Kangei
Dass du mit Neugierde gekommen bist, freut mich.
Ich, dessen Stimme du hörst, bin Torii, das rote Tor vor dem Itsukushima-Schrein auf der Insel Miyajima in der Nähe von Hiroschima. Was ich bin, ist das, was ich verkörpere: die Idee der Struktur. In mir wohnt die unzerstörbare Kraft der ewigen Ordnung.
Das Besondere an mir selbst aber ist: Ich bin keine Inszenierung.
In mir vereint sind die zwei Quellen: Raum und Zeit. Gemeinsam bilden sie das Kontinuum in deiner Wahrnehmung.
Aber mehr noch: Im Diesseits sind meine Kräfte an das Einfache und an das Vielfältige gebunden und im Jenseits an den Geist der Schöpfung und der reinen Konstruktion der Sinne. Wenn es mich nicht gäbe, würde die Wahrnehmung den Boden verlieren und achtlos über die Dinge huschen. Du könntest nichts wahrnehmen, nichts von dem einfangen, was ist. Vor allem aber es wäre unmöglich, der Schönheit zu begegnen, all überall.
Daher gib acht! Nur wenn mich deine Augen ganz langsam umkreisen, kannst du erkennen, wer ich bin: Bei Ebbe lassen sich die Muscheln des Meeres um mich herum sammeln. Bei Flut kannst du vom Ufer aus an meiner gleichförmigen Drehung teilhaben.
Gehst du im Gleichmaß mit dem Blick auf mich gerichtet an mir entlang, verwandle ich mich mit jedem Schritt. Aus der Fläche wird Tiefe. Und dann meinst du, ich würde mich ständig verändern, in Wirklichkeit aber stehe ich fest auf dem Boden. Die Bewegung entsteht nur in dir. Nur zum Schein tritt sie aus mir heraus, in Wirklichkeit jedoch geschieht dies alles, um dich zum Tempel zu führen, in welchem der Geist unserer Kultur über die Zeit hinweg lebt.
Aber lass mich dich, der du gerade mein Land mit den Augen deiner Kultur betrachtest und darüber reflektierst, auf den Wegen deiner Reise lenken.
Schau genau hin! Dort sitzen an den Tafeln Kamis, ehrwürdige Geister und Götter, und freuen sich über deinen Besuch im Diesseits. Einer von ihnen ist der einheimische Wind, er färbt das Holz der Tempel, er formt die Dächer und er flüstert dir die Riten ins Ohr. Ich stehe schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle, aber mein Wesen ist überall.
Die wichtigste Erkenntnis, die ich dir mitgeben möchte, ist die des Wesens der Ordnung in allem. Ohne Ordnung wäre alles amorph. Das Leben würde zerfließen, sich auflösen, haltlos in sich zusammenbrechen und eines Tages im Nichts verschwinden. Kälte und Wärme würden sich nicht spüren lassen, von den Gefühlen ganz zu schweigen. Sie könnten nicht zu jener tiefen Einheit gelangen, die ihnen gebührt. Das Dasein wäre ohne Orientierung, ohne einen Überblick und ein Ziel. Die Orientierung hätte nicht die notwendig gegebene, unzerstörbare Gliederung in sich, die sich als feiner Segen auf das Land niederlässt und durch Haut und Haar in die Poren der Seele seiner Bewohner dringt.
Getragen von diesen stillen Gedanken kann nun also deine Reise von der kleinen Insel Miyajima mit dem Berg Misen aus beginnen.
Doch zuvor schau noch einmal aus der Ferne auf das Spiel der Perspektive! Die Konstruktivisten aus aller Welt sind hellauf entzückt. Wollten sie herausfinden, aus welcher Konstruktionsidee wiederum die Konstruktion einer Irreführung der Wahrnehmung stammt, so wäre dies ein unlösbares Problem. Selbst die Annahme eines rein aus dem Musischen geborenen Zufalls würde dem streng rechtwinkeligen Aufbau nicht widersprechen. So bin ich dem Fremden ein Rätsel und bleibe für ihn lediglich der Begriff eines Weltwunders.
Tokyo
Gegenüber dem Hotel an der Yotsuja-Station befindet sich eine kleine Frühstücksbar. Wenn du zu morgendlicher Stunde dein Sandwich nur zur Hälfte essen kannst und den Rest mitnehmen möchtest, wird das akkurat geschnittene Toastbrot in eine Papiertüte gesteckt, genauer gesagt, wird es sorgfältig von großen Manga Augen zeremoniell verpackt. Das angebissene Stück kommt in den Genuss, von einer Art Seidenpapier liebevoll umhüllt zu werden, als wäre es ein Geschenk zu deinem Geburtstag. Das ist in meinem Land Tradition: Die Verpackung verwandelt alles in edle Objekte. Am Ende des Faltvorgangs verwandeln sich die Ecken der Tüte kunstvoll zu kleinen Origami-Kranichen, zu Drachen oder Schmetterlingen, die in den Tempelanlagen umherziehen.
Doch sieh nur! Jetzt ist das Kunstwerk vollbracht.
Das Paket der Mangafrau wechselt von einer tiefen Verbeugung begleitet die Seiten.
In meiner Religion steckt in dieser Geste die Innerlichkeit der verzögerten Zeit. Auch in der modernen, hektisch sich gebenden Welt von „Time and Money” ist die Konzentration auf den in sich ruhenden Pol des Tuns möglich, weil sich Tradition und Fortschritt nicht widersprechen.
Ist es nicht so, dass jeder Augenblick direkt in seiner Dichte in sich selbst ruht und dass seine Aufgabe im Leben ist, ihn zu dem zu machen, was er ist: zu einer immer wiederkehrenden Bewegung des Alten im Neuen, im wahren Sinn des Wortes?
Dem Kern des Augenblicks nahe schließt du die Augen, aber du bist hell wach und sehender denn je. Die Mangafrau, die das Sandwich verpackt, weiß darum. Sie lebt im Hier und Jetzt und nicht im Gestern oder Morgen. Freilich ist für sie, wie überall, die Vergangenheit etwas Unwiederbringliches. Dafür aber entwächst aus dem Augenblick das Gleichbleibende auf wunderbar mechanische Weise. Sie führt zur Wiederkehr des täglich Gleichen und sie steuert das Bewusstsein und füllt es mit dem Sinn des Lebenswerten.
Gestatte mir, etwas aus der philosophischen Schatzkammer zu vergleichen. Bei euch in Europa spielt die Tradition nicht die Rolle, die ich verkünde. In meinem Land ist die Tradition mehr als nur das Überkommene. Sie ist tief in uns verwurzelt und führt zur Leistungsfreude, bei der Mangafrau zur Sorgfalt beim Falten des Papiers, zur tiefen Verneigung bei der Übergabe. Diese Geschicklichkeit ist nicht nur über Disziplinierung erworben. So wie sie dich behandelt, macht sie es auch mit ihrem Freundeskreis. Sie würde sich ebenso verneigen, wenn sie zufällig ihrer früheren Schulfreundin auf der Straße begegnet. Also frage ich dich: Was schließt du daraus?
Richtig! Dem Vorgang wohnt nichts Devotes inne, er ist vielmehr der Ausdruck dankbarer Höflichkeit.
Männer und Frauen laufen in eine Richtung. Alle akkurat gekleidet. Die einen in weißen Hemden und schwarzen Hosen, andere in eleganten Kostümen. Manche erschreckt das Gleichmaß ihres Gangs. Sie sagen, das erinnere sie an Roboter. Aber das ist falsch. Diese Menschen hier geben dem Augenblick die Ordnung eines geregelten Ablaufes, der ihnen und anderen Sicherheit gibt. Also warum auch nur einen Gedanken an das Ungeordnete, das Abweichende, das Individuelle und Unregierbare verschwenden?
Nun aber sei es damit getan. Du bist soweit, selbstständig auch andere Orte zu erkunden.
さようなら Sayōnara
Kyoto
Die Stadt hat zwei Gesichter: atemberaubende moderne Architektur und prächtige Tempelanlagen mit Paradies-, Wandel-, Tee- und Trockengärten. Beide Hälfen zusammen sind homogene Teile eines globalen Puzzles. Der gigantische Bahnhof bietet mit jedem Schritt wechselnde bizarre Perspektiven der Stahl- und Glaskonstruktion. Die Parkanlagen laden zu philosophischen Spaziergängen ein, in denen unter Kirschbäumen, die in ihrer Blüte die Innerlichkeit allen Lebens preisen, sich die Harmonie regeneriert. Lyrik umhüllt den Saum ihrer Blätter soweit das Auge reicht. Die ist das beste Heilmittel gegen den Stress.
In der Stadt stehen in Eintracht shintoistische neben buddhistischen Kunstwerken. Sie stellen zwar verschiede Glaubensformen und Lebensweisen dar, gehören aber wie Ukiyoe, zu den Bildern metaphysisch ineinanderfließender Welten. Wie dieses Zusammensein zu den gewaltigen Monumenten der Moderne harmoniert, weiß nur der Zenmeister von Ryoan-ji, der im Steingarten täglich neu die Struktur des Kosmos in Verbindung von Himmel und Erde mit dem Rechen auf dem Steinfeld nachbildet und der öffentlichen Betrachtung freigibt. In der Mitte befindet sich der große Ozean, daneben der Fluss des Lebens, die Mauer des Zweifels und die Schildkröte, die gegen den Strom schwimmt.
Daneben, in einem kleinen Raum, wird die Kunst der Kalligraphie gelehrt. Selbst wenn man die Zeichen und ihre Symbolik nicht versteht, lässt es sich gedankenlos der Botschaft der Schriften nachgehen.
Hebst du den Kopf wird dein Blick auf eine Wanderschaft geschickt, von den Steinen hinüber zu den flammenden Pagoden, vom Rot, Weiß und Schwarz ineinander verzahnter Holzbalken zum goldenen Pavillon Rokuon-ji, der sich photogen im Teich spiegelt.
Im Higashi Honganitempel, in dessen Grünanlage die Blätter der Bäume mit kleinen Scheren handverlesen abgeschnitten werden, befinden sich 1000 Kopien einer Kannon-Statue. Die lebensgroßen Figuren strecken ihre Hände in alle Richtungen. Sie stehen in einer langen Reihe aufrecht neben- und hintereinander und lenken im Schulterschluss die Belange des Schicksals. Auch sie repräsentieren die Wiederkehr des ewig Gleichen. Wer länger als eine Minute unmittelbar vor ihnen steht, fühlt sich hypnotisiert.
So ergeht es auch mir. Von der Energie des Ortes fast betäubt lasse ich mich in der Ausgangshalle des Tempels nieder. An der Wand hängt das gerahmte Foto eines kleinen Kunstobjekts, ein Hund, auf dem ein Affe turnt neben einem Bonsai und einem Wasserrad. In Echt alles sicher nicht größer als einige Zentimeter. Die Kunst der Minimierung ist hier erfunden worden. Sie zeigt, dass zwischen dem Großen und dem Kleinen kein wesentlicher Unterschied besteht.
Es dauert nicht lange, da setzt sich zu meiner Überraschung ein kleiner Tanuki neben mich. Normalerweise sitzt er als Tonfigur am Eingang von Lokalen, um die Gäste zum Trinken zu animieren. Der Tanuki, sagen die Leute, ist ein unerhörter Possenreißer und Trunkenbold. Doch manche halten ihn auch für einen Schurken.
Als ich ihm genauer ins Gesicht schaue, glotzt er mir ärgerlich auf den Kopf und meint: „Soll ich dir den klassischen Witz für Deutsche erzählen, den vom Kuckuck in den Ampeln, der eines Tages einen Hai trifft?“ „Ja und?“ frage ich. „Der Kuckuck ruft ‚Kuckuck‘ und der Hai sagt ‚hai‘ zu ihm.“ „Bitte, was soll das!“ „Nur ein Beispiel für eine unangebrachte Übertragung.“ „Wie bitte?“
„Man muss hinzufügen, dass Japan sich in der Öffentlichkeit besonders für blinde Menschen einsetzt“, sagt er, während ich meinen Ohren nicht traue, weil der Kerl wie ein Lehrer spricht. „Auf allen Wegen in und außerhalb von Gebäuden und Häusern, an Geländern und Griffen gibt es Markierungen für die Füße und Hände in Blindenschrift. An den Ampeln sind darüber hinaus akustische Signale angebracht. Wenn ein Kuckuck aus dem Ampelkasten ruft, ist grün und wenn der Hai spricht rot.“ „Ist ja gut so, aber darf man denn hier im Tempel Witze machen?“ „Das ist ein buddhistischer Tempel“, sagt Tanuki trocken.
„Außerdem finde ich das Thema nicht besonders aufregend“, sage ich. „Erzähle mir lieber etwas von den Geishas, von denen es so viele in dieser Stadt gibt.“ Er zögert etwas und meint dann: „Aber nur, wenn du mir einen Sake spendierst.“
„Einen Sake?“ Okay. „Einen Sake“, rufe ich, „für diesen Igel da.“ „Pass bloß auf, dass dir nicht noch mehr Haare ausfallen,“ spricht Tanuki wütend und zeigt mir seine Fingernägel. „Man macht sich nicht über andere lustig.“ Der Tanuki sieht zwar aus wie ein Igel, hört das aber gar nicht gerne. Schließlich aber drückt er dann doch etwas mürrisch die Funkklingel am Tisch.
Bald darauf kniet sich eine junge Frau im Kimono vor uns auf den Boden und ruft mit nach oben gerichteter Stimme: „Hai?“. Wo bin ich denn jetzt?, denke ich. „Du bist in meiner Lieblingskneipe“, sagt Tanuki und grinst wieder. Er kann Gedanken lesen. „Heißer Reisschnaps. Für mich und den Herrn.“ „Hai“, sagt die Frau. „Sake. Hai“.
Sie hat alles verstanden. Nach den ‚Hais‘ bedient sie nämlich einen kleinen Funk-Laptop, ruft wieder „Hai“ und geht rückwärts weg. Kurz darauf kommt eine andere mit dem Sake samt zwei Tässchen. „Hai“. Sie trägt im Gegensatz zu ihrer Kollegin eine gelbgrüne Schleife am Rücken.
Geschickt gießt Tanuki mir und sich ein, hebt den Becher an den Mund und kippt den heißen Schnaps hinunter. „Du trinkst lieber kaltes Bier“, sagt er. „Sollen wir Bier bestellen?“ „Nein, nein,“, rufe ich, „nicht hier und nicht jetzt.“ Tanuki nimmt sich noch einen.
„Und was ist das mit der Geschichte der Geishas?“, frage ich vorsichtig, weil ich das Gespräch woandershin lenken will. Sein Mund wird dünn wie die Nadelspitze des neusten Shinkansenmodells, der als Nozomi Speedneedle-Super-Express gleicht losdüst.
„Komm näher“, sagt er, „das ist nichts für die Öffentlichkeit“. Dann flüstert er mir alles ins Ohr „Ach so“, sage ich, „ja du liebe Zeit. Nein so was. Ist das auch wahr?“ „Klar“, sagt er, „steht wörtlich in den berühmten Kopfkissengeschichten der Hofdame Sei Shonagon aus dem späten 10. Jahrhundert. Noch heftiger geht es in den Geschichten ihrer Rivalin Murasaki Shikibu aus dem frühen 11. Jahrhundert zu. Die heutigen Geishaonsen sind müdemachende Tümpel dagegen, sag ich dir, angesichts der Liebe und des Leidens des wunderbaren Prinzen Genij und seines Sohnes. Wirf ein Auge auf diese Rollbilder! Oder noch besser auf diesen Ukiyoe!“ Er hält mir den Holzschnitt vor Augen. „Oho“, sage ich, „Japan und die körperliche Nähe, eine sehr eigene Kombination.“
Dann bricht Tanuki plötzlich das Gespräch ab und senkt den Kopf. Feine Shamisenklänge ertönen, wie sie am Hof des mächtigen Shoguns Minamoto von Yoritomo zu hören waren, der in aufgeblähten Holzkleidern auf dem Boden sitzt. Drei Geishas aus dem 17. Jahrhundert laufen in kleinen Schritten an uns vorüber, genauer gesagt sind es Geikos, „Kinder der Künste“ wie man sie in Kyoto nennt. Am Ende läuft die Maiko, die Schülerin, als wäre sie die kleine Schwester. Der Vorgang geht so schnell, dass ich Schwierigkeit habe, dem zu folgen. Aber dann verstehe ich auch plötzlich das, was im Reiseführer angedeutet wird.
Eine Geiko lebt nur der Schönheit zuliebe. Sie macht sich zurecht für Japans Schönheitsideal, für das absolute Entzücken beim Anblick von makellos weißer Haut. Damit dient sie den Männern. Aber sie muss darüber hinaus auch noch – im Gegensatz zu jenen – klug und gebildet sein. Egal wie das gerade mit den Machtverhältnissen ist, eine Geiko lebt nur für die bewundernden Blicke und sie bleibt in ihrer Schönheit am Ende wohl auch so einsam wie eine Eintagsfliege. Sie stirbt am Abend, aber morgen vor Sonnenaufgang wird sie sich wieder stundenlang schminken, für einen neuen Tag. Und jetzt ist wieder ein neuer Tag und heute sehen sie aus der Nähe so aus.
Ich bin von der grazilen Ausstrahlung ziemlich überwältig, und es dauert eine Weile – denn sie kann in ihren Holzpantoffeln nicht schnell gehen – bis die Schöne um die Ecke gebogen ist, und da kommt mir eine merkwürdige Frage in den Sinn, hinter der sich eine Menge versteckt.
Aber was soll‘s, ich stelle sie ganz einfach Tanuki. „Was meinst du?“, frage ich. „Dürfte sich eine Geisha in einen Schwarzen verlieben?“
Keine Antwort. Tanuki ist plötzlich verschwunden. Während ich noch die Stimme der Geisha höre, hell und klar, ist der Kobold weg. Die Geisha jedoch läuft den Weg in ganz kleinen Schritten vom Tempel die Treppen hinunter, und ihre hohen Holzpantoffeln klappern im Gleichmaß. Märchenhaft erscheint sie mir wie eine Gestalt aus einem Epos und sie sagt „Dein Besuch ist angekündigt. Ich führe deine Reise fort! Und immer wieder werden wir im Augenblick verharren, weil nur der ewig ist.“
Auf dem Land
Die Zugverbindungen dort sind ebenso perfekt organisiert wie die zwischen den großen Städten. Der Zugführer in hellgrauer Uniform mit Mütze deutet mit seinen weißen Handschuhen vor jedem Signal in die Richtung, in die der Zug fahren wird. Vielleicht muss er das tun, damit seine Konzentration nicht nachlässt. Denn Sicherheit hat in Japan einen hohen Stellenwert, es sei denn eine Naturkatstrophe übermächtigen Ausmaßes schlägt mit derart gewaltiger Wucht gegen die Betonwände eines Kraftwerkes, dass es erneut zum Ausbruch von strahlender Energie käme. Das Unglück ist geschehen, obwohl es niemand für möglichgehalten hat.
Um die Sicherheit überall zu dokumentieren, wird über Lautsprecheransagen an den Bahnsteigen in bewusst betontem Englisch (nicht Amerikanisch!) auf alles Mögliche hingewiesen, damit keine Stufen übersehen werden. Bei Beschleunigung des Zuges wird darauf hingewiesen, sich an den dafür vorgesehenen Griffen festzuhalten.
In Tottori, einem kleinen Ort auf dem Land, befindet sich eine Pferdefarm. Dort wird mit Kindern gearbeitet, die die Schule verweigern und somit zu den so genannten ‚schwer Erziehbaren‘ gehören. Das therapeutische Reitkonzept ist dem bei uns wohl ähnlich. Was aber anders ist, ist das Verhalten der Kinder. Am Ende der Reitaktion versammeln sich alle um den Lehrer. Er möchte, dass alle noch einmal kurz sagen, was ihnen heute am besten gefallen hat. Die meisten sagen etwas, nur ein paar trauen sich nicht. Dann aber kommt es: Zur Belohnung wird in die Mitte des Kreises ein Tablett mit Süßigkeiten gestellt, von denen sich alle etwas nehmen dürfen, weil sie so toll mitgemacht haben. Aber was machen die Kinder? Sie stürzen sich nicht etwa auf die Süßigkeiten. Nein. Die angeblich schwer Erziehbaren rennen ohne Aufforderung zur Wasserleitung und waschen sich zuvor gründlich die Hände.
Diese Pflicht gilt auch für mich: Erst Onsen, dann Essen.
Vor dem Abendessen seife ich mir in einem Onsen den ganzen Körper ein, bis ich wie ein Schneebär aussehe, dann wird alles wieder abgespült und man steigt in das heiße Wasserbecken. Dort ist es trotz der ungewohnt hohen Temperatur sehr entspannend. Auf diese Weise vorbereitet darf ich zum Essen gehen.
Hiroshima
Eine lebendige Stadt. Zwischen den Zeilen liegt die unsichtbare Strahlung.
Kurz vor dem Ausgang des Friedensmuseums sind die Notizen von bekannten Persönlichkeiten der Politik und der Kirchen ausgestellt. Nur Weniges kommt von Amerikanern.
Ich setze mich auf eine der Bänke am Fluß, als Tanuki wieder wie ein harmlos wirkender Gigolo daher schlendert. „Hallo Tanuki“, sage ich. „Du bist schneller als der Sinkansen. Wie ist dir der Reisschnaps bekommen?“ „Bestens, bestens.“ „Noch sauer wegen unseres Themas?“ „Welches?“ fragt er. „Na das mit dem Rassismus“, sage ich. Tanuki tut so, als müsste er furchtbar nachdenken. „Ach das“, sagt er schließlich, „ist der Rede nicht wert, vor allem nicht an diesem Ort.“ Ich verstehe nichts.
„Du hast doch das rote Tor gesehen“, sagt Tanuki und schmunzelt weise, „und es hat zu dir gesprochen. Und darum dürftest du eigentlich wissen: Wer durch dieses Tor geht, ob geistig oder real, wird durch die besondere Geometrie geglättet.“ „Wie bitte?“ „Innerlich.“ „Ich verstehe nicht.“ „Gereinigt“, sagt er, „so wie das bei euren Griechen auch der Fall war.“
Ich mime den Überraschten. „Apropos Katharsis“, sage ich, „warum ist es eigentlich verpönt, sich in der Öffentlichkeit zu schnäuzen, selbst wenn man einen Katarrh hat?“ „Das tut man eben nicht.“ „Und Suppe schlürfen?“ „Tut man eben. Japan ist eine geschlossene Gesellschaft. Es sind die Regeln der Samurai, die das Blut zum Herzen treiben.“ „Welche Regeln?“
Da verdreht Tanuki die Augen und verschwindet ganz plötzlich wieder wie eine sich auflösende Nebenschwade. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen.
Zurück in Tokyo
Das pulsierende Leben der Stadt ist mir jetzt schon etwas vertrauter, so gesehen rückt auch der Anfang der Reise wieder näher.
Nur ein Erlebnis gehört zu guter Letzt noch dazu: eine Show der Sumo Ringer.
Der Schwergewichtigste bleibt in der Mitte. Der Holzfächer des Schiedsrichters spricht eine deutliche Sprache. Und dann geht es los. Wenn alles in wenigen Sekunden vorüber ist, geht es zur nächsten Aktion. Unglaublich, wie sehr die dicken Götter vom Volk verehrt werden. Viel Reis türmt sich auf ihren Tellern. Nach der Vorstellung wandern alle außerhalb des Rings der Stärke, noch ganz angetan davon, ins Freie und frönen weiteren Vergnügungen.
Hier ist der gesamte Beitrag zum Anhören ››
Moritz Hofstetter schreibt
Sehr gute Erzählung, man bekommmt sofort Lust auf eine Reise nach Japan