Für Otto ist der Moment gekommen, sich endlich einen Traum zu erfüllen. Er will mit seinem Motorrad über seine Heimatstadt fliegen. Seine BMW R16 Baujahr 32 hat er komplett nachgerüstet und wird sie in einen Flieger verzaubern, noch bevor die Sonne aufgeht.
Lange hat er diesen verrückten Wunsch gehegt, hat ständig an ihm herum gedacht und die physikalischen Voraussetzungen ausgiebig studiert. Er hat genaue Pläne einer Startbahn gezeichnet und darüber hinaus ein Modell des Flugkörpers gebaut. Den Ablauf seiner Aktion ist er viele Male durchgegangen, geistig im stillen Kämmerchen und auch real vor Ort. Und nun ist er absolut sicher, dass es funktionieren wird. Alle Teile liegen nebeneinander und müssen nur noch kurz verschnürt werden: das Flügelgerippe aus Bambusstäben, von reißfestem Nylonstoff überzogen, dazwischen der Sitz, von dem aus die Luftflossen bewegt werden, um das Gerät zu steuern.
Sein Wunsch war, etwas Eigenes zu entwickeln
Störend ist einzig und allein der Preis für die Aktion: Die geliebte R16 muss er nach dem Start am Rand des Felsens in die Tiefe werfen, in der Hoffnung, sie kracht in dem Moment niemandem auf den Kopf. Um sechs Uhr morgens aber, am Hang der Hohen Metze, dürfte sich keiner im Wald aufhalten, weder Jäger, noch Wanderer.
Natürlich hätte er auch gleich ein gängiges Gleitflugmodell fertig kaufen können, eines von denen, die auf der Friesener Warte bei Forchheim zum Einsatz kommen. Ein solcher Kauf wäre nichts besonderes gewesen, doch wenn er das gemacht hätte, wäre er vom Wunsch weit entfernt, etwas aus eigenen Kräften zu verwirklichen, und zwar ohne Vorgefertigtes zu benutzen.
»Der Otto ist ein Trotzkopf«, hat man über ihn immer wieder gesagt. »Er macht alles anders.«
Aber niemand wusste, wie das für ihn war und was es für ihn bedeutete, aus dem Kokon auszubrechen, in denen Menschen normalerweise stecken, verrückte Ideen hervorzubringen und ihnen zu folgen, so wie dieser.
Oft schon ist er den Flug durchgegangen
Jetzt sitzt er am östlichen Rand des Hügels im taufrischen Gras und wartet. Ende Mai können die Nächte bereits sehr angenehm sein. Vor der Feuchtigkeit schützt ihn der hautenge, rote Lederoverall. Helm und Handschuhe liegen in Reichweite. Er schaut zum wolkenlosen Himmel, an den Sternen vorbei in die Tiefe des Alls.
Noch liege ich im Gras auf der Hohen Metze, denkt er, auf einem Hügel mit einer beachtlichen Felsfront, einem Geheimtipp für Wanderer nordöstlich meiner Heimatstadt Bamberg, in einem weitgehend unberührten Teil des fränkischen Jura.
Von dort soll die Reise über die Plätze seiner Jugendzeit starten.
Oft schon ist er den Flug durchgegangen, über die Gartenstadt hinweg zur ersten Pizzeria am Tor zu den Kasernen der Amerikaner. Den Salami-Peperoni-Geruch hat er heute noch in der Nase. Er hat eine solche Pizza danach nur noch einmal in New York entdeckt.
Sein Flug geht weiter über den Bahnhof zur Luitpoldbrücke, zum Schönleinsplatz und Hainpalast, dem ersten Cinemaskop-Kino, in dem Das Gewand gespielt wurde, direkt zum Zwinger, wo er wohnte, in der Nähe eines Wasserfalls mit Blutegeln, die einen befielen, wenn man darin badete.
Von dort – mit dem gesamten Panorama der Stadt vor Augen – fliegt er hinüber zu der Stelle neben der Concordia, an der ein alter Russe mit einem Kahn die Leute für fünf Pfennige von einem Ufer zum anderen beförderte, weil die Brücke gesprengt worden war. Der bärtige Mann wohnte am Fluss in einem kleinen Holzschuppen mit einem Sägespäneofen für den Winter, und er roch aus allen Poren gewaltig nach Schnaps. Er hatte es nicht leicht.
Zur Erinnerung daran hat er sich die Augen geschminkt, zwei schwarz-weiße Bögen wie einst Gene Simmons: »I love it loud.«
Die Party-Scheune: Wilde Zeiten auf der Suche nach dem Unbekannten
Kühle Luft zieht an seinem Gesicht vorbei, und sein Kopf beginnt plötzlich zu arbeiten: War nicht hier in der Nähe die legendäre Scheune? Ob es sie noch gibt?
Damals wurde sie zu einem Partyraum umgestaltet. Seine Clique hat sich dort regelmäßig getroffen, 1968. Es lief immer gleich ab: Zunächst die politischen Rundumschläge vom nahenden Untergang des bürgerlichen Systems zu Pizza und Rotwein. Dann wurde nach größeren Mengen von Kellerbier exaltiert getanzt, getanzt und noch einmal getanzt, bis alle umfielen. »Hey hey hey hey yeah!« Oder wie Iron Butterfly »In A Gadda Da Vida«, mit einem Schlagzeugsolo von Ron Bushy vom Feinsten!
Am nächsten Morgen hat dann jemand Kaffee gemacht und dazu gab’s Bamberger Hörnla vom Beckstein.
Wilde Zeiten mit heimeliger Patina auf der Suche nach dem Unbekannten, dem Fremden.
Das Fremde lassen wie es ist
»Das Ich ist ein anderer« sagt Rimbaud.
So war es, denn die Wünsche flogen immer weit weg: nach Bali, zum Grand Canyon, auf den Machu Picchu oder zur Osterinsel. Je weiter desto besser. Und diejenigen, die dann später tatsächlich dort waren, haben erzählt, wie toll die Reise war, aber auch, dass sie Bamberg vermisst haben.
Die Sehnsucht hat schon ein merkwürdiges Herz, mit vielen widersprüchlichen Anteilen, in denen trotz der Faszination dem Reichtum fremder Kulturen gegenüber auch viele Vorurteile lauern, die einen blind werden lassen, weil man dazu neigt, Dinge zu vergleichen, anstatt das Fremde einfach so zu lassen, wie es ist.
Dieses Kleinbürgerliche und die Angst vor Veränderung hat er auch in sich entdeckt, und das hat ihn erschreckt. Wenn er anderen in der Fremde von seiner Stadt erzählt hat, kam er richtig ins Schwärmen.
»Entzückend, diese Stadt!«
Wie Rom hat Bamberg sieben Hügel, auf jedem eine prachtvolle Kirche. Die Altstadt ›› ist Weltkulturerbe. Den Domkörper überragen vier Türme, im Inneren meditiert friedlich ein Reiter auf einem Pferd neben dem Grab von Kaiser Heinrich und seiner entspannt entschlafenen Frau Kunigunde, gegenüber der letzten Ruhestätte von Papst Clemens II.
Es ließe sich noch sehr viel mehr aufzählen: die alte Hofhaltung mit dem Mittelpunkt der Welt, die Residenz mit Rosengarten, die Burg, viele verzweigte Wasserarme mit Wasserfällen, ein spektakuläres Rathaus inmitten des Flusses, das Viertel Klein Venedig an der Regnitz, das Konzerthaus des berühmten Symphonieorchesters, das Theater und die Universität. Und, man staune, die achtzigtausend Einwohner-Stadt hat auch einen Hafen, am Rhein-Main-Donau-Kanal mit Flusskreuzschiffen voller Touristen aus aller Herren Länder: »Entzückend, diese Stadt!«
Da wird einem schon klar, wer einen solchen Ort seine Heimat nennen darf, kann sich glücklich schätzen.
Die Selbstdarstellung ist Programm
Er hat das nicht vertieft, sondern einfach nur weiter aufgezählt, was sein Dasein inmitten dieser – und das muss er selbst zugeben – doch recht eigenen Dialektgeselligkeit ausmacht: am Tisch reden alle gleichzeitig, so dass man meinen könnte, sie stünden in engem Kontakt.
Die Selbstdarstellung ist Programm in den zahlreichen Wirtschaften und Bierkellern, die überall in und um die Stadt herum auf dem Land verstreut sind, bei Zieberleskäs, Zwetschgenbames, ungespundetem Bier, Wirsching mit Schweinebraten und rohen Klößen mit mindestens drei Bröckerla. Und in Bezug auf das Bier ist das berühmte Schlenkera die Sensation schlechthin, eine traditionelle Wirtschaft in der Altstadt. Knoblauchwurst und Leberkäsbrödla vom Metzger nebenan kann man mitbringen. Teller und Besteck bekommt man von der Bedienung.
Wo in der Welt darf man sein Essen ins Lokal mitbringen? Wo bitte??
Auf einem T-Shirt könnte neben der Abbildung jenes dunklen, mit dem Guinness verwandten, rauchgeschwängerten Gerstensafts stehen: »Die Oberfranken der Franken sind die Ir(r)en der Bayern.«
Wenn Kirchweih ist, sind alle auf den Beinen, ein Bierglas in der einen Hand und die Bratwöschtla in der anderen. Nur dem großen Dichter E.T.A. Hofmann hat beides nicht geschmeckt. Schade, aber er war eben kein Bamberger, und darum ist er nur ein paar Jahre geblieben, obendrein unglücklich verliebt. Sein verbittertes, in Düsternis versunkenes Gesicht hat keiner Frau gefallen, heißt es. So musste er die Nachtgeschichten schreiben und den Goldenen Topf, dessen magische Utopie vor allem Karl Marx gefiel, während Goethe das Märchen als romantischen Irrsinn empfand.
Den Domherren hat nichts von beidem gefallen. Aber lassen wir das.
Maria schwankt bedenklich und Hochwürden betet inniger
Frisches Fassbier kann man selbst heute noch im Krug nach Hause tragen. Und wenn die Fronleichnamsprozession durch die Straßen zieht, riecht es an den Brauereien Mahr und Käsmann nicht nur nach Weihrauch, sondern nach Grillwürsten. Die jungen kräftigen Burschen aus den Gärtnerfamilien, die man die Zwiebeltreter nennt, setzen dann an jeder Wirtschaft die schwere Marienfigur ab, um wieder zu Kräften zu kommen. Einmal tief durchatmen, ein Schluck flüssiges Brot, das schafft die Energie für den Blick hinter die Dinge.
Mit fünf Seidla sind am Ende alle im siebten Himmel, nur die Maria schwankt bedenklich und Hochwürden betet inniger.
Wo geht’s am Sonntag hin? Nach Stegaurach zum Karpfenessen? Oder für ein Fassbier nach Schammelsdorf? Nein, heut‘ nach Wernsdorf. Dorthin, wo das Essen nicht auf Tellern angerichtet ist, sondern dem Gast zum Nachfassen in Schüsseln und Töpfen gereicht wird.
Wer die mittlere Scheibe bekommt, hat Glück
Manchmal geht es auch zum autofreien Kälberberg, wo der Teig für das Sauerteigbrot von der Bäuerin mit den Füßen getreten wird und im Holzofen im Freien zu großen Laiben gebacken wird. Das Besondere daran ist, wer die mittlere Scheibe bekommt, hat Glück. Doch das ist eher selten. Das Brot mit der kräftigen Rinde wird dick mit Butter bestrichen und zur Hälfte mit Zieberleskäs, dann zur anderen mit Zwetschgenbames belegt.
Dazu trinkt man ein kaltes, würziges Kellerbier aus dem Steinkrügla. Der Zieberleskäs ist eine Art Hüttenkäse und wurde den kleinen Küken, den Zieberla, verfüttert, und der Zwetschgenbames ist ein mit Zwetschgenholz geräuchertes, getrocknetes Rindfleisch.
Mechanik im Dienst der Selbstverwirklichung
Noch ist es dunkel, aber in einer halben Stunde geht die Sonne auf, da wird sich auch die Thermik erfahrungsgemäß verändern. In der Regel kündigen um diese Zeit plötzliche Aufwinde den neuen Tag an, mit kräftigen Luftströmungen, die am Fels entlang nach oben streichen. Sie haben genügend Kraft, ihn hochzutreiben. Er kennt diesen Effekt vom Gleitschirmfliegen, dessen Grundzüge er in seiner Zeit beim Bund erlernen konnte.
Er weiß, dass er nicht versäumen darf, unmittelbar nach dem Felsenrand am Seil zu ziehen und das Motorrad abzuwerfen. Ein sehr kritischer Moment. Dem folgen vor seinem Übergang in den Schwebezustand das Hinabstürzen und Zerschellen aller Teile der R16.
Bei dem Gedanken hält er sich die Hände vor die Augen, um dadurch die Vorstellung des Untergangs einer beeindruckenden mechanischen Tradition zu verdecken, auch wenn es nichts nutzt. Auch die beste Mechanik lebt nicht ewig und sie dient nicht der eigenen Selbsterhaltung, sondern lediglich dem unbändigen Wunsch nach Selbstverwirklichung.
Bei ihm sieht im Moment die Selbstverwirklichung so aus: natürliche Kräfte müssen genutzt werden, an deren Zenit man dann abhebt, um in die Vergangenheit zu fliegen.
Nur keine Tränen, Otto! Keine Sentimentalität! Das kannst du jetzt nicht brauchen.
Die R16 hat viel geleistet, hat ihn an Orte geführt, die er ohne sie nie erreicht hätte – aber einmal ist eben Schluss, auch für den Entdeckungstrieb einer R16.
War das eine Vision?
Der Zeichenlehrer im Gymnasium hatte ihm einst anlässlich eines Faschingsfestes erlaubt, eine Wand im Treppenhaus der Schule zu gestalten. Dorthin malte er einen riesigen Feuervogel mit Flügeln aus Silberpapier bis an die Decke und daneben ein Luftschloss aus Tausend und einer Nacht. Wenn das keine Vision war!
Die konkrete Idee aber nahm er aus einem Konzert der Bamberger Symphoniker mit, in dem André Cluytens Strawinskys Ballett Feuervogel dirigierte. Ein mächtiger Paukenschlag eröffnet wie ein Kanonenschuss den Tanz. Ihn begleiten hüpfend Posaunen und Trompeten.
Für die Seele spielt die Zeit keine Rolle
Am Nachthimmel regt sich nichts. Schwarze Dunkelheit hält ihn verschlossen. Es dauert eine Weile, sich daran zu gewöhnen, doch dann wandern seine Gedanken um so leichter in die große, weite Welt.
Überall, wo es einen Job gab, hat er zugegriffen, und das gelang ihm ziemlich gut. Einmal hat er für ein Forschungsinstitut tagelang in den Bäumen Sumatras gesessen, in einem Baumhaus im Regenwald, von wo aus er das Verhalten seltener Falter beobachtete. Das Merkwürdige daran war, je länger er da in der feuchten Hitze saß, umso mehr faszinierte ihn das flatterhafte Wesen der Falter, der unruhige Geist in ihnen.
Und obwohl er es vermied, Parallelen zu ziehen, ließ ihn die Vermutung nicht los, dass das Flatterhafte die notwendige Fähigkeit darstellt, zu überleben.
Diese Erfahrung liegt zwar schon eine Ewigkeit zurück, für die Seele aber spielt die Zeit bekanntlich keine Rolle.
Und jetzt? Was ist jetzt?
Jetzt hat er den Eindruck, als passe sein Leben in eine Streichholzschachtel mit einem einzigen Streichholz für eine einzige Kerze.
Immer noch ist alles dunkel, die Sonne scheint sich heute zu verspäten.
Was sagen Sie dazu?