigens nicht der einzige Patient des Atriumhauses, der spürt, dass auch mir ein bisschen Wellness und gehaltvolle Nahrung gut tun würden.
Das Atriumhaus ist ein Auffangnetz rund um die Uhr
Krisen gehören zum Leben. Neben der stetig zunehmenden Anzahl von Menschen, die unsere Hilfe wegen vorübergehender Krisen suchen, kommen heute etwa 700 Patienten regelmäßig und über längere Zeit ambulant ins Atriumhaus. Überwiegend Menschen, die trotz „Behandlungserfolgen“ doch wieder in seelische Not- und Ausnahmezustände geraten. Unsere sogenannte Langzeitklientel. Wieviel und was wir dem Einzelnen von ihnen an Unterstützung geben, ist unterschiedlich. Entsprechend dem subjektiven Leidensdruck, den Beeinträchtigungen, dem Mehr oder Weniger an Lebenstüchtigkeit, dem, was Er oder Sie anzunehmen bereit sind.
Natürlich ist auch die Behandlung mit Psychopharmaka bei fast jedem dieser Patienten Thema. Oft, und nachvollziehbar, verbunden mit Sorge und Zweifeln. „Warum? – Psychopharmaka, besonders Neuroleptika, haben nicht nur Nebenwirkungen, sondern oft auch Tiefenwirkungen: Mit jeder Tablette wird eine kleine Dosis Demütigung zu sich genommen, die darin besteht, sie überhaupt nötig zu haben. Diese kleinen Tabletten zu brauchen kommt im Kern einer Beleidigung gleich“ sagt Gottfried Wörishofer von den Münchner Psychiatrieerfahrenen. Wir nehmen die Bürde wahr, von der Gottfried Wörishofer spricht, und wissen, dass wir sie unseren Patienten nur bedingt abnehmen können. Was wir anzubieten vermögen ist, einen Teil der Last mitzutragen. Eine verlässliche Beziehung, in der der Therapeut Behandlungspartner ist und Teilhabender; eine Art Anwalt, Pate, Beschützer. Der stellvertretend ordnet, wenn die Unordnung überhand zu nehmen droht und stellvertretend hofft, wenn die Hoffnungslosigkeit beinahe erdrückt.
Und, quasi als Beitrag des Hauses, unabhängig von den Dienstzeiten des „eigenen“ Therapeuten:
Einen direkten und unmittelbaren Zugang zu einem verständigen Psychiatrie-Profi. Telefonisch oder persönlich. Ohne bürokratische Hürden, ohne lange Wartezeiten. Ein zuverlässiges Auffangnetz, an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr.
Die Krisenstation – ein „Behälter für seelische Not“
Noch eine Treppe, und wir sind im zweiten Stock. Vor uns die Räume der Krisenstation. Ich gehe voraus. Keine geschlossene Eingangstür, keine Videokamera, keine Wachkanzel.
Warum empfinde ich ein Gefühl von Stolz, wenn ich die Station betrete? Die zwar pfiffig und liebevoll, insgesamt aber doch recht bescheiden umfunktionierte Hoteletage, die eher das Erscheinungsbild einer großen Wohngemeinschaft trägt als das einer Klinikabteilung, gefällt mir, aber nicht an erster Stelle. Der Stolz bezieht sich, das spüre ich, vor allem auf die therapeutischen, emotionalen und zwischenmenschlichen Aspekte.
Mein Respekt gilt dem Team, den einzelnen MitarbeiterInnen und den PatientInnen gleichermaßen. Dem Miteinander in diesem feinen, empfindlichen, täglich neu geknüpften Netz, in dem sich Angst, Ohnmacht, Ratlosigkeit und Verwirrung mit Beistand, Mitmenschlichkeit, Hoffnung und Solidarität verbinden.
15 Menschen im seelischen Ausnahmezustand und ein Team, das diese Menschen hält, tröstet, ermutigt. Ein Mikrokosmos menschlicher Begegnungen; ein alltagsnaher Lebensraum, Übungsraum, Spielraum. Ein „Behälter für seelische Not“, wie unser Supervisor Prof. Thomas Giernalczyk es einmal genannt hat …
600 Menschen kommen pro Jahr auf die Krisenstation des Atriumhauses, um nach wenigen, höchstens 10 Tagen, wieder Abschied zu nehmen oder einfach nur wieder zu gehen. Die Zeit ist knapp bemessen. Das ist Teil des Konzeptes. Um den Kern, den so genannten Fokus der Krise, soll es gehen, nicht um die ganze Lebensgeschichte. Gerade genug Zeit soll sein, um ein Beziehungsgewirr zu entflechten, eine zugespitzte Situation zu entschärfen, eine unübersichtliche Lage zu klären, die Weichen ein bisschen anders zu stellen.
Ob die warmen Farben, die wohnliche Einrichtung, die Sitzecken für den Rückzug, der lange Tisch, um den sich alle versammeln, mit dazu beitragen, dass aus dieser Gruppe zufällig und ohne diagnostische Selektionskriterien zusammengeführter Menschen für kurze Zeit eine Gemeinschaft wird? Manchmal fast wie eine gut funktionierende Großfamilie. Wir jedenfalls haben mittlerweile gelernt, dass die Begegnungen zwischen Betroffenen in Krisen auch und vielleicht gerade, wenn sie aus ganz unterschiedlichen Lebens- und Problemzusammenhängen kommen, eine besondere Ressource sind. Jenseits der Behandlung durch uns Profis.
Mehr Eigenverantwortung im Umgang mit Krisen
Arabella Fuchs* gehört zu der jungen Generation von Menschen mit Psychosen, die eine Behandlungskultur von mehr Offenheit und Eigenverantwortung erfahren haben. Sie ist heute 24. Ich kenne sie seit ihrem Erstkontakt mit dem Atriumhaus vor 5 Jahren. Nicht sie, sondern ihr Kollegstufenbetreuer rief damals am Krisentelefon an (in mehr als der Hälfte der Fälle sind es Dritte, die anrufen). Weil Arabella im Unterricht total „daneben“ war. Zwischen Lachen, Weinen und Verzweiflung.
Das Ankommen im Atriumhaus war schwierig. Der Lehrer und eine Mitschülerin begleiteten sie.
Blitzschnell schaffte sie es, mein Zimmer zu „zerlegen“. In unserem freundlichen Aufnahmearzt sah sie den Teufel. Gerade während der Abschlussphase ihrer Facharbeit hatten sich unfreundliche und unheimliche Einflüsse ihrer bemächtigt und sie hin- und hergerissen. Arabella war emotional und gedanklich ziemlich aus den Fugen geraten, fühlte sich nirgendwo, auch zuhause, nicht mehr sicher. Eine Aufnahme und Behandlung in unserer Krisenstation war grenzwertig.
Die offene Tür … die Sicherheit der Patientin … die Fürsorgepflicht ihr und den MitarbeiterInnen gegenüber … die Belastung der anderen PatientInnen durch das Zusammensein auf so engem Raum. Andererseits wollten wir ihrem inneren Aufruhr und ihrem heimatlosen Ich einen guten Ort geben. Einen Ort, der ihre Ruhelosigkeit, ihre Ambivalenzen und ein gelegentliches „Aufmischen“ zulässt und erträgt. Wie meistens ging es dann doch. (Nur ca. 7% der Patienten werden aus der Krisenambulanz in eine geschlossene Station verlegt.)
Arabella war damals 10 Tage auf der Krisenstation, danach vier Wochen in einer Spezialabteilung der Psychiatrischen Uniklinik und anschließend noch einmal zwei Monaten in unserer Tagesklinik, bis die Psychose abgeklungen war. Dann ging sie zurück in die Schule. Mit einem Jahr Verspätung bestand sie das Abitur. Jetzt ist sie im dritten Jahr ihrer Ausbildung zur Musikpädagogin.
Seelische Höhen und Tiefen lassen sich immer noch nicht vermeiden. Allerdings erkennt Arabella mittlerweile, wenn sich eine Krise anbahnt und weiß sich zu helfen. Zumindest hört sich das in ihrem persönlichen Arztbrief so an:
„Sehr geehrte Frau Fuchs …“, liest Arabella uns jetzt vor: „Wir berichten Ihnen über ihre stationäre Behandlung vom 02.12.XX bis zum 11.12.XX auf der Krisenstation unseres Hauses. Anlass Ihrer Aufnahme war, dass Sie selbst um stationäre Behandlung baten, da Sie dringend eine Auszeit benötigten. Sie hätten sich mit Studium, verschiedenen Praktika, einem Nebenjob und viel Sport überfordert und kein richtiges Maß mehr gefunden. Innerlich getrieben hätten Sie zunehmend konfus gehandelt und Dinge getan, die Sie im Nachhinein bereuten. Am Aufnahmetag hätten Sie z. B. eine Rundmail an alle Dozentinnen und Kommilitoninnen geschickt, in der Sie mitteilen, dass Sie eine Aufgabe nicht übernehmen können, weil sie „schizophren“ seien. Sie hätten darauf viele positive Rückmeldungen bekommen, seien sich im Rückblick jedoch unsicher, ob Sie sich nicht zu weit geoutet hätten. Dies sei ein Zeichen für Sie gewesen, dass Sie Ruhe brauchen.“
Das Chefzimmer gewährt einen guten Überblick über Innen und Außen
Im vierten Stock ist mein Zimmer. Gegenüber Verwaltung, Schreibbüro, die Oberärzte. Mein Zimmer ist geräumig genug; wir können alle eintreten. Es ist hell und luftig, ein angenehmer Raum, in dem das gleiche geschieht wie in anderen Klinikleitungsbüros auch. Budget checken, Einsparpotentiale checken, Belegung steuern, Personal steuern. Nachdenken, wie man Ressourcen noch besser einsetzen kann. Und bei allem darauf achten, dass das DIN-ISO-Qualitätssiegel auf stets höherem Niveau erneuert wird.
Die beiden großen, bodentiefen Fenster gewähren einen guten Überblick: Ein Sportplatz, der zur nahe gelegenen Berufsschule gehört; hübsche, neuere kleine Familienhäuser mit Garten, die rückwärtigen Fassaden der Stadthäuser an der Lindwurmstraße, deren Besitzer mittlerweile unseren stetigen Anmietbedarf kennen und uns regelmäßig fragen, wenn bei ihnen eine Wohnung frei wird.
Von wegen feindselige Nachbarschaft! Der Apotheker an der Ecke verkauft, dank uns, kiloweise hochpreisige Produkte zur Gemütsstabilisierung, Stimmungsaufhellung, Psychoselinderung. Der Internist macht uns die EKGs; der Bäcker liefert die Semmeln.
Die Fenster meines Zimmers gehen nach hinten, zu den „umfriedeten Innenhöfen“ des Atriumhauses, die ihm – das lässt sich vermuten – seinen Namen gegeben haben.
Seit 13 Jahren finden hier die „legendären“ Sommerfeste des Atriumhauses statt. Zuverlässige Ereignisse im Jahresrhythmus. Manches einer Idee des Atriumhauses verdichtet sich bei diesen Festen …
Vielleicht weil sie etwas vom einem Austreibungs- oder Versöhnungsritual haben. Trommeln. Die alltäglichen Mühen zur Seite schieben. Sich Verbinden. Ungutes über Bord werfen. Rollen über Bord werfen.
Am Buffet für 400 Leute drängen sich Mitarbeiter, Patienten, Freunde, Familien, Politiker, Verwalter, Nachbarn.
Langsam gehen wir die Treppe wieder hinunter und treten auf die Bavariastraße hinaus.
„Von außen betrachtet, lässt die graue 70er-Jahre-Betonfassade keine Assoziationen mit Licht und Freiraum zu. Es fällt schwer zu glauben, dass sich hinter der grauen Mauer ein Projekt befindet, das in letzter Zeit soviel von sich reden macht“, schrieb einmal ein Gast nach einem Besuch im Atriumhaus.
Anfangs hat uns die Unscheinbarkeit, um nicht zu sagen Hässlichkeit, mit der sich das Atriumhaus auf seiner Eingangseite präsentiert, gestört. Mit der Zeit aber fanden wir, dass diese Unscheinbarkeit und das Sich-Einfügen in die Reihe anderer unscheinbarer Häuser passt:
Ein Resale, ein Fitness-Studio, ein Getränkemarkt, ein Taxiunternehmen, eine Apotheke, ein Krisenzentrum.
Die Mitarbeiter als Wegbegleiter zur Rehabilitation von Würde und zur Eigenständigkeit
Vor dem Haus parkt Katarina Braun gerade den weißen Dienst-Polo. Drei Patienten hat sie heute zuhause besucht. Herr von B. hat seine Depotspritze bekommen, mit Frau M. ging sie die Medikamenteneinnahme und die Einkaufsliste noch einmal durch, Herrn G. hat sie zum Hausarzt begleitet.
Katarina Braun ist es gewohnt, unterwegs zu sein. Sie gehört zu den Mitarbeiterinnen, die das „Rückgrat“ des Atriumhauses bilden. Die bewegten vergangenen 30 Jahre Psychiatriegeschichte hat sie miterlebt: Die Krankensäle mit den fixierten, entmündigten Patienten, die Überheblichkeit und das autoritäre Gebaren der Ärzte, die nummerierten Häuser in der Anstalt.
Mauern innerhalb der Mauern. Versorgung ohne Menschlichkeit.
Wie in Haus 5, wo ich Claudio Unger im Frühling 1973 bei meinem Psychiatriepraktikum wieder getroffen hatte.
In dieser Zeit absolvierte Katarina Braun ihre Ausbildung als Psychiatriekrankenschwester am Max-Planck-Institut.
Später, in den 80er Jahren, war sie dabei, als sich Zug um Zug die Türen der Anstalt öffneten:
Enthospitalisierung, Heimverlegungen, Fluch und Segen der (frühen) Psychopharmaka.
Als eine der Ersten und Mutigsten fuhr sie damals hinaus in das neue Wohngruppen-Zuhause von Menschen, die nach Jahren des Weggesperrtseins ihre ersten zaghaften Schritte „zurück in die Gemeinde“ taten. Begab sich gemeinsam mit ihnen auf den mühsamen Weg der Rehabilitation ihrer Würde, ihrer Eigenständigkeit, ihrer Subjekthaftigkeit.
Warum schaue ich soweit zurück?
Die Empathie und der Respekt, mit denen Katarina Braun heute ihren PatientInnen begegnet, sind für sie auch ein Stück Wiedergutmachung für das, was unsere Kollegen der Patientengeneration von Claudio Unger, und noch viel schlimmer, der Patientengeneration davor angetan haben.
Dialog nicht als Methode, sondern Haltung, im Team und mit den Patienten
Wir halten einen Moment inne und lassen die Atmosphäre auf uns wirken. Befriedete Innenhöfe. Hofgärten. Doch, ein Hof wäre zu nüchtern und ungastlich, ein Garten würde zu sehr zum Nur-Relaxen einladen. Ein Hofgarten hat etwas von einer Stadtoase: Eine schlanke Birke so hoch wie das Haus. Ziersträucher, Pflastersteine, ein kleines Stück Rasen, dazwischen Blumen …
Wer zu welcher Berufsgruppe gehört, ist nicht zu erkennen.
Flache Hierarchien. Dialog, Partizipation, geteilte Entscheidungsfindung. Im Team nicht anders als mit den Patienten. Wie auch, wenn Dialog nicht Methode ist, sondern Haltung, die trotz unterschiedlicher Rollen, Verpflichtungen und Interessen die Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit des Anderen nicht aus den Augen verliert und dem Unbekannten in ihm mit Offenheit und Erkenntnisfreude begegnet. Bereit, Ressourcen aufzuspüren und Verantwortung zu teilen.
Freundlichkeit, Spürbarkeit, Erfahrung. Jeder und jedem aus dem Ambulanzteam würde ich einen mir nahen und lieben Menschen anvertrauen. In Momenten der Erschöpfung, verbunden mit dem kurz aufblitzenden Wunsch, für eine kleine Weile die Seiten zu wechseln und im Getragenwerden auszuruhen.
Wir hören nicht, worüber das Ambulanz-Team spricht, aber eine wohltuende Mischung aus Professionalität, Aufmerksamkeit und Zuwendung schwingt zu uns herüber.
*Die Namen von PatientInnen und MitarbeiterInnen wurden geändert.
Jutta Rogner schreibt
Liebe Frau Dr. Schleuning,
ihr Artikel über das Atriumhaus hat mich sehr berührt. Spürbar ist neben all der Professionalität, wie sehr Ihnen die psychisch erkrankten Menschen, die so lange in unserer Gesellschaft keinen Platz hatten und weggesperrt wurden, am Herzen liegen. Und dass Sie Ihre PatientInnen als Menschen auf Augenhöhe behandeln. Als angehende Heilpraktikerin für Psychotherapie habe ich jetzt ein gute Adresse für Menschen in Krisensituationen. Danke von Herzen dafür!