Das Plumpsklo
In dem Jahr, als ich sechs wurde und in die Schule kam, also 1954, wurde es bei uns, im alten Gabrielischen Domherrenhaus ›› , modern:
Wir bekamen ein WC, ein Badezimmer mit Badeofen, der mit Holz beheizt werden musste, und ein Spülbecken in der Küche, allerdings nur mit kaltem Wasser. Der alte, schmuddelige »Ausguss« im dunklen Gang vor der Küche hatte ausgedient, ebenso die schon etwas angekratzten, elfenbeinfarbenen Waschschüsseln aus Porzellan mit den dazugehörigen Kannen, die in unseren Schlafzimmern standen.
Und das Beste: Ich musste nicht mehr auf das scheußliche Plumpsklo gehen.
Es war mir immer ziemlich unheimlich gewesen, wenn ich von dem verwinkelten Treppenflur aus, der sich zwischen Vorder- und Hinterhaus hindurchwand, in diese seltsame Bedürfnisanstalt wandern musste. Ich öffnete dann die knarzende alte Holztüre, schaute zuerst, ob noch genügend geschnittenes Zeitungspapier zum Abputzen am Nagel hing, stieg auf ein Podest, hob den schweren Holzdeckel, schaute in das riesige, stinkende Loch und kletterte mühsam mit heruntergelassener Hose auf den unbequemen Sitz.
War ich endlich oben, entdeckte ich oft vor dem blinden Fenster, hinter dem die kahle Rückwand des nur einen Meter entfernten Gymnasiums zu sehen war, eine wabernde Weberknechtfamilie. Diese Ungeheuer, auch Habergeisen genannt, wohnten dort in den Ecken. Ich hatte eh Angst vor Spinnen und fürchtete, dass die jetzt während meines »Geschäfts« auf mich z u krabbeln könnten. Wenn es zu viele waren, schrie ich laut, stieg wieder ab und betrat das Klo nur dann wieder, wenn mein Vater die Weberknechte vorher aus dem Fenster geworfen hatte.
Wenn mich keiner »retten« konnte, wählte ich eine Gartenecke als Klo.
Nun kam der große Umbau! Viel Aufregung und Unruhe! Aber dafür ein riesiger Fortschritt!
Aufregung auch, weil wir in diesem Jahr wieder ein Geschwisterchen bekamen. Das erfuhren wir »Kleinen« immer erst, wenn wir es wie ein Weihnachtsgeschenk im Korbwägelchen bewundern durften.
Aber das wäre eine eigene Geschichte.
Am Samstag wurde gebadet
In der Küche wurde ein neuer Fußboden aus Linoleum gelegt, der alte war jedoch wesentlich interessanter gewesen: Das waren breite, ausgewaschene, wellige Eichenholzbohlen, wir holten uns darauf beim Barfußlaufen manchen Spreißel, aber wir konnten auch wunderbare Schusserspiele machen oder beobachten, wie die Pfützen nach dem Putzen langsam verdunsteten.
In dieser großen, lang gezogenen Küche, vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß, wurde bis zur Renovierung jeden Samstag Abend gebadet:
Man stellte mit vereinten Kräften eine Sitzbadewanne aus Zink auf den holprigen Boden, im Herd wurde mühsam Wasser erhitzt und, wenn es endlich soweit war, mussten wir uns der Reihe nach hineinsetzen und wurden mit Kernseife abgeschrubbt.
Wer zuerst in die Wanne kam, weiß ich nicht mehr. Aber ich kann mir vorstellen, dass es unter meinen älteren Geschwistern einige Auseinandersetzungen darüber gab oder dass der eine oder andere ganz auf dieses Vergnügen verzichtete und sich in der Waschküche abspritzte.
Oft traf sich, ebenfalls am Samstagabend, die »Jungschar« im Turmzimmer der Gemeindehelferin. Um in das Turmzimmer zu gelangen, mussten die Teenager (wie man erst später sagte) durch diese Küche gehen, denn die war an den mittelalterlichen runden Turm angebaut.
»Ach nett, das kleine Mädele!« oder »Oh, Badefest!« bekam ich zu hören oder »So groß bist du schon!«, wenn die »Jungschar« im Gänsemarsch an mir vorbeizog, um zu ihrem Treffpunkt zu gelangen.
Halb genierte ich mich, halb fand ich die jungen Leute interessant. Gerne wäre ich bei ihren Treffen dabei gewesen statt im lauwarmen Badewasser sitzend auf die Ablösung zu warten.
Dunkle Winkel, geheimnisvolle Treppen
Es muss auch vor der großen Modernisierung gewesen sein: Oft ging ich durch diese Turmtüre über die uralten, durchgetretenen Stufen die Wendeltreppe nach oben.
Man stieß dort auf Reste von Taubenmist, Federn und Spinnweben, man musste aufpassen, nicht an den runden Löchern, durch die vor Urzeiten mal ein Glockenseil gezogen war, hängen zu bleiben.
Nach ungefähr fünfzehn Stufen führte der Weg aus dem Turm raus in einen sehr dunklen Flur, von dem aus man auf die Dachkammern im obersten Stock des sogenannten Hinterhauses stieß.
Die erste war hell, geräumig und schön eingerichtet, hier wohnte »Fräulein« Weil, die Gemeindehelferin, dort fanden auch die Jugendtreffs statt.
Dahinter war das sogenannte Bubenzimmer, in dem meine älteren Brüder in wechselnder Besetzung hausten.
Beide Kammern bekamen den Schall der nahen Kirchenglocken und das Gurren der unzähligen Tauben in voller Lautstärke ab. Auch den Lärm aus dem Pausenhof des benachbarten Gymnasiums.
Davor in der Dachschräge waren dunkle Winkel mit undefinierbarem Gerümpel, in die nie ein Lichtschein gelangte und die ich auch nicht betreten wollte. Besonders gruselig fand ich das tote Fenster vor dem Bubenzimmer, man sah nichts als eine Brandmauer. Immer wieder fragte ich: »Was ist hinter dem Fenster?«
Mit der Antwort, dass hinter der Mauer der Pausenhof des Gymnasiums sei, konnte ich mich nicht zufrieden geben. Da musste noch irgend etwas anderes dazwischen sein! Geister? Fledermäuse? Ein Schatz?
Mit leichtem Schaudern, aber auch mit viel Neugier, ging ich oft in die kalte, dumpf riechende »Rumpelkammer« auf der anderen Seite des dunklen Ganges, ein mit durchgelegenen Matratzen, alten Kleiderschachteln, kaputtem Spielzeug und sonstigem Kram vollgestopfter Raum.
Hier gab es ein vergittertes Fenster, durch das ich, wenn ich mich direkt darunter stellte, den benachbarten Dachgarten des Gymnasialdirektors erspähen konnte. Es war wahrscheinlich genau ein Stockwerk über dem Plumpsklo. Ich spielte gerne dort, fand alte verstaubte Bilderbücher, zerlumpte Puppen oder altmodische Klamotten zum Theater-Spielen.
Das alte Schloss
Eines Tages lief ich alleine hoch, öffnete mühsam die Türe zur Rumpelkammer – es war ein primitives Schloss, das lange nicht geölt worden war – und hatte das ganze Reich voller muffeliger »Schätze« für mich allein. Die Türe fiel wieder zu, ich fing an zu wühlen und zu spielen, bis es mir irgendwann langweilig wurde.
Jetzt wollte ich wieder runter in die Küche, in die Gesellschaft.
Ich drückte die eiserne Klinke, sie ging zwar runter, aber die Türe öffnete sich nicht! Ich drückte und rüttelte immer wieder, für mich blieb sie verschlossen.
Jetzt fing ich an zu rufen, zuerst nach meiner Mutter, dann nach meinen älteren Schwestern, die, im Gegensatz zu den Buben, oft in der Küche helfen mussten, immer wieder, immer wieder – keine Antwort! Keine Schritte! Keine Hilfe! Nur fernes Taubengurren!
Seltsamerweise blieb ich ganz cool, bekam keine Panik. Ich überlegte, was ich tun könnte. Noch länger warten wollte ich nicht.
Ich dachte: »Jetzt musst du dir selber helfen. Ja, hier ist das Fenster und der Dachgarten ist ganz nah. Das müsste ich schaffen!«
Eingesperrt
Ich stieg auf die alte Kommode, die vor dem Fenster stand, öffnete es, quetschte mich durch die Gitterstäbe und machte eine großen Schritt zum Dachgarten, an dessen Maschendrahtzaun ich hochkletterte. Den Abgrund von mindesten zwölf Metern Tiefe sah ich gar nicht. Ich fühlte mich ganz sicher.
Nun stand ich auf der anderen Seite des Zaunes und schaute mich um: Ein paar Blumenkübel, die Türe zur Wohnung von Herrn Kunz, so hieß der Direktor, und auf der anderen Seite der Blick in den Innenhof des Gymnasiums.
Die Pausenklingel schrillte, Massen von Kindern und Jugendlichen strömten durch den Innenhof, um ganz nach draußen in den richtigen Pausenhof mit den alten Kastanienbäumen zu gelangen. Ich entdeckte meinen Bruder »Gotti«, der eigentlich Gotthilf heißt, rief laut nach ihm, aber natürlich konnte er mich bei dem Lärm nicht hören.
Ich wartete, es wurde leiser, bald waren kaum noch Stimmen zu vernehmen.
Nach einiger Zeit erneutes Klingeln, erneuter Schülerlärm, einige laute Lehrerstimmen, dann wieder Stille.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da oben gewartet habe, aber auf einmal ging die Türe auf und mit strahlend weißer Schürze erschien die Haushälterin von Herrn Kunz.
»Um Gottes Willen, was machst du denn da heroben?« rief sie mit erschreckter Stimme. »Wie kommst du denn da rauf?«
Ich erklärte ihr alles. »Du hast vielleicht an Schutzengel g’habt! Wie du das geschafft hast!« Irgendwie spürte ich so etwas wie Bewunderung heraus.
Sie nahm mich energisch bei der Hand und führte mich heim.
Dort wurde ich mit großer Aufregung in Empfang genommen, aber für mich war schnell alles wieder normal.
Ob das alte Türschloss nun geölt wurde oder ob ich gar nicht mehr hoch ging, weiß ich nicht mehr.
Es gab ja noch viele andere interessante Dinge zu entdecken in dem alten Gemäuer.
Später wurde der Turm mit der Falltüre, über die man auf einer wackeligen Leiter in das runde, ganz oben gelegene Turmzimmer gelangte, unser bestes Spielzimmer. Von dort aus konnten wir die ganze Stadt überblicken und Steine auf den Kunzschen Dachgarten werfen.
Noch immer steige ich in jeder fremden Stadt gerne auf ihre Türme.
Angela Ebert schreibt
Herzliche Grüße aus der Münchner Belgradstraße 38, Rückgebäude, so um 1960 oder aus Ginkofen, Niederbayern.
Eine Reise auch in meine (frühe) Kindheit. Mit Plumpsklo, spinnenverwebten Speichern, alten Koffern, Bildern in verschnörkelten Rahmen, Zinkbadewanne, die am Samstag aus dem Keller geholt wurde. Abenteuerspielplätze – aber nicht zu vergleichen mit einem burgähnlichen Haus. Wie schön, das zu lesen
Petra eichele schreibt
Eine hinreißende Geschichte, viele Erinnerungen an die eigene Kindheit wurden geweckt, selbst der Milchladengeruch war plötzlich wieder da. Danke dafür.
Doriano De Polli schreibt
Vieles erinnert mich an meiner Kindheit. Hat Spaß gemach es zu lesen.
Gibt’s noch mehr davon?
Doriano De Polli