Wir besuchen die Malerin und Graphikerin Else Winnewisser an einem kalten Dezembervormittag in ihrem Zuhause in Karlsruhe. Wir sind etwas zu früh dran, aber für die alte Dame ist das kein Problem. Sie empfängt uns im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses, in dem sie seit vielen Jahren lebt und arbeitet, und bittet uns in ihr Wohnzimmer. Viele Bücher, ein Werk ihres verstorbenen Ex-Mannes Heinz Schanz an der Wand, die Skulptur eines Kopfes („Das hat eine Freundin gemacht.“) geben dem Raum ein persönliches Flair.
Auf einem kleinen, liebevoll gedeckten Tisch hat sie Tee und Kaffee, Kuchen und selbst gebackene Plätzchen bereitgestellt. Während wir zugreifen, erzählt sie uns, dass sie schon früh aufgestanden ist, um in einem Hallenbad in der Nähe Schwimmen zu gehen. „Ich mach das oft“, sagt sie. “Es tut mir gut und hält mich fit.“
Die Fitness sieht man ihr an. 1936 in Heidelberg als jüngste von drei Töchtern eines Lehrers geboren, wirkt sie mindestens zehn Jahre jünger als sie ist. Ihre Haut ist glatt und rosig, die wachen Augen, vom selben leuchtenden Blau wie ihr Pullover, verengen sich zu halbmondförmigen Schlitzen, wenn sie lacht. Und sie lacht oft.
»Ich habe keine Zeit zum Malen gehabt.«
Bei der Vorbereitung auf den Termin hatte ich gelesen, dass Else Winnewisser bis heute von ihren Künstlerfreunden „Winnetou“ genannt wird. Der Spitzname wird sogar im offiziellen Katalog zu einer ihrer jüngsten Ausstellungen erwähnt. Ich frage sie, wie sie zu diesem Namen gekommen ist.
Die alte Dame lacht: „Das war während des Studiums. An der Kunstakademie musste jeder seinen Namen oben auf die Staffelei schreiben. Ich hab nur Winne hingeschrieben. Und jemand hat das dann zu Winnetou ergänzt. Der Name ist mir geblieben mein Leben lang.“
Das ist umso erstaunlicher, als sie, die begabte Künstlerin, der von ihren Lehrern Wilhelm Schnarrenberger und HAP Grieshaber eine große Zukunft vorausgesagt worden war, doch über vierzig Jahre lang in der Kunstszene so gut wie nicht präsent war. Wie ist es dazu gekommen?
„Ich habe einfach keine Zeit zum Malen gehabt“, erklärt sie. Und sie erzählt, wie sie ihrem Vater nach dem Abitur eröffnet hat, dass sie an der Akademie in Karlsruhe Kunst studieren will. Ihr Vater hält davon nichts. Er will, dass sie in Heidelberg studiert und auch Lehrerin wird.
„Meine älteste Schwester war schon an der Kunstakademie gewesen. Das hatte meinen Vater viel Geld gekostet. Die zweite wollte Ärztin werden. Das war schwierig damals. Studienplätze hat es nach dem Krieg nur für die Männer gegeben. Aber sie hat es geschafft. Meine Schulnoten waren zwar nicht so fein wie die meiner Schwestern, aber in Kunst war ich immer gut! Ich wollte das unbedingt machen!“
Und Else setzt sich durch. Sie erreicht, dass sie die Aufnahmeprüfung machen und ein Semester zur Probe studieren darf. Am Ende des Probesemesters gewinnt sie einen Preis für eine Zeichnung: „100 Mark hab ich bekommen. Das war damals viel Geld! Und das hat meinen Vater umgestimmt. Er hatte mir ja nicht einmal zugetraut, dass ich das erste Semester schaffe!“
Täglich pendelt sie nun mit dem Zug zwischen Heidelberg und Karlsruhe, um die Kosten für ein Studentenzimmer zu sparen. Mit dem Auszählen von Lottozahlen am Wochenende und später mit dem Verkauf von Bildern kann sie sich ihr Studium finanzieren.
Else wird eine vielversprechende Kunststudentin. „Man hat mir geraten, freischaffend zu arbeiten. Aber ich hatte ja niemanden, der mich finanziell unterstützt hätte.“ Deshalb möchte sie zusätzlich das Staatsexamen für Lehramt machen, zur Sicherheit.
Die junge Studentin mit dem Häuptlingsnamen wird gern vorgeschickt, wenn es Probleme zu lösen gibt: „Fürs Examen sollten wir einen Akt, einen Kopf und Hühner zeichnen“ erzählt sie. „Ich bin also ins „Dörfle“gegangen – das war das Bordellviertel von Karlsruhe –, um dort Modelle fürs Aktzeichnen zu besorgen. Es war nicht ungefährlich für eine junge Frau, allein da hinzugehen. Aber eigentlich waren das dann sehr nette Leute … Und in der Musikhochschule nebenan hab ich die Modelle für die Kopfstudien gefunden, für 10 Mark die Stunde … Für die Hühnerzeichnungen haben wir Tische umgedreht und Maschendraht um die Tischbeine gewickelt. In diese Ställe haben wir dann die Hühner vom Hausmeister reingesetzt.“
Und Winnetou lacht.
Beim ersten Staatsexamen 1959 kommt es zum Eklat: die Zeichnungen, die sie und ein paar andere einreichen, werden als „nicht naturalistisch genug“ von der Prüfungskommission abgelehnt. Die geltende Prüfungsordnung stammt noch aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die Beurteilung führt zu heftigen Debatten in der Kunstszene, HAP Grieshaber tritt aus Protest zurück.
Ein Jahr später müssen die Studenten noch einmal nachweisen, dass sie die Kunst der naturalistischen Zeichnung beherrschen. Diesmal klappt es.
Else Winnewisser führt uns in die Wohnung nebenan, die ihr als Atelier und Gästeunterkunft dient. Überall Bilder und Zeichnungen, gerahmt und ungerahmt, auf der Staffelei, an den Wänden, am Boden gestapelt und auf den Möbeln verteilt.
Sie zieht die breiten Schubladen eines Architektenschranks auf und sucht in den Stapeln ungerahmter Blätter nach den ablehnten Zeichnungen. Meines Erachtens sind darauf eindeutig Hühner, Akte oder Köpfe zu erkennen, wenn auch sehr abstrahiert. Dann hält die Künstlerin einen Frauenkopf hoch. „Das hat ihnen dann gefallen!“ meint sie dazu verächtlich. Um ehrlich zu sein, mir gefällt auch diese Zeichnung sehr gut.
Genauso wie die anderen Arbeiten, die sie uns zeigt, Zeichnungen, Drucke, Gouachen. Sie stammen vor allem aus der Studienzeit und aus der jüngeren Vergangenheit. Meist zeigen sie kräftige Farben, vor allem ein leuchtendes Rot zieht sich wie loderndes Feuer durch das malerische Werk. Was für eine Energie diese Bilder ausstrahlen!
Die Künstlerin aber sieht dieses überwältigende Zeugnis ihres Schaffens ganz pragmatisch: „All das müsste ich unbedingt mal ordnen“, meint sie. „Das ist viel Arbeit. Wenn ich einmal Zeit dafür habe…“
Das ist der Satz, der Else Winnewissers Leben leitmotivisch zu begleiten scheint. Nie hat sie genügend Zeit für sich und ihre Kunst, immer ist sie damit beschäftig, die Arbeit anderer zu tun, für andere da zu sein.
»Ich wollte, dass mein Kind in geordneten Verhältnissen aufwächst.«
Es beginnt mit der Familiengründung. Zusammen mit ihr studieren heute so bekannte Künstler wie Horst Antes, Walter Stöhrer und Hans Baschang. Klassenbester aber ist der neun Jahre ältere Heinz Schanz, den HAP Grieshaber entdeckt und nach Karlsruhe mitgenommen hat, als er dorthin berufen wird.
Heinz Schanz und Else Winnewisser werden ein Paar. Nach dem Examen arbeitet sie als Kunsterzieherin und malt nebenbei, ihre Ausstellungen erhalten gute Kritiken. 1964 heiraten die beiden. Ein Jahr später wird Tochter Bettina geboren, und Else beschließt, die Malerei weitgehend aufzugeben, um ihre Zeit ganz dem Unterhalt der Familie und der Erziehung der Tochter zu widmen. Ihre Künstlerkollegen finden solches Sicherheitsdenken spießig, aber für sie ist es wichtig, ihrem Kind geordnete Verhältnisse zu bieten. „Ich habe gesehen, wie Kinder von Malerfreunden drogensüchtig geworden sind, weil sie ohne Regeln aufgewachsen sind. Davor wollte ich meine Tochter bewahren. Heinz Schanz und ich haben ausgemacht, dass ich so lange in der Schule arbeite, bis er eigene Erfolge hat. Danach wollte ich wieder malen.“
Doch so soll es nicht kommen. Zwölf Jahre lang sorgt Else für den Familienunterhalt. Es ist nicht einfach. Damals gilt noch die Regel, Mütter haben zuhause bei ihren Kindern zu bleiben. Ausnahmen gibt es – auch an der Schule – nur für ältere Frauen, die ihren Mann im Krieg verloren haben und die aufs Geldverdienen angewiesen sind. „Um trotzdem in der Schule weiter arbeiten zu können, hab ich anfangs mein Kind versteckt.“
Tagsüber hat ihr Mann sich um die Tochter gekümmert. „Das war nicht so ideal. Weil er immer nachts gearbeitet hat, war er tagsüber müde. Außerdem hat er das Kind verängstigt. Er hat sie nachts aufgeweckt und ihr schreckliche Dinge erzählt. Er hatte als Junge im Krieg Schlimmes erlebt, und er hat seine eigenen Ängste auf das Kind übertragen. Sie hat viel geweint.“
Es ist eine schwierige Beziehung. Heinz Schanz hat erfolgreiche Ausstellungen, aber wenig Geld. Als er 1977 Stipendien für Italien erhält, sind sie schon ein Jahr geschieden.
»Ich habe nachts Bilder geträumt, und erst wenn ich sie gemalt habe, hab ich sie aus dem Kopf bekommen.«
Else muss sich nun allein um die Tochter kümmern. Sie schickt sie in ein Internat in Heidelberg, und um das finanzieren zu können, nimmt sie verschiedene Nebentätigkeiten auf. Sie gründet eine Malschule, wird Fachberaterin, Seminarleiterin, macht Veröffentlichungen, arbeitet für das Kultusministerium in Stuttgart, organisiert Ausstellungen für ihre Schüler, verteilt Preise und setzt die Abituraufgaben für das Fach Kunst auf.
„Ich hab das Geld gebraucht, um finanziell durchzukommen. Ich hab mich aber auch gern soviel engagiert. Ich bin nun mal so: wenn ich etwas mache, dann mach ich es richtig!“
Doch all diese Aktivitäten lassen ihr noch weniger Zeit für ihre Kunst als bisher: “Ich habe nachts Bilder geträumt, und erst wenn ich sie gemalt habe, hab ich sie aus dem Kopf bekommen.“
Gelegenheit dazu hat sie meist nur in den Ferien. Von einer kleinen Erbschaft hatte sie sich „möglichst weit weg von allem“ ein Stück Land in Südfrankreich gekauft. Das Haus, das sie dann dort im Lauf der Jahre mehr oder weniger mit eigenen Händen baut, wird ihr Rückzugsort, wo sie sich ganz ihrer Kunst widmen kann.
Zuhause kümmert sie sich, neben der Arbeit in der Schule, nicht nur um die heranwachsende Tochter, sondern auch um ihren geschiedenen Mann. „Er hatte eine Freundin, aber immer wenn es Probleme gab, kam er damit zu mir. Auch wenn er Gäste hatte, hat er sie bei mir untergebracht. Als er dann krank wurde, habe ich ihn gepflegt. Und nach seinem Tod habe ich alles geregelt, was zu tun war.“
Worte wie „Lebensabend“ und „Alterswerk“ passen nicht zu Else Winnewisser.
1999 scheidet sie als Studiendirektorin aus dem Schuldienst aus. Vierzig Jahre lang hat sie sich ihrer Kunst nur nebenbei widmen können, abseits von der Kunstöffentlichkeit. Nun, nach ihrer Pensionierung, freut sie sich darauf, endlich genug Zeit dafür zu haben. Aber wieder soll es nicht sein: „Zuerst ist meine Schwester gestorben, da musste ich das Erbe regeln. Dann, 2003, kam der Tod von Heinz Schanz. Auch hier hab ich mich um alles Nötige gekümmert.
Erst danach hab ich vielleicht zwei oder drei Monate am Stück in Frankreich arbeiten können. Mein Motto war eben immer: erst kommt der Mensch, dann kommt die Kunst. Später gab es dann Anfragen für Ausstellungen. Auch da hab ich alles organisiert, die Bilder ausgesucht, mich um die Rahmungen gekümmert. Das war alles viel Arbeit.“
Wie das Rot, das über all die Jahre immer wieder in ihren Bildern auftaucht, zieht es sich wie ein roter Faden durch Else Winnewissers Leben als Frau und Künstlerin, dass sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hintanstellt und sich um die Belange anderer kümmert.
Und heute? Genießt sie ihren Lebensabend? Arbeitet sie an ihrem Alterswerk, nun, wo sie sich die Zeit dafür nehmen könnte? Worte wie „Lebensabend“ und „Alterswerk“ passen nicht wirklich zu ihr. Sie hat immer noch zu wenig Zeit, ist immer noch zu beschäftigt. So reist sie nach München, um ihrer Tochter zur Hand zu gehen, die dort mit ihrer Familie lebt. Oder sie fährt nach Freiburg, um ihrer 90-jährigen Freundin Gesellschaft zu leisten.
Und sie fährt noch regelmäßig in das Haus in Südfrankreich. Mit ihren 81Jahren legt sie die Strecke im eigenen Wagen zurück, 800 km in einem Rutsch, ohne Zwischenstopp. Ist ihr das nicht zu anstrengend? „Nein. Ich kenn ja unterwegs jeden Stein! Und ich brauch das Auto dort. Das Haus ist so abgelegen. Mitten in einem Pinienwald, außerhalb vom Dorf.“ Dort pflegt sie den Garten und kümmert sich darum, dass die zahlreichen Auflagen des französischen Staates für Hausbesitzer erfüllt werden.
Und sie malt. „Keine größeren Sachen. Dazu habe ich nicht mehr die Kraft.“ Eine überraschende Aussage von dieser starken, resoluten Frau, die ihrem Spitznamen Winnetou ein Leben lang alle Ehre gemacht hat.
Zum Abschied erzählt sie uns folgende kleine Anekdote, die zeigt, wie gut der Name immer noch zu ihr passt:
Sie besucht eine befreundete Bildhauerin, während diese kleinen Kindern Kunstunterricht erteilt. „Komm rein, Winnetou,“ sagt die Freundin, „ich mach dir einen Kaffee.“ Da stupst der eine Steppke den anderen an: „Sag mal, hast du gewusst, dass der Winnetou in echt eine Oma ist?“
Und die alte Dame Winnetou lacht.
christne POUZET-POCOVI schreibt
Merci très bel article, une femme inspirante, impressionnante et tellement gentille.
Ulrike Ziegler schreibt
Merci de votre commentaire, Christine. Je suis contente que même en France on lit l’article sur Else Winnewisser!
Anneliese Ashiwaju schreibt
Ein bewegener Artikel, der wieder einmal zeigt, wieviel Kraft und Zielstrebigkeit in Frauen steckt!
Bin im selben Alter wie „Winnetou“. Der Bericht hat mir auch neue Kraft und Zuversicht gegeben.
Ulrike Ziegler schreibt
Vielen Dank für Ihren Kommentar, liebe Anneliese! Es freut mich, dass das Porträt von Else Winnewisser „Winnetou“ Ihnen gefällt und Ihnen Mut macht! Aus genau diesem Grund stellen wir Menschen vor, die auch im Alter voller Tatkraft sind und sich von „einer Zahl“ nicht einschüchtern lassen.
Ulrike Ziegler schreibt
Vielen Dank, liebe Traudel! Freut mich, dass es Dir gefällt ….
Fahr-Becker Traudel schreibt
der Artikel ist gut gemacht
die Künstlerin beindruckend