Vor 500 Jahren, am 6. April 1520, starb in Rom der Maler und Architekt Raffaello Sanzio. Raffael ist eine der großen Künstlerpersönlichkeiten der Renaissance. Der italienische Künstlerbiograph Giorgio Vasari nennt Raffael einen »sterblichen Gott«. Die Vorstellungskraft des Künstlers übersteigt unsere gewöhnliche Sicht der Dinge und macht sein Bild zu einem Kunstwerk.
Mein Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999 erzählt vom Leben und Werk des Renaissancekünstlers Raffael, der 1483 in Urbino geboren wurde.
Ich habe den Film mit einer längeren Kamerafahrt über sein letztes Werk begonnen: die »Transfiguration« oder »Verklärung Christi am Berg Tabor«. Das Gemälde war ein Auftragswerk für Kardinal Giulio de Medici, den späteren Papst Clemens VII.
Wir konnten dieses Bild im Original in Rom filmen. Aufnahmetechnisch gesehen ist das Filmen von Kunstwerken im Hochformat nicht ganz einfach. Auch die »Verklärung« ist ein Hochformat. Das Gemälde eignet sich somit gar nicht gut für die Präsentation im horizontal liegenden Filmbild.
Andererseits habe ich die Konzentration des Kamerablicks auf Detailausschnitte immer als einen großen Vorteil der Reproduktionstechnik empfunden.
Die »Transfiguration« ist scheinbar in zwei Bildhälften geteilt – die obere zeigt die Verklärung Christi, die untere den »mondsüchtigen« Knaben, den Jungen, der einen epileptischen Anfall hat. Beide Bildhälften gehören jedoch untrennbar zusammen.
Farbliche Beziehungen zwischen den Bildteilen
Raffael bezieht die beiden Bildteile an drei Stellen farblich aufeinander. Bei der Frau unten im Vordergrund reflektieren Gesicht und Schulter das weiße Mondlicht, das auch den verklärten Christus umgibt, und ihr Mantel ist im Blauton des Abendhimmels in der oberen Bildhälfte gehalten. Dieses kühle Blau findet sich ausserdem noch beim Apostel Matthäus links und bei dem Knaben mit dem epileptischen Anfall auf der rechten Bildseite.
Raffael malt den Set der Dämmerung einer Vollmondnacht und wählt in seinem Bild bei den entscheidenden Figuren entsprechend blasse, dem Mondlicht nachempfundene Farben.
Gesten und Ausdruck bei Raffael
Die Figuren der »Verklärung Christi« zeigen den charakteristischen Stil von Raffaels Spätwerk. Ausdrucksstarke Gebärden, Blickbeziehungen und die Mimik der Figuren erzeugen eine Bildkunst der nonverbalen Kommunikation. Gesten drücken bei Raffael nicht nur einen gedanklichen, sondern auch einen seelischen Bezug aus.
Im Zentrum dieses Bildes zeigt Raffael einen »Sehenden«, den epilepsiekranken Jungen.
Die Epilepsie wurde in der Antike bei Hippokrates als »göttliche Krankheit« oder in römischer Zeit, bei Galen und anderen, als »morbus lunaticus« oder »Mondkrankheit« bezeichnet.
In der Urzeit der Menschheit (beginnt) alle Medizin der Erde als Theologie, als Kult, Ritual und Magie, als seelische Gegenspannung des Menschen gegen die von Gott gesandte Prüfung. (…) Heillehre bleibt in ihrem Ursprung unlösbar von Gotteslehre, Medizin und Theologie sind anfangs ein Leib und eine Seele. (Stefan Zweig ‹‹ : Die Heilung durch den Geist)
Heilung durch die Kraft des Glaubens
Jesus heilt in der neutestamentarischen Überlieferung den kranken Knaben durch die bezwingende Autorität des unbedingten Glaubens. Aber nur er ist dazu fähig. Laut Überlieferung verzweifelt er fast daran und beschwört die Kraft des Glaubens gegen den »Kleinglauben« seiner Anhänger.
Jesus aber antwortete und sprach: O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch dulden? Bringt ihn mir her. / Und Jesus bedrohte ihn; und der böse Geist fuhr aus von ihm, und der Knabe ward gesund zu derselben Stunde. / Da traten zu ihm seine Jünger besonders und sprachen: Warum konnten wir ihn nicht austreiben? / Er aber sprach zu ihnen: Um eures Kleinglaubens willen. Denn ich sage euch wahrlich: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin!, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein. (Matthäus, Mt 17, 17-20)
Doch 1500 Jahre nach Christus widerspricht ein simpler Wunderglaube der menschlichen Erfahrung – auch der Gläubigen. Martin Buber schreibt in einem Aufsatz von den »Zwei Glaubensweisen«, dass ein Glaube an die wundermächtige Kraft des Glaubens ein offenkundiger Widersinn ist.
Ich glaube, dass ich diesen heilen kann’, besagt eben eine innere Gewissheit, wie jedes mit ‘dass’ konstruierte ‘Glauben’. Dass diese Gewissheit genüge, um das ‘Vermögen’ (zum Heilungswunder) hervorzubringen, geht gegen die Erfahrung des Menschengeschlechts. (Martin Buber, Zwei Glaubensweisen)
Meines Erachtens zeigt dieses letzte Gemälde von Raffael ebenfalls eine kritische Auseinandersetzung mit den Themen Glaube und Kraft zur Heilung. Er deutet darin einen Wandel in der Beziehung zwischen den Mitmenschen und dem kranken Jungen an.
Raffael führt uns als Betrachter des biblischen Geschehens auf unsere Situation im Jetzt zurück, in der Jesus nicht mehr persönlich heilend eingreifen wird.
Sinn und Sinnlichkeit
Es wird nicht bloßer Wunderglaube dargestellt, sondern eine komplexe Beziehung entwickelt zwischen dem Kognitiv-Rationalen und dem Emotional-Sinnlichen. Das therapeutisch Erreichbare wird als Verbindung dieser beiden Pole vorgestellt. Daher sind in der vordersten Bildebene die rationale, die Schriften nutzende Gelehrtenfigur und die emotionale, das Sinnliche verkörpernde Frauenfigur – vielleicht eine Sybillengestalt – angeordnet.
Im Bild stehen sich eine Gruppe bestürzter fragender Menschen mit dem kranken Jungen auf der rechten Seite und die christlichen Jünger, oder besser, die »Analytiker« und potenziellen Helfer, auf der linken Bildhälfte gegenüber. Getrennt werden die Gruppen durch eine diagonale Schneise.
Das Buch links unten verweist auf das systematische Studium. Der Apostel Matthäus hält es und sein Blick ist, vermittelt durch die Frau im Vordergrund, direkt auf den epileptischen Jungen gerichtet. Seine linke Hand deutet zugleich Nachdenken und die Geste des heilenden Handauflegens an. Er verkörpert das rational-kognitive Moment. Direkt unterhalb des Buchs leuchtet die Reflektion des Mondlichts.
Die zentrale Frauenfigur in der Bildmitte kniet genau zwischen den beiden Gruppen. Sie wird als Sibyllenfigur gedeutet. Sie verkörpert das Emotional-Sinnliche. Das Weibliche wird mit blassen Farben mit dem Licht des Mondes verbunden. Sie blickt den Mann mit dem Buch direkt an. Die Figur verbindet Sinnlichkeit und Rationalität als Therapiekonzepte.
Der sehende Knabe
Der Einzige, der mit einem Auge eine direkte Blickbeziehung zur Christusgestalt im oberen Teil des Bildes herstellt, ist der »sehende Knabe«. Auch die Spreizung der Finger seiner linken Hand entspricht der Fingerspreizung der linken Hand des verklärten Jesus.
Zwei Männer aus der jeweiligen Gruppe und der Kranke unterstreichen gestisch den Zusammenhang zum oberen Teil des Bildes durch ihre ausgestreckten Arme. Einer weist auf den entrückten kranken Knaben, einer auf den entrückten Christus.
Die »göttliche Krankheit«.
Dostojewski, der an einer bestimmten Form der Epilepsie litt, beschrieb die unheimlichen Glücksgefühle, die mit einem Anfall einhergehen können.
Das Bild dieses epilepsiekranken Jungen ist vielleicht paradigmatisch für die Zeit der Renaissance. Die Menschen beginnen, sich wieder systematisch mit den Dingen hinter der vordergründig sichtbaren Welt zu beschäftigen. Es ist die Wiedergeburt des menschlichen Forscherdrangs, der nun in der Gesellschaft wieder Wertschätzung und Anerkennung findet.
Daneben betont Raffael jedoch die Befreiung auch der Sinnlichkeit. Heilung ist nicht allein im Studium der Schriften zu finden. Das Wunder am Berg Tabor ist die Spontanheilung des Knaben. Diese geschieht allein durch Christus als Person. Bei Raffael bleiben den blau gewandeten und so auf Christus unmittelbar bezogenen Gestalten andere Möglichkeiten: Die schriftliche, männlich strukturierende Rationalität des Studiums, die Kraft der sibyllinischen weiblichen Intuition und die heilende Kraft eines rückbindenden Glaubens.
Die Renaissance ist die Wiedergeburt des Humanismus. Persönlichkeiten wie Galileo Galilei, Leonardo da Vinci, Pietro Bembo, Andreas Vesalius, die Philosophen Giordano Bruno oder Erasmus von Rotterdam, der Arzt Paracelsus tragen auf verschiedenen Wissensgebieten zu einer schnellen Vertiefung der Vorstellung vom Menschen und seinen Beziehungen zur Natur und der Welt bei. Raffael verbindet mit seinem Bild drei Pole: Rationalität, Emotionalität und Glaube.
Zur Bedeutung von Raffael
In seinem Spätwerk gelingt es Raffael, Gebärden und Gesichtsausdrücke seiner Figuren geradezu wie in einem Comicstrip zu präsentieren. Seine Bilder erzählen Situationen im Arrangement miteinander interagierender Figuren. Gerade diese Fähigkeit zu einem sprechenden Arrangement begeistert die Betrachter seiner Werke.
Raffael hat menschliche Affekte in bildliche Posen gegossen. Er löst das Bild aus der Tradition der Ikonenmalerei. Mit Raffael wird das Gemälde wieder zum persönlichen Werk des Künstlers – das bedeutet die Wiedergeburt der Kunst.
Als Raffael 1520 stirbt, wird sein letztes Bild »Die Verklärung Christi« hinter seinem Sarg aufgestellt. Der Maler wird im Pantheon bestattet, die Inschrift von Pietro Bembo auf der Grabplatte lautet: »Ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci, rerum magna parens et moriente mori.« Die Natur besiegen und mit dem eigenen Tod sie ins eigene Grab mitzunehmen – ein großartig formulierter Anspruch des Renaissancemenschen.
In der Alten Pinakothek in München, deren Grundstein am 7. April 1826 gelegt wurde, ist eins von Raffaels Hauptwerken zu sehen.
Der 7. April ist der vermutete Tag von Raffaels Geburt.
Filmen im Vatikan
Im Vatikan in Rom hatten wir die einmalige Gelegenheit, die Restaurierung der Stanzen von Raffael filmen zu dürfen. Der Kunsthistoriker und spätere Direktor der Vatikanischen Museeen Arnold Nesselrath leitete die Restaurierung.
In einem vergleichsweise aufwändigen Verfahren war es mir gelungen, eine Drehgenehmigung für die Vatikanischen Museen, die Stanzen und für die Sixtinische Kapelle zu erhalten. Als wir morgens in Rom an der Pforte zu den Museen anklopften, wurde uns jedoch von einer Pressesprecherin des Vatikans beschieden, dass wir »heute« nicht drehen dürften. Ein Schweizergardist mit Hellebarde verlieh dem absurden Theater Autorität.
Hintergrund war die Intrige eines Konkurrenten von Arnold Nesselrath um den damals vakanten Direktoratsposten der Museen. Wir mussten tatsächlich unverrichteter Dinge aus Rom abziehen.
Eine teure Blamage. Das ganze Filmprojekt drohte zu scheitern.
Durch die Vermittlung des deutschen Botschafters am Heiligen Stuhl, Jürgen Oesterhelt, gelang es mir dann mit Hilfe des Kollegen Michael Mandlik vom römischen ARD Studio, die weiterhin gültige Dreherlaubnis 4 Wochen später doch noch wahrnehmen zu dürfen. Also wieder in die Autos und von München nach Rom.
Nun lief alles problemlos.
Professor Nesselrath erzählt im Film über die Restaurierungsarbeiten. Wir konnten unvergleichliche Stunden in den schönsten Räumen des Vatikan und in den wunderschönen Gärten verbringen.
Wer jemals diesen Bereich ohne Touristen erleben konnte, der hat ein Stück des Paradieses gesehen. Oder einen Vorgeschmack des Himmels genießen dürfen.
Für immer Jung – Raffael oder die Wiedergeburt der Kunst
Dokumentarfilm über Leben und Werk des Renaissancekünstlers Raffael.
Produktion: Bayerischer Rundfunk © BR 1999
Buch und Regie: Stephan Bleek
Kamera: Hermann Reichmann
Ton: Andreas Weiss
Schnitt: Katharina Sanders
Redaktion: Günther Bergmann
Sprecher: Gert Heidenreich
Tonmischung: Dieter Kühl
Digital bearbeitete Kopie HD1080: © Stephan Bleek 2020
Ron schreibt
Goethe, Italienische Reise:
„Doch hierüber vereinigte man sich ebensowenig als über das herrliche Bild der Transfiguration, welches man in dem zunächst gelegenen Kloster gleich darauf anzustaunen Gelegenheit fand. Da war denn des Redens viel; der stillere Teil jedoch ärgerte sich, den alten Tadel von doppelter Handlung wiederholt zu sehen. Es ist aber nicht anders in der Welt, als daß eine wertlose Münze neben einer gehaltigen auch immer eine gewisse Art von Kurs behält, besonders da, wo man in der Kürze aus einem Handel zu scheiden und ohne viel Überlegung und Zaudern gewisse Differenzen auszugleichen gedenkt. Wundersam bleibt es indes immer, daß man an der großen Einheit einer solchen Konzeption jemals hat mäkeln dürfen. In Abwesenheit des Herren stellen trostlose Eltern einen besessenen Knaben den Jüngern des Heiligen dar; sie mögen schon Versuche gemacht haben, den Geist zu bannen; man hat sogar ein Buch aufgeschlagen, um zu forschen, ob nicht etwa eine überlieferte Formel gegen dieses Übel wirksam könne gefunden werden; aber vergebens. In diesem Augenblick erscheint der einzig Kräftige, und zwar verklärt, anerkannt von seinen großen Vorfahren, eilig deutet man hinauf nach solcher Vision als der einzigen Quelle des Heils. Wie will man nun das Obere und Untere trennen? Beides ist eins: unten das Leidende, Bedürftige, oben das Wirksame, Hülfreiche, beides aufeinander sich beziehend, ineinander einwirkend. Läßt sich denn, um den Sinn auf eine andere Weise auszusprechen, ein ideeller Bezug aufs Wirkliche von diesem lostrennen?
Die Gleichgesinnten bestärkten sich auch diesmal in ihrer Überzeugung; »Raffael«, sagten sie zueinander, »zeichnete sich eben durch die Richtigkeit des Denkens aus, und der gottbegabte Mann, den man eben hieran durchaus erkennt, soll in der Blüte seines Lebens falsch gedacht, falsch gehandelt haben? Nein! er hat wie die Natur jederzeit recht, und gerade da am gründlichsten, wo wir sie am wenigsten begreifen.«“
Anne Bauer schreibt
Toller Beitrag, lieber Stephan, superschöner Film und ein spannender Blick hinter die Kulissen. Vielen Dank dafür!!!