Es ist ein warmer, sonniger Tag Anfang Juni 1945. Zu einer herrschaftlichen Villa im vom Krieg kaum betroffenen Garmisch-Partenkirchen ist ein amerikanisches Filmteam unterwegs. Der Kameramann, der Regisseur, die Fahrer und der Begleitschutz dokumentieren seit über zwei Jahren das Kriegsgeschehen für die amerikanische Luftwaffe. Ihr Weg im Windschatten der vorrückenden amerikanischen Armeen hat sie hart und verschlossen werden lassen.
Dabei ist einer von ihnen ein Meister der Spielfilmunterhaltung: William Wyler stammt aus dem Elsass und spricht fließend Deutsch. Nach Hollywood hat es ihn Anfang der 1920er Jahre verschlagen.
Zur Mitarbeit in der amerikanischen Armee meldet er sich, wie viele seiner Hollywood-Kollegen, freiwillig. Sie wollen mit ihrer Kunst helfen, das Naziregime niederzuschlagen und nach der Barbarei die Kultur wieder aufzurichten.
Im Signal Corps der US Army arbeiten, neben vielen anderen, Ernest Hemingway, Darryl Zanuck, Frank Capra, John Huston oder George Stevens. Auch Klaus Mann gehört zu den amerikanischen Kriegskorrespondenten.
Eindrücke in Nazi-Deutschland
Seit sie in Deutschland sind, haben sie nicht nur die Schrecken der Kämpfe, die zerbombten Städte, Plätze und Fabriken, das zerstörte Kriegsgerät, die verbrannten oder zerfetzten Körper von Soldaten und Zivilisten, sondern auch die Gräuel der Konzentrationslager und Nazi-Gefängnisse dokumentiert.
Keine 30 Kilometer von Garmisch entfernt waren zum Beispiel Ende April 1945 amerikanische Soldaten auf dem Bahnhof von Seeshaupt auf einen Güterzug gestoßen.
Bei näherem Hinsehen entdeckten sie in dem Zug hunderte Leichen ausgemergelter Menschen. Häftlinge aus dem KZ Dachau, die in letzter Minute noch weggeschafft wurden. Vielleicht sollten sie im Penzberger Bergwerk verscharrt werden oder sonst irgendwie von der Bildfläche verschwinden.
Eine andere amerikanische Abteilung hatte in Kaufering bei Landsberg Ähnliches gesehen, bevor sie nach Garmisch vorrückte.
Die Verantwortlichen hatten Angst vor der Aufdeckung ihrer mörderischen Taten.
„Ist Hitler tot, Herr Göring?“
Seit 1944 arbeitet auch Klaus Mann, der Sohn von Thomas Mann, als Kriegskorrespondent in Europa. Anfang Mai fährt er zu einem Interviewtermin mit dem gefangenen Hermann Göring nach Augsburg. Die Reporter der Weltpresse stellen ihre Fragen, Klaus Mann bemerkt, dass selbst Göring leugnet, etwas von den Konzentrationslagern gewusst zu haben.
Seine einzige Frage stellt Mann auf Deutsch: „Ist Hitler tot, Herr Göring?“ Der überraschte Göring stammelt etwas von „Ja, kein Zweifel“. „Kurios“ findet Mann die Veranstaltung.
Klaus Mann in München
Am Tag darauf trifft Klaus Mann im zerstörten München ein. „Langer Gang durch die zerstörte Stadt“, notiert er am 12. Mai. „Our poor, multilated, polluted house!“ – die Stadt, das Haus seiner Kindheit sind nicht mehr vorhanden. Die Jahre des Exils werden ihm schmerzlich bewusst, als er die Trümmer seiner Heimat wiedersieht. Das Deutschland der Zeit vor den Nazis existiert nicht mehr.
Und Hitler ist nicht tot, bis heute nicht.
Mitte Mai 1945 filmt auch William Wyler, der berühmte amerikanische Regisseur und Produzent elsässischer Abstammung, das zerstörte München.
Es ist naheliegend, dass er sich mit Klaus Mann, der mit dem deutsch-jüdischen Schriftsteller Curt Riess unterwegs ist, getroffen hat. Die beiden kennen sich gut aus Hollywood.
In Garmisch
Klaus Mann und Curt Riess treffen Richard Strauss am 15. Mai 1945 in Garmisch, an einem herrlichen Sommertag, wie er schreibt. Das Gespräch der beiden amerikanischen Presseoffiziere und der Familie Strauss findet im gepflegten Garten der Villa statt. Stammen die Filmaufnahmen aus diesem Zusammenhang?
„I thought it wiser not to disclose my identity”, notiert Klaus Mann. Der Grund dafür war, dass Richard Strauss 1933 den „Protest der Richard Wagner-Stadt München“ gegen Thomas Mann unterschrieben hat. Strauss war von Goebbels 1933 zum Präsidenten der neuen Reichsmusikkammer gemacht, die für die Gleichschaltung der Musiker zuständig war. Das bedeutete Berufsverbot für jüdische Musiker, die Ächtung von Komponisten oder Dirigenten, wie etwa Bruno Walter, und von Orchestermusikern. Dass sich Strauss hierfür hergab und sich den Nazis andiente, schließt den Kreis zu Künstlern wie Emil Nolde ›, Hans Pfitzner, Gustav Gründgens.
„Ich hielt es für klüger, meine Identität nicht preiszugeben.“
Klaus Mann veröffentlicht sein Gespräch mit Richard Strauss vom 19. Mai in der amerikanischen Soldatenzeitung The Stars and Stripes ›› :
„Von Cpl. KLAUS MANN Mitarbeiter Korrespondent GARMISCH-PARTENKIRCHEN (Bayern). 26. Mai (verspätet) –
Dieses Bergdorf war in der Vorkriegszeit einer der angesagtesten Winter- und Sommerorte Deutschlands. Jetzt gibt es keine eleganten Touristen, aber das malerische Garmisch kann sich immer noch einiger prominenter Bewohner rühmen. Einer von ihnen ist der am meisten gefeierte lebende Komponist der Welt, Richard Strauss.
Ich machte die recht lange Reise von München aus, um den großen alten Mann der europäischen Musik zu sehen. Ich wollte nicht nur seinem kreativen Genie Tribut zollen, sondern auch einen Blick auf den alten Opportunisten werfen, über dessen Verhalten in den vergangenen zwölf Jahren ziemlich unappetitliche Geschichten in Umlauf waren. Ich dachte, es wäre interessant zu hören, was Strauss selbst zu seinen Erfahrungen unter dem NS-Regime zu sagen hatte.
Der Komponist und seine Familie befanden sich in einer komfortablen, geräumigen Villa, die von einem großen, gepflegten Garten umgeben ist. Mein Gefährte und ich stellten uns als „zwei amerikanischeKorrespondenten“ vor. Ich hielt es für klüger, meine Identität nicht preiszugeben.“
(…) „…tatsächlich sah er überraschend gut erhalten aus für einen Mann von 83. Sein Gesicht mit dem rosigen Teint strahlte heiter unter seinem silbernen Haar hervor. Es war nichts Seniles an ihm. Doch als wir ihn nach seinen künstlerischen Plänen fragten, schüttelte er voll philosophischer Resignation den Kopf: “Keine Pläne mehr für mich! Ich habe fünfzehn Opern geschrieben, ganz zu schweigen von meinen symphonischen Stücken und meinen vielen Liedern. Das reicht für eine Lebenszeit. Glauben Sie nicht, ich hätte etwas Ruhe verdient? ”
Wir stimmten zu und hörten uns dann respektvoll seine Beschwerden über den Umgang des vergangenen NS-Regimes mit seiner neuen Oper “Die Liebe der Danae” an: „Meine letzte Oper, „Die Liebe der Danae“, ist einfach ignoriert worden“, stellte der Komponist beleidigt fest. „Und Sie wissen ja, was für Schwierigkeiten ich wegen des Librettos von Stefan Zweig hatte.“ Der Meister ärgerte sich über die mangelnde Rücksichtnahme einer Regierung, mit der er sonst korrekten, wenn nicht sogar freundlichen Umgang gehabt hatte. “Natürlich”, sagte er, “war dies nicht der erste beunruhigende Vorfall. Ich hatte zwei ziemlich ernsthafte Konflikte mit der NS-Administration.”
Wylers Filmmaterial
Die Filmkamera von Wyler geht nicht zufällig genau auf dieses Stück „Die Liebe der Danae“ ein. Die Bilder sind wie eine Illustration der Gedanken von Klaus Mann inszeniert, von den Pfingstrosen bis zu den Close Ups des leise singend in der Partitur lesenden Komponisten.
Klaus Mann bezeichnet Strauss als „celebrated German composer living in good comfort“ und schildert die Gesprächssituation „in front of his stately villa, under the beautiful trees of his large well-kept garden“. Genau dort nimmt die Kamera Richard Strauss ins Visier und versäumt nicht, zuvor mit den Pfingstrosen ein Symbol für den herrlichen Garten zu finden.
Villa und Garten werden zur Anklage, wenn man sich die Szenen aus München vor Augen führt, die das gleiche Filmteam zuvor im Mai 1945 gedreht hat.
Künstler im Nationalsozialismus
Über die Begegnung zwischen Klaus Mann und Richard Strauss haben Wissenschaftler viel geschrieben.
Im Kern wirft Klaus Mann Richard Strauss vor, dass er, obwohl er in materieller Hinsicht im Exil problemlos hätte leben können, in Deutschland geblieben ist und den Nazis als Aushängeschild gedient hat. Man kann sogar noch weiter gehen, wenn man bedenkt, dass Strauss in Nazi-Deutschland gerne und häufig aufgeführt wurde und dass er etwa die Olympiahymne von 1936 komponiert hat:
Er orchestrierte das Regime.
In München ging Hitler gerne abends ins Gärtnerplatztheater, und sein Lieblingsstück war die „Die lustige Witwe“ von Franz Lehár. Passend zum vulgären erotischen Geschmack des Führers arbeitete die Inszenierung mit Tanzeinlagen von Dorothy van Bruck, die bürgerlich Ilse Stange hieß.
Das Stück mit seinem schwülstigen Sexismus konnte zu Kriegsbeginn nicht mehr aufgeführt werden – der Titel „Die lustige Witwe“ bekam für die Witwenmacher einen zu unangenehmen Beigeschmack.
Die Kunst von Richard Strauss aber war nicht das, was Hitler bevorzugte. Ähnlich wie bei Emil Nolde, entsprach das künstlerische Niveau des Komponisten nicht dem des Naziführers.
Es geht um ästhetischen Anspruch und moralische Integrität
Es wäre daher völlig verfehlt, Strauss’ Musik als billige Nazimusik zu bezeichnen. Es geht vielmehr um den ästhetischen Anspruch und um die moralische Integrität. Kunst und Gesellschaft, Bürger und Künstler treten auseinander.
Klaus Mann schreibt dazu: „…Ein Künstler von solcher Sensitivität – und dabei stumpf wie der Letzte, wenn es um Fragen der Gesinnung, des Gewissens geht! Ein Talent von solcher Originalität und Kraft, ein Genie beinah – und weiß nicht, wozu seine Gaben ihn verpflichten! Ein großer Mann – so völlig ohne Größe!…“
Thomas Mann hat im „Doktor Faustus“ dieses Thema bearbeitet. Nicht zufällig spielen die „Salome“ von Strauss und „Palestrina“ von Pfitzner dort eine wichtige Rolle.
Richard Strauss wurde seiner moralischen Verpflichtung, dem Unrecht der Nazi-Herrschaft entgegenzutreten, nicht gerecht. Gegen die Ächtung jüdischer oder politisch missliebiger Musiker, Schriftsteller oder Maler hat er nicht protestiert. Weil er glaubte, das Ästhetische vom Politischen trennen zu können, hat er sich mitschuldig gemacht.
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Auf welche Werte kann man einen Künstler verpflichten? Nach dem Ende des 2. Weltkriegs haben die Völker mit der Charta der Vereinten Nationen und der UN Menschenrechtskonvention und haben wir Deutsche mit den ersten 20 unveränderlichen Artikeln des Grundgesetzes dafür einen klaren Rahmen geschaffen. Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Bereits diesen fundamentalen Grundsatz haben die Nazis in allen Facetten ihres Menschenbildes und politischen Handelns verletzt, und viel zu viele Deutsche haben es geschehen lassen.
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