Ich ging zurück und schaute genauer: Yohji Yamamoto, minimalistischer Schnitt, fließender Stoff. Ich wollte mehr wissen, öffnete die Tür und trat hinein … in eine für mich komplett neue Welt. Das hatte Folgen. Vielleicht wäre ich an einem anderen Tag achtlos an dem Schaufenster vorbeigegangen. Mode hatte in meinem Leben 55 Jahre lang keine wirklich zentrale Rolle gespielt. Jeans, T-Shirt, Pullover, Sneakers – fertig. Geschäftlich Sakko oder Anzug von Boss. Passte für mich. Und jetzt das? Ok, Ästhetik war schon immer wichtig gewesen, Stereoanlagen, auch Autos, aber Klamotten waren nie das große Thema. Vielleicht war die Zeit einfach reif an diesem sonnigen Nachmittag in Berlin für noch ein bisschen mehr Aufregung in meinem eigentlich ganz aufregenden Leben als selbständiger PR-Mann, ambitionierter Kunstmaler, Ehepartner und Vater.
Kann man sich über seinen persönlichen Stil mit Mitte 50 noch einmal komplett neu erfinden? Sollte man? Meine Antwort lautet: definitiv ja! Das heißt: Wenn es einem wirklich wichtig ist und man den notwendigen Mut aufbringt. Denn wer jahrzehntelang im modischen Mainstream mitgeschwommen ist, der wird sich erst einmal an die Blicke gewöhnen müssen, die er auf sich zieht, wenn er sich bewusst außerhalb dieses Mainstreams präsentiert. Da sollte man sich seiner Motivation schon sehr sicher sein.
Großer Spaß: Die Straße als persönlicher Catwalk
Wohlgemerkt geht es nicht darum, modisch auszuflippen, sondern darum, über die Summe dezenter Details den Gesamteindruck eines Auftritts zu verändern. „Modest nobility“ hat das mal jemand genannt, frei übersetzt also etwa: zurückhaltend, aber nobel. Es braucht nicht viel: Ein expressives Detail reicht oft schon, um aufzufallen. Was im Umkehrschluss auch zeigt, wie normiert wir in der Regel unterwegs sind – doch das ist ein anderes Thema.
Ich habe mich dieser Herausforderung einer stilistischen Differenzierung vom Mainstream gerne ausgesetzt. Es ist aufregend, wenn man die Straße zum persönlichen Catwalk macht oder man gelegentlich bewundernd auf seine Kleidung angesprochen wird. Außerdem bin ich reich belohnt worden: mit neuen ästhetischen Erfahrungshorizonten, neuen Bekanntschaften und Freundschaften, mit einem geschärften Selbstverständnis und letztlich mit einem neuen und größerem Selbstvertrauen. Doch eins nach dem anderen.
Der Beginn einer Reise
Zurück in München startete ich meine Internetrecherche. Siegfried Böhnisch, dessen Laden „Harvey’s“ am Kudamm zu meinem ganz persönlichen Einfallstor in die Welt der Avantgardemode geworden war, hatte mir einige Anhaltspunkte für meine nächsten Erkundungsschritte geliefert. Neben Yamamoto waren noch Namen wie Paul Harnden, Elena Dawson oder Labelbezeichnungen wie A 1923, The Viridi-Anne und Layer 0 gefallen – englische, japanische und italienische Designer und Designmarken, jeweils mit einer ganz eigenen Design-Handschrift, alle mit einem kompromisslosen Bekenntnis zu Qualität und Handarbeit.
Ich fand diverse Plattformen, auf denen sich eine eng umgrenzte, aber global verstreute Community von Enthusiasten über neueste Kollektionen austauschen, entdeckte im Netz die wenigen versteckten Läden auf unterschiedlichen Kontinenten, die diese und ähnliche Designer führten und verstand, dass ich in einer überaus reizvollen ästhetischen Parallelwelt gelandet war, die eine eigene Geschichte hat, nach eigenen Gesetzen funktioniert, sich in der selbstgewählten Nische überaus wohlfühlt und sich bewusst vom Hype der übrigen Modebranche absetzt. Nachhaltigkeit war hier gleichermaßen Notwendigkeit wie Programm: Handarbeit macht Überproduktion unmöglich und eine durchgehend höchst reduzierte Farbpalette von Schwarz sowie gedeckten Farbtönen erlaubt die problemlose Kombination von neuerworbenen mit älteren Kleidungsstücken. Zeitlosigkeit hatte höchste Priorität. Kurz: Ich mochte sehr, was ich sah.
Eine Königin und ein Enigma
Den Yamamoto-Blazer hatte ich bei „Harvey’s“ hängen lassen, dafür aber eine schwarze Jerseyhose erstanden, die ich jetzt versuchte, mit meinen vorhandenen Sakkos zu kombinieren. Das war aber optisch in etwa so zufriedenstellend wie die Kombination aus einem Brillanten und einem Ring aus Plastik – ging also gar nicht. Mir wurde damit schnell klar: Dieses Abenteuer würde von längerer Dauer sein und geldintensiv werden. Aber man lebt schließlich nur einmal und schon garnicht unendlich!
Neben Yohji Yamamoto, diesem sympathisch wirkenden kleinen Mann, der mit seinen Kreationen einen gigantischen Einfluss auf unzählige jüngere Modedesigner hat und von vielen Mode-Afficionados geradezu als Mode-Messias verehrt wird, fand ich noch weitere Namen, die im Zusammenhang mit der Avantgardemode immer wiederkehrten: die legendären Rei Kawakubo mit „Comme des Garçons“ und Ann Demeulemeester aus Antwerpen, auch „Queen Ann“ genannt, dann Carol Christian Poell, der sagenumwobene Österreicher aus Mailand, und schließlich das große Enigma der Branche, der italienische Designer Maurizio Altieri.
Maurizio Altieris 1996 mit einigen Mitstreitern gegründetes Label „Carpe Diem“ besitzt seit langem Kultstatus. Es verweigerte sich dem üblichen Marketing und definierte mit einer komplett neuen Designphilosophie und einem neuen Angang für das Materialtreatment die Avantgardemode neu. 2006 löste sich dieses Designerkollektiv auf, nicht ohne einen noch heute sichtbaren Einfluss auf erfolgreiche Designer wie Rick Owens oder Boris Bidjan Saberi zu hinterlassen. Und Maurizio Altieri selbst machte solo weiter: Sein aktuelles Label für besondere Schuhkreationen M_MORIABC by M. ALTIERI gehört zum Besten und Anspruchsvollsten, was der Markt derzeit zu bieten hat.
Auf der Suche nach dem Besonderen
Meine Odyssee durch die einschlägigen Onlineshops schärfte meinen Blick für das Besondere unter dem Besonderen und führte zu einer kontinuierlichen Neuausrichtung meiner Garderobe. Altes wanderte zu Oxfam, Neues kam per UPS oder Fedex aus Italien, England, Island, Zypern und Fernost. Langsam gewöhnte sich mein Umfeld an meinen neuen Look: weniger bunt, hauptsächlich gedeckte Farben, schwarz, grau und ab und zu eine Farbnuance, ungewöhnliche Schnitte bei Hosen und Jacken, Schuhe, die man ganz offensichtlich nicht an der nächsten Ecke kaufen konnte. Einige schauten skeptisch und zuckten mit den Schultern: so alt und noch so aufs Äußere fixiert! Die meisten aber zeigten sich aufgeschlossen. Selbst meine Frau, in Modedingen eigentlich eher konservativ veranlagt, ließ sich überzeugen, einige ausgewählte Stücke meiner Lieblingsdesigner für ihre eigene Garderobe zu erstehen.
Ich wurde wagemutig und lief an einem Samstagvormittag mit dem extrem weiten Hosenrock eines chinesischen Designers durch die Münchner Innenstadt. Die Reaktionen der Passanten würde ich als soziale Grenzerfahrung bezeichnen. Soweit man offenkundig kein Schotte ist, sind Röcke an Männern heute so akzeptiert wie Hosen an Frauen vor über 100 Jahren – sie sind ein Tabubruch, den auch ich nicht jedes Wochenende begehen muss. Trotzdem war es ein großer Spaß, mich in meiner Wirkung auf andere wie ein Teenager auszuprobieren. Solche, an sich harmlosen, Experimente zeigen: Grenzen überschreiten macht frei!
Stores in Deutschland: Darklands Berlin ››
hide[m] München ››
Literatur
„Wabi Inspirations“ von Axel Vervoordt
„Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets & Philosophers“ von Leonard Koren
Neue Erfahrungen, neue Freundschaften
Mittlerweile hatte sich mein Kontaktnetz innerhalb der Szene verbreitert. Ich hatte persönliche Kontakte zu verschiedenen Läden geknüpft und war mit meiner Kamera einige Male zu den Showrooms meiner Lieblingslabels gepilgert, die regelmäßig während der Fashion Week im Pariser Quartier Marais ihre Zelte aufschlugen. Meine Internet-Plattform www.taoteh.com ›› mit photographischen Eindrücken von den „Fashion Weeks“ und Porträts von Designern, die ich persönlich besuchen konnte, wurde zunehmend häufig frequentiert. Vor allem mit den Besitzern der beiden vielleicht wichtigsten deutschen Stores „Darklands“ in Berlin und „hide-m“ in München tauschte ich mich regelmäßig über Designer und deren neueste Kollektionen aus, Freundschaften entstanden. Und nicht nur das. Meine gesamte ästhetische Wahrnehmung veränderte sich, wurde offener für Neues, ich hörte experimentellere Musik, und auch bei unserer Wohnungseinrichtung ging mein Geschmack konsequenter in Richtung Reduktion, Minimalismus, also weg vom Perfekten, hin zum Unregelmäßigen und Authentischen.
Wabi und die Folgen
Das alles war extrem spannend und inspirierte mich nicht zuletzt auch in meiner künstlerischen Arbeit als Maler: Ich fand eine neue Inspirationsquelle in dem japanischen Ästhetikprinzip des Wabi, in dem das Nicht-Perfekte zum höchsten ästhetischen Prinzip erklärt und die hohe Bedeutung des Details und die Schönheit des Flüchtigen betont wird. Auch wenn keiner der erwähnten Modedesigner diese ästhetische Verbindung zum Wabi zieht, ist sie für mich doch sehr offensichtlich.
Mein veränderter Modegeschmack führte also letztlich zu einem veränderten ästhetischen Gesamtempfinden und dieses bekräftigte mich wiederum in meinem Modeempfinden. Ich denke ohne Übertreibung sagen zu können, dass ich jetzt, im Alter von 60 Jahren, endlich und endgültig meinen ganz eigenen Stil gefunden habe. Warum das so lange gedauert hat? Meine Vermutung ist, dass der hohe soziale Anpassungsdruck verantwortlich war, dem ich mich zeitlebend ausgesetzt sah. Mein soziales Leben war in vielerlei Hinsicht wohl doch weniger frei, als ich wahrhaben wollte.
Die Freiheit, die das Alter gibt
Es gibt bestimmt viele Dinge, die das Alter beschwerlich machen. Aber es bietet eben auch das: die Chance für neue Freiheiten. Und sei es für so etwas auf den ersten Blick Oberflächliches wie Mode. Was wir auf der Haut tragen, ist eben doch viel mehr als bloße Verkleidung: Richtig verstanden kann es zum Ausdruck des wahren Selbst mit allen seinen Facetten, Stimmungen und Gefühlen werden. Der Prozess dahin war für mich nicht immer einfach und erforderte das risikobehaftete Verlassen meiner Komfortzone. Trotzdem werde ich ihm immer dankbar sein, diesem Moment der beiläufigen Aufmerksamkeit damals in Berlin, als ein schwarzer Blazer mein Leben veränderte. Und auch meinem drängenden Verlangen, daraus etwas Lebensbejahendes zu machen, danke ich. Finally crazy after all these years! Das ist doch was!
Walter Marius schreibt
Alles schön und gut – solange man das dazu nötige Kleingeld hat.
Michael Witte schreibt
Kann ich absolut nachempfinden….