Es war zu der Zeit, als wir noch jeden Sommer mit dem Auto in den Urlaub fuhren. Den Zug benützten wir nur selten. Wir hatten damals einen großen, gelben VW-Passat Kombi mit einem riesigen Kofferraum, praktisch für das viele Gepäck mit zwei Kindern.
Zwar stank der Autoteppich in diesem Sommer 1983 wochenlang nach alter verschütteter Milch, aber bei offenen Fenstern konnte man es aushalten. Der »Duft« hing mit unserer anfänglichen »Steinebach’schen Landromantik« zusammen, denn mit ein paar Nachbarn zusammen holten wir die Milch mit der Milchkanne beim Bauern (mit dem Auto!). Es gab damals noch einige Bauern im Dorf, die uns die frische Milch wie in alten Zeiten aus einem großen Bottich in die Kanne schöpften. Und einmal war die Kanne eben im Auto umgekippt.
Wir fuhren in die Normandie
In diesem Sommer wollten wir in die Normandie fahren, in ein Ferienhaus in Theuville ›› , das uns Freunde für drei Wochen zur Verfügung gestellt hatten.
Die Fahrt dorthin mit unserer Tochter und ihrer Freundin verlief problemlos, das entspannte Fahren auf den französischen Autobahnen fanden wir wunderbar, an die Kreisverkehre, die es bei uns kaum gab, gewöhnten wir uns.
In dieser kleinen Gemeinde nahe am Meer genossen wir die wilde Landschaft, den Atlantik mit seinen hohen Wellen, die steilen Klippen, die alten Schlösser mit ihren Parkanlagen. Wir entdeckten ein halb verfallenes Haus, das vollkommen von Efeu überwuchert war. Den riesigen schwarzen Hausschlüssel nahmen wir als Souvenir mit, er erinnerte mich an unseren Hausschlüssel im Eichstätter Pfarrhaus ›.
Nach ein paar Tagen holten wir unseren Sohn in Dieppe am Fährhafen ab, wo er nach einem Sprachkurs in England ziemlich bleich und mager ankam. Er hatte dort fast nur labbrigenToast mit Margarine zu essen bekommen.
Das erste Mal in Paris …
Wir machten viele Ausflüge in die malerischen kleinen Städtchen ringsumher, aber wir wollten auch nach Paris. Von der nahe gelegenen Stadt Yvetot aus konnte man in knapp zwei Stunden bequem mit dem Zug in die Hauptstadt fahren.
Das erste Mal in Paris! Ein erhebendes Gefühl!
Wir kamen auf dem Bahnhof Saint-Lazare an und schlenderten als Erstes auf den Montmartre. Dort saßen unzählige Porträtmaler auf der Straße. Wir ließen die Kinder auch porträtieren, die Ergebnisse jedoch waren so kitschig, dass wir die Bilder nie aufhängen wollten.
Es ging weiter zur Seine, zu Notre Dame, in Kaufhäuser… die Zeit verrann schnell.
Um circa 18 Uhr sollte ein Zug zurück gehen. Schnell zum Bahnhof, die Füße taten mir schon weh.
Auf Bahnsteig 5 stand der Zug nach Yvetot, wir hatten noch fünfzehn Minuten Zeit. »Steigt ihr schon mal ein«, sagte ich zu Helmut und den Kindern, »ich hole uns noch ein paar Baguettes am Kiosk. Bahnsteig 5 muss ich mir merken.«
Die Schlange am Kiosk war lang, nervös stieg ich von einem Bein aufs andere.
Endlich bekam ich meine belegten Baguettes. Nur noch ein paar Minuten!
Der Zug war völlig leer!
Ich rannte zum Bahnsteig 5. Ich las »Yvetot« auf dem Schild. »Aha, hier ist der Zug«, dachte ich und stieg ein. Sofort fuhr er los. »Warum ist der so leer?« Ich schaute mich um und wurde immer nervöser. Mein Blutdruck stieg, mein Herz raste: Alles leer! Wie konnte das sein?
Als ich aufgeregt einige menschenleere Waggons durchquert hatte, erschienen auf einmal riesige rotierende Bürsten an den Fenstern. Sie näherten sich den Scheiben, es brauste und schäumte.
Ich kam mir vor wie in einem Science Fiction-Film – und zwar im absolut falschen.
Aber der Zug war nur in einer Waschanlage und ich als einzige Passagierin mittendrin!
Mein Leben war gerettet
Endlich blieb er stehen. Ich drückte mit aller Kraft einen der altmodischen Türgriffe hinunter und sprang raus.
»Interdit! Interdit!« schrie ein Bahnarbeiter. Ich schrie zurück: »Train faux! Train faux!«
Er merkte wohl schnell, dass ich sehr nervös war und keinen Anschlag auf seinen Zug vorhatte, und er erklärte mir, dass sie bald wieder zurück in den Bahnhof fahren würden. Irgendwie verstand ich das mit meinen schwachen Französischkenntnissen, stieg wieder ein und ließ mich auf einen Sitz plumpsen.
Mein Leben war zwar gerettet, aber was war mit den anderen?
Der richtige Zug musste ja schon längst über alle Berge sein. Und sie würden sich Sorgen machen, weil ich nicht gekommen war. Und sie würden Hunger haben!
Zurück in Saint-Lazare
Schließlich war ich wieder in Saint-Lazare. Ich kaufte mir ein winziges Französisch-Lexikon, legte mir einige Sätze zurecht und suchte einen Schalter. Eine Fahrkarte hatte ich auch nicht, die war bei Helmut. Irgendwann verstand der Beamte mein aufgeregtes Gestammle, er gab mir eine kostenlose Ersatzfahrkarte für den nächsten Zug, der in zwei Stunden fahren sollte, und er versprach mir, in Yvetot bei der Ankunft des richtigen Zuges eine Durchsage machen zu lassen.
Handys gab es ja noch nicht, dafür aber zum Glück sehr nette französische Bahnbeamte.
Allmählich entspannte ich mich, setzte mich auf eine Bank und blätterte in dem kleinen Lexikon. Es wurde langsam dunkel, schließlich öffneten sich die Türen des jetzt richtigen, gut gewaschenen Zugs.
»Madame Müschenthalér arrive à dix heures.«
Als ich endlich in Yvetot ankam, sprang ich erleichtert auf den Bahnsteig. In der Ferne entdeckte ich meine Familie. Nach stürmischer Begrüßung erzählten sie mir, was sie aus dem Lautsprecher gehört hatten:
»Madame Müschenthalér arrive à dix heures.«
Sie hatten schon im Bahnhofsrestaurant gegessen. Zum Frühstück gab es dann den Reiseproviant, der Schuld an dem ganzen Desaster gewesen war. Oder war meine Gefräßigkeit die Ursache?
Etwas Gutes hatte die ganze Sache: Bis heute habe ich die Geschichte unzählige Male erzählt, jedes Mal erntete ich großes Gelächter.
Und wer war schon mal mit dem Zug in der Waschanlage? Das muss mir erst einmal jemand nachmachen!
Was sagen Sie dazu?