Flügel ausbreiten, im Land biblischer Zeiten! Das weckt Mythen und Legenden. Da ist der Drachenkönig Azdahak, der das schwarze Wasser am Gipfel des Ararat in die Täler gießt, und Christus, der als Schmied dem Guten zum Sieg verhilft.
Zwei Seiten einer Medaille
Ich stehe vor den Mauern von Chor Virap, und es ist als würde ich in eine mir unbekannte Vergangenheit fliegen.
Wir haben Ende Mai.
Aus meiner Heimat und von anderen Orten her kenne ich die Verschlossenheit von Burgen und deren dunkle Kellerverliese. Doch hier ist es auf merkwürdige Weise anders. Selbst die fensterlosen Räume sind unerwartet hell, und die dicken Mauern wirken erstaunlich lebendig. Allerdings sprechen sie eine Sprache, deren Sinn ich nicht verstehe. Ihr lautmalerischer Anblick weckt sonderbare Gefühle. Die Einkerbungen auf der rauen Oberfläche erzählen von etwas sehr Altem, etwas Kryptischem der Genesis, sie reden vom Werdegang der Menschheit und verraten hell klingende Überzeugungen eines tief verwurzelten Glaubens.
Einmal so und einmal so sprechen sie vom höchsten Glück und im selben Atemzug von schrecklichen Bedrohungen und mörderischen Angriffen. Zwei Seiten einer Medaille. Auf der einen blüht die Liebe zum Leben, auf der anderen formiert sich die Abwehr des Unrechts. Auf diese Weise bilden sich bei den Menschen, so vermute ich, tiefgründige Haltungen. Sie münden in eine Art Unerschütterlichkeit der Seele, die man in jedem Kontakt spürt. Das Gemüt kommt ohne Melancholie aus, ohne Sentimentalität und Weinerlichkeit und ist mit dem, in vielen, weiter östlicheren Kulturen vorhandenen Wesenszug einer inneren Ruhe verwandt, mit einem besonderen Gleichmut, der durch nichts zu erschüttern wäre.
Das Herz des Heiligen Georg
Die Steine Armeniens sind Ausdruck dessen und sie bilden das Herz des Propheten, des Heiligen Georg. Sie künden von der Standhaftigkeit christlicher Werte, denen nichts Äußeres je etwas anhaben konnte, auch erst recht nicht in der Gegenwart, außer wenn es sich um eine Art von Selbstverrat handeln würde. Davon jedoch sind die Menschen weit entfernt. Der Funke eines Gedankens an ein solches Szenarium wäre für armenische Seelen undenkbar.
Bei Chor Virap wurde der Heilige Georg wegen seines Glaubens fünfzehn Jahre in ein Loch gesteckt. Er überlebte, da er den schwerkranken König heilen und ihn vom neuen Glauben überzeugen konnte. Auf diese Weise kam es zur ersten Verbreitung des Christentums in der Geschichte. Und das war im Jahr 301.
Das Wahrzeichen Armeniens
Ein Taxisfahrer hat mich von Jerevan hierhergebracht und er hat mir auf der Fahrt viel erzählt. Das Meiste war vom Stolz auf seine Heimat getragen. Und deutet in die Ferne. „Dort drüben auf dem Ararat ist Noah mit seiner Arche gelandet, um das Leben und dessen Vielfalt auf der Erde zu retten.“ Und dann fährt er in gutem Deutsch fort: „Der Heilige Berg ist unser Wahrzeichen, 5165 m hoch. Er liegt jetzt zwar auf türkischem Gebiet, doch der Ararat gehört uns, auch wenn kein Einheimischer ihn von hier aus besteigen könnte ohne im Gefängnis zu landen.“ Nach seiner Rede prüfen mich die dunkel glänzenden Augen des jungen Mannes. Er will wissen, wessen Geisteskind sein Fahrgast ist. Ich aber möchte nicht irgendwie nur reagieren, mit Kopfschütteln oder Schulterheben. Darum schaue ich nur kommentarlos in die Richtung des eindrucksvollen Bergriesen. Sein Gipfel ist von Wolken weiß umhangen, die Schnee sein könnten.
Oder ist es umgekehrt, dass allein der Schnee den Berg verhüllt?
Ihm zu Füßen jedenfalls liegt ein weites, flaches Land. Es bildet ein Szenarium, das aussieht, als wolle es den Koloss jeden Moment nach Osten ziehen. Doch das täuscht, denn in Wirklichkeit ist alles anders. In Wirklichkeit bleibt der Berg, wo er ist, auch wenn seine Ausläufer den Eindruck erwecken, er würde mit dem Frühling wandern und seine grünen Boten mit sanftem Schwung in die belebte Stadt beordern.
Das Kloster Geghard dessen Steine den Feinden trotzen
Der Taxisfahrer ist nebenbei auch Steinmetz. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, stellt er in seiner Werkstatt in Jerevan Kreuzsteine her, ähnlich denen, die die Wege zu den Klöstern säumen. „Der Meißel trifft nicht auf den Stein, seine Gestalt kommt von innen.“ Das könnte dort geschrieben sein. Doch dieser Punkt der Kunst der Formgebung der Steine ist nicht das Eigentliche. Es ist vielmehr der, aus einer anderen Welt stammende, ihn verzierende Geist.
Das spektakulärste Kloster ist Geghard, ein besonders beliebter Ort, an dem sich Paare gerne das Jawort geben. Seine Mauern sind direkt mit dem Berg verwachsen. Sie tragen Zeugnis von der Festigkeit des Glaubens: Nie in der Geschichte konnten die bernsteinfarben strahlenden Burgen ganz niedergerissen werden, obwohl man sie gerne mehrmals zu Staub zerrieben hätte.
„Die Steine trotzen den Feinden. Wir Armenier sind wie sie, auch wir werden in Zukunft auf diesem Boden gehen und stehen“, meint der Fahrer und reicht mir eine Tasse Cappuccino vom Kiosk neben dem Tor. Danach gehe ich ohne seine Begleitung etwas umher, um alles ohne seinen Kommentar auf mich wirken zu lassen.
Armenien ist übersät mit Klöstern ähnlichen Aussehens. Sie sind massiv im Boden verankert, liegen nicht weit von der Hauptstadt weg und sind daher als Ausflugsziele am Wochenende besonders bei Familien beliebt. Manche Anlagen sind nur noch Ruinen, andere gut erhalten. Einige stehen wie Monolithe im freien Feld, wieder andere kleben wie Waben an Felsen. Alle jedoch sind von einer geradezu unendlichen Ferne umgeben, die bei freiem Blick dem Auge den Horizont versteckt. Dazwischen befinden sich aber immer kleine Ortschaften, deren Dächer in der Sonne glänzen. Der Weg zu ihnen führt entlang zahlreicher Kreuzsteine. Manche sind mit Früchten und Pflanzenornamenten um die Schrift herum drapiert. Sie beschützen das Land.
„Kehrt den Heiden den Rücken!“, sagen sie.
Mit dem Blick auf den Berg der Berge geht es zurück nach Jerewan, der ältesten Stadt der Welt. In meinem Zimmer kehren die Worte des Taxifahrers wieder und auch die Bilder.
Romeo und Julia
Am nächsten Tag steht ein anderes Muss auf dem Plan: Das Kloster Sewanawank am Savansee. Es liegt liegt verträumt auf einer Anhöhe. Vor den Mauern aber ist viel los. Eine Schulklasse hat sich im Freien versammelt, um ein Theaterstück aufzuführen: Romeo und Julia in den Zeiten von Maria und Josef.
Hinter der Bühne des Lebens breiten sich Wiesen aus, überzogen mit schwarzrotem Mohn, genau 2019 Blüten. Sie vereinen Lebenslust und Trauer gleichermaßen in sich, wie es eben in der Liebe der Fall ist.
Unterwegs in der Stadt Jerevan
In Jerevan gehe ich allein durch die Stadt, den Hang hinauf, an den Kaskaden und den besonderen Exponaten zeitgenössischer Kunst entlang über schier unendlich viele Treppen. Oben befindet sich das Mahnmal des Landes.
Danach geht es durch einen Vergnügungspark und von dort zu einem Platz, auf der die Mutter Georgiens aufrecht steht, umgeben von Waffen aus der Sowjetzeit. Die Raketen zu ihren Füßen sollen den Feind abschrecken, aus welcher Richtung auch immer. Mit dem Schwert in der Hand könnte die Mutter strengen Blickes laut zu den Leuten rufen, so dass es alle hören, die neben dem Panzer und dem Jagdflugzeug zu ihren Füßen nach oben schauen: „Niemand wird mich jemals in die Knie zwingen.“ Das klingt sehr heftig, doch danach fügt sie ganz ruhig hinzu: „Es ist genug geschehen.“
Die Mutter Armeniens
Ich höre es und denke mir, auch das käme von ihr: „Wer sich angesichts dessen, dass wir überlebt haben, uns gegenüber tolerant gibt, dem gegenüber sind wir es auch. Ich, eure Mutter, sage wie es ist: Im Laufe der Geschichte haben viele Interessen an unserem Volk genagt, um es verschwinden zu lassen, aber das soll für immer Geschichte sein. Auch ich war einst ein Kind dieser Kinder und der Kinder von jetzt, die auf den Schultern ihrer Väter getragen und von der Obhut der Mütter beschützt den Stolz eingeimpft bekamen, der genau das macht, was modern ‚Identität‘ heißt.“
Und weiter sagt sie: „Das ist heute nicht anders, vor allem nicht für jene von uns, die auf der ganzen Welt verstreut leben. In vielen Zimmern dieser Welt stehe ich als Postkarte und ich weiß: im Exil haben wir dieselben Träume, und ich weiß, es werden alle zu mir hierher zurückkehren, weil nur in unserem Land unser Glück auf uns wartet, weil nur in unserem Land unser Weg erfüllt ist.“
Auch ich, als ich das höre, schaue fragend nach oben, aber ich sage nichts dagegen, denn ich weiß, dass es doch eigentlich auf der Hand liegt, dass es immer die persönlichen Erfahrungen in der jeweiligen Heimat sind, meist die bitteren von Betroffenen, die den stolzen Kern des Zusammenhalts im Herzen schaffen. Das ist überall so. Nur glaube ich, in Armenien geschieht die Bewältigung der Geschichte auf eine ganz eigene Weise und über geheime Kräfte, die ich persönlich nicht kenne. Ich weiß nur, sage ich mir, wenn ich durch die Stadt gehe, dass das Bild von der Welt hier vor allem vom religiösen Zusammensein in der Familie geprägt ist. Der Glaube musste in allen Zeiten verteidigt werden.
Zeitgenössische Kunst als Kontrast
Ich glaube auch, das Gefühl der Zugehörigkeit entsteht in Armenien in besonderem Maße über das Erbe aus den Klöstern, die über das Land verstreut die Knotenpunkte eines umspannenden Netzes sind. Umso interessanter ist dem gegenüber die zeitgenössische Kunst auf den Plätzen und auch die in diversen Galerien in ihrem Versuch, auf die Gefahren politischer Verblendungen eines Bewusstseins hinzuweisen, das sich zu sehr dem Gedanken eines sich abschottenden nationalen Zusammenhalts zuwendet. Die Folgen einer zu starken Klammerung an das Eigene, werden dadurch, so hoffe ich, auch hier verhindert.
Doch wenn das, was der Filmemacher und Künstler Sergei Parajanov und auch andere stellvertretend gemacht haben, zur Sprache kommt, leuchten jedenfalls die Augen der Betrachter. Dadaistische Kunst, die Ketten sprengt, entfacht das innere Feuer einer Sehnsucht nach Frieden. Die ideologiekritische Botschaft dahinter scheint anzukommen.
Der Tipp einer Schriftstellerin mit ihrem Sohn, der in Hamburg studiert hat, führt mich in das private Museum. Das ist der Vorteil der darstellenden Kunst: Sie ist sprachübergreifend verständlich und bedarf keiner Übersetzung.
Nicht zu vergessen aber ist die Literatur des Landes. Sie will einfangen, was gerade ist und was gewesen ist, was nie mehr sein darf oder was endlich so sein müsste, und sie ist wohl in ihrer Präsenz immer noch mächtiger als Oberflächliches und Alltägliches.
Die Menschen erinnern sich, dass es eine Zeit gab, in der es hieß, wenn ihr all eure Bücher verbrennt, verschonen wir euch. Letztendlich aber waren den Armenierinnen und Armeniern die Bücher wichtiger.
Eines jedoch ist besonders: Die historische Erfahrung, immer stark sein zu müssen, immer gezwungen zu sein, viele Talente einzusetzen, damit das Land bestehen konnte.
Orientierung finden
„Obwohl viele von uns weit voneinander weg leben, würden wir uns überall auch in der finstersten Nacht erkennen“, würde die Mutter Armeniens sagen, „weil wir auf der ganzen Welt mit Sprache umzugehen gelernt haben und auch mit der Wissenschaft, mit der Musik und der Architektur. Und wir sind, obgleich verstreut, ein ganzes Volk.“
Ich denke, während ich im Park sitze und auf die Oper schaue, dass die Mutter Armeniens recht hat. Diese transkulturelle Tatsache ist zwar in anderen Völkern auch gegeben, aber hier ist die Sprache, deren wunderbar geformte Schrift, deren verzwickte Laute und alle Güter darum herum, ein ganz einzigartiges Merkmal, das zu diesem Kulturzusammenhalt beiträgt.
„Wir brauchen diesbezüglich keine zusätzliche Orientierung“, höre ich die Mutter reden. „Wir haben unsere Mythen, Märchen und Legenden, die uns sagen: Die Arche ist zielsicher gelandet.“
Nebenbei: Das mit der Orientierung stimmt auf jeden Fall. Selbst im öffentlichen Leben sind etwa Hinweisschilder eher selten. Dafür gibt es immer jemanden, der dir freundlich den Weg zeigt. Außerdem sind in Jerevan die großen Alleen um das Zentrum herum kreisförmig angelegt. Daher findet man so oder so wieder an den Punkt des Ausgangs zurück, dem Platz der Republik (s. großes Foto oben).
Musik erklingt
So könnte dieses Mädchen sprechen: „Als ich klein war, hat mein Vater mir alles gezeigt. Er hat mich auf seinen Schultern durch das Land getragen. Von dort aus konnte ich alles gut sehen, ich konnte vom Kloster aus auf den See schauen. Nur war damals noch kein Maler dort, auch kein Restaurant, das Fische des Sees anbietet. Und keine Touristenbuden. Es gab nur einen schmalen Pfad, der sich den Hang um die Kirche entlang vorbei nach oben schlängelte. Gleichgeblieben aber ist, dass einst wie heute der Wind mein Gesicht mit milder Hand streift und dann Musik erklingt.“
Arno Babajanians sanfte Töne seiner Nocturne von Pianisten gespielt, sind neben Chatchaturjans Orchesterwerk ‚Spartacus‘, voller weltweit beliebter Melodien. Dazu tanzt das Ballettensemble der Stadt vor märchenhaften Kulissen, während die große Bibliothek, Matenadaran, und in ihr die alten Schriften sich zur Ruhe begeben.
Von dort aus ist der Blick über das Opernhaus bis zum Ararat am schönsten. Eine Riesenskulptur vor dem Eingang schaut – so steht es in meinem Reiseführer – den Berg „wehmütig“ an. Bei den ersten Tönen der Musik werden die großen Tore geschlossen. Doch morgen sind sie wieder geöffnet.
Nach der Kultur schmeckt am Abend ein besonderes Bier. Der erste Schluck ist schnell weg. „Und getanzt wird auch. Wie bei unseren Verwandten in Buenos Aires“, sagt mein Tischnachbar.
Und während sich die Welt dreht, freuen sich die Kinder auf dem Vergnügungspark zwischen den Denkmälern und den futuristischen Gebäuden, in den bunten Fahrzeugen, und lassen sich von fantastischen Gestalten in den Märchenwald entführen.
Was sagen Sie dazu?