Was macht eine Graphologin? Bis vor kurzem wusste ich nicht mehr darüber, als was man sich gemeinhin so zusammenreimt: Graphologie hat etwas mit Handschrift und ihrer Deutung zu tun. In Kriminalfällen kommt hin und wieder ein Graphologe zu Wort, der mit seiner Untersuchung einer Schriftprobe im besten Fall zur Aufklärung eines Verbrechens beiträgt*. Soweit mein laienhaftes Vorwissen.
Umso mehr hat es mich fasziniert, als ich erfuhr, was genau die Graphologie kann und wie vielfältig sie eingesetzt wird. Zum Beispiel in der Kinderpsychologie, bei der Personalberatung von Wirtschaftsunternehmen, zur Rekonstruktion von Lebensgeschichten und um Störungen in Familienstrukturen aufzudecken. Details zu diesem weiten Feld graphologischer Anwendungen habe ich von Renate Joos erfahren.
Mit der jugendlichen Mittsiebzigerin – „Ich bin 1943 als Fronturlaubskind geboren.“ – habe ich mich im two in one ›› getroffen, einem Blumenladen mit angeschlossenem kleinen Café am Schwabinger Pündterplatz. Frau Joos war aus Freiburg angereist, wo sie seit 2001 lebt und arbeitet, um die Familie ihres Sohnes und die vier Enkelkinder zu besuchen. „Dem jüngsten meiner Enkel, er ist sechs Monate alt, hab ich vorhin vorgemacht, wie es geht, vorwärts und nicht rückwärts zu robben. Ich glaube, er hat es jetzt verstanden.“
Ich kann mir gut vorstellen, wie diese muntere Oma mit dem glatten Gesicht und den warmen braunen Augen vor dem Kleinkind herkriecht und es zum Nachmachen animiert. Sie hat ja auch Erfahrung im Umgang mit kleinen Kindern. Nicht nur, weil sie die beiden Kinder ihrer in Freiburg lebenden Tochter täglich versorgt und mit großzieht, sondern auch, weil sie beruflich immer wieder mit Kindern zu tun hat.
Buchstaben sind eingefrorene Bewegungen
Im Hauptberuf studierte Psychologin mit eigener Praxis im Haus, nutzt sie ihre graphologischen Kenntnisse, um die Störungen traumatisierter Kinder aufzudecken und so wichtige Anhaltspunkte für eine Therapie zu bekommen.
Wie genau geht das?
„Schreiben ist Bewegung und Buchstaben sind eingefrorene Bewegungen. Schon die Kritzeleien von kleinen Kindern ab vier Jahren kann man untersuchen und daraus Hypothesen zu Kraft, Selbstgefühl, Feinmotorik und altersgemäßer Entwicklung ableiten. Wir stellen uns die Frage: Ist das noch normal oder müssen wir hier mit einer traumatischen Störung rechnen? Braucht dieses Kind besondere Unterstützung oder kann es eine normale Schulbildung bekommen?“
Dass ihr Wissen aber auch zu unerwarteten Ergebnissen führen kann, erläutert sie mit dieser kleinen Anekdote: „Neulich sitze ich bei meiner Bankberaterin. Da liegt ein beschriebenes Papier. Ich kann, wie immer, meine berufliche Neugier nicht unterdrücken und seh hin. Die Frau bemerkt meinen Blick und sagt, das habe ihr Sohn geschrieben. Ich frage nach seinem Alter. Er sei acht, sagt sie. Das hat er aber nicht selbst geschrieben! meine ich. Doch doch, sagt sie. Er ist in der dritten Klasse und wir fragen uns, wie es mit ihm weiter gehen soll. Ich sage: Acht? Die Schrift sieht aus wie die von einem viel älteren Kind. Lassen Sie ihn doch die vierte Klasse überspringen und schulen Sie ihn gleich ins Gymnsasium ein. Und so geschah es!“ Sie lacht.
Doch nicht nur Kinder gehören zur Klientel von Renate Joos. „Ich habe immer wieder mit sehr alten Menschen gearbeitet, die ihre Familiensituation klären oder Probleme mit ihren Kindern aufarbeiten wollten. Wir betrachten dann zusammen die Entwicklung der eigenen Schrift über die Jahre. Es ist fast wie eine biographische Arbeit. Der Klient erzählt mir seine Sicht auf die Dinge: Wer war ich damals? Was waren meine Bedürfnisse, meine Ängste? Wie würde ich mich heute sehen? Und ich kann das dann von außen kommentieren: von der Schrift her seh ich Sie so und so. Und er kann das dann bestätigen oder auch nicht. Wir beziehen dabei möglichst auch die Schriften der anderen Familienmitglieder mit ein. Das erlaubt eine objektive Sicht auf die Dinge, zeigt, wann äußere Einflüsse bewirkt haben, dass etwas so geworden ist, wie es jetzt ist.“
Jede Schrift entwickelt sich immer weiter
Ich lerne, dass jede Schrift sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, auch wenn man das selbst nicht immer erkennen kann. Manche Schriften sind schon bei 16 oder 17-jährigen fertig entwickelt, und doch ändern sie sich noch lebenslang, zumindest für das Auge des Graphologen. Sie weisen auf Krisen und Wendungen im Lauf eines Leben hin.
Der Graphologe versucht, dem Wesen eines Schriftsbilds nahe zu kommen, durch den Vergleich von Schriftstücken über die Jahre die Entwicklung einer Persönlichkeit zu entschlüsseln.
Dies ist sogar bei historischen Personen möglich, oder bei Menschen, die man persönlich nicht kennengelernt hat. Renate Joos hat so das Leben ihrer eigenen Mutter aufgeschrieben, die starb, als sie selbst erst fünf war. Anhand von Briefen, Veröffentlichungen und anderen Schriftstücken – und natürlich auch durch die Erzählungen ihres Vaters – hat sie herausgefunden, dass ihre Mutter eine sehr starke, durchsetzungsfähige Frau gewesen ist. „Sie war eine Emanze, von Natur aus. Man kann alles, was man will, das war ihre Losung. Ich vermute, dass es zwischen uns beiden nicht einfach geworden wäre“, fügt sie lächelnd hinzu. Ich kann mir das gut vorstellen, denn auch Renate Joos wirkt auf mich wie eine Frau, die weiß was sie will und die ihre Ziele durchsetzt.
Kein Vater für Mädchen
Ich frage, wie sie zu dem doch eher ungewöhnlichen Beruf einer Graphologin gekommen ist in einer Familie, in der fast alle Juristen waren und sind. „Ja, ich war das schwarze Schaf der Familie“, sagt sie und lacht. Und sie erzählt, dass ihr Vater und die Hausmutter sie sehr frei und ohne Zwang aufwachsen ließen. Aber sie wurde auch gefordert, nicht anders behandelt als ihr fünf Jahre älterer Bruder. Die Kindheit auf der Schwäbischen Alb verbrachten sie meistens draußen in der Natur.
„Unser Vater hat unter der Woche in Tübingen als Lektor bei einem Verlag gearbeitet. Wenn er dann freitags nach Hause kam, wurden die Rucksäcke und das Zelt zusammengepackt und dann sind wir 30 oder 40 Kilometer marschiert, von Freitag bis Sonntag. Ich wurde immer genauso rangenommen wie mein großer Bruder. Mein Vater war kein Vater für Mädchen. Er war ein freier, emanzipierter Geist. Es gab keine rollenspezifische Festlegung für mich.“
Nach der Heirat mit einem 17 Jahre älteren Mann brach sie zunächst ihr Medizinstudium ab, zog ihre beiden Kinder groß und begann mit Mitte 40, klinische Psychologie zu studieren. Doch schon vorher, während der Zeit als Mutter, fing sie an, sich autodidaktisch mit der Graphologie zu beschäftigen und ihre Kenntnisse durch Fernstudium und verschiedene Kurse zu vertiefen.
„Schriften haben mich von klein auf fasziniert. Schon als Zehnjährige habe ich alle möglichen Schriftstücke gesammelt. Eine Cousine, die viel mit historischen Schriften gearbeitet hat, hat mich darauf gebracht.“
Die Graphologie unterstützt auch die Kinderpsychologie
„Obwohl die Graphologie schon in der Antike ein Thema war – der Geschichtsschreiber Sueton hat bereits vor 2000 Jahren die Handschrift von Kaiser Augustus analysiert – ist sie wissenschaftlich leider nicht anerkannt. Sie ist eine Mischung aus nachprüfbarer Wissenschaft und Interviewverfahren. Man nutzt sie vor allem für Gutachten, bei der Personalberatung. Durch meine Arbeit ist schon hin und wieder jemand im höheren Management eingestellt worden, der vorher eher nicht in näherer Auswahl stand, weil äußerliche Kriterien dagegen zu sprechen schienen.
Auch als ergänzende Methode vor allem in der Kinderpsychologie spielt die Graphologie eine Rolle. Leider gibt es durch die zunehmende Digitalisierung den Trend, dass Kinder heute schon früh mit dem Computer schreiben und immer weniger eine eigene Handschrift entwickeln. Damit geht eine wichtige individuelle Ausdrucksmöglichkeit verloren. Wenn mich jemand fragt, wie ich diesen oder jenen finde, sag ich immer: ich weiß nicht, ich hab seine Schrift noch nicht gesehen…“
Renate Joos deutet auf meine handschriftlichen Notizen, die ich als Vorbereitung auf unser Gespräch mitgebracht habe. „Natürlich habe ich schon einen Blick auf Ihre Schrift geworfen – ich kann gar nicht anders“, sagt sie und lacht. „Ich sehe gleich, wie ausgeprägt sind die Ober-und Unterlängen, wie sind die Buchstaben miteinander verbunden, wie sind die i-Punkte gesetzt und so weiter. Das ist eine sehr ausgeschriebene, individuelle Schrift. Was ich also ohne genaue Analyse sehen kann, ist, dass Sie zu einer Generation gehören, die noch Schreiben gelernt hat.
Für eine wirkliche Begutachtung brauche ich natürlich Zeit, etwa einen Tag. Dazu auch Hilfsmittel wie zum Beispiel ein Mikroskop, das mir die charakteristischen Details einer Schrift zeigt.“
„Sind denn auch Irrtümer möglich und welche Rolle spielt die Intuition bei der Beurteilung einer Schrift?“ frage ich.
„Intuition beruht auf Erfahrung. Das kann man lernen. Die Erfahrung schärft den Sinn für das Individuelle. Man fragt sich: Was ist die Norm und wie ist jemand davon abgewichen?
Und um Irrtümer auszuschließen, müssen bestimmte Vorbedingungen wie Alter, eventuelle Krankheiten, motorische Einschränkungen etc. bekannt sein, bevor man charakterologisch arbeiten kann. Man darf kein Urteil fällen, ohne die Umstände zu kennen!“
Gelassenheit im Alter ist wichtig
Zum Schluss möchte ich wissen, warum Renate Joos in einem Alter, wo andere es sich „gutgehen“ lassen, weiter arbeitet.
„Weil es Spaß macht! Diese Arbeit ist eine Leidenschaft! Außerdem möchte ich Menschen, die seit 20 Jahren bei mir in psychotherapeutischer Behandlung sind und die zum Teil von weit her anreisen, nicht im Stich lassen. Viele Psychiater sind auch überlastet, und außer in Kliniken gibt es keine Notfalltermine mehr. In solchen Fällen springe ich dann ein.
Reduziert habe ich aber schon. Firmenaufträge nehme ich nur noch selten an, denn da muss man auch in den Ferien arbeiten, während der Rest der Familie im Pool badet …
Aber es ist schon so: Schriften faszinieren mich nach wie vor sehr und es kitzelt einfach immer wieder.
Manchmal vergesse ich dabei, wie alt ich bin! Hin und wieder merk ich es in den Knochen, aber es ist mir wurscht. Dann nehm ich eben ein Schmerzmittel. Wozu gibt es die? … Man gewöhnt sich an die Altersbeschwerden. Wichtig ist es, gelassen zu sein. Wenn sich meine Kinder wieder mal über irgendeine Familienkatastrophe aufregen, versuche ich ihnen zu sagen: Na und?“
Schreiben Sie Ihre Biografie!
„Und welche Erkenntnisse haben Sie durch Ihre Arbeit mit Senioren gewonnen?“
„Für die Arbeit mit älteren Menschen gilt, sie aus der Einsamkeit und der Altersresignation herauszuholen. Ich schlage in solchen Fällen vor: Schreiben Sie Ihre Biographie! Was war Ihnen wichtig, was waren Ihre Erfahrungen? Was hat Sie das Leben gelehrt? Was waren Sie und was sind Sie jetzt? Schreiben Sie das doch auf für Ihre Enkel!
Eine solche Aufgabe löst einen therapeutischen Prozess aus. Und oft ergibt das auch interessante Wahrnehmungen, für die Zeitgenossen und vor allem für die Familie!
Wir wissen nun einmal nicht, wie alt wir werden. Wir sind auf Versuch und Irrtum angewiesen, es gibt keine Norm, an die man sich halten muss. Und wir haben auch kein Beispiel, wie man stirbt. Jeder stirbt auf eigene Weise.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Unser Gespräch hat fast drei Stunden gedauert, und gern hätte ich es noch fortgeführt. Viele weitere spannende Details kamen zur Sprache, die den Rahmen dieses Artikels sprengen würden, die aber Anlass zu weiteren Recherchen geben. So war es ein überaus anregendes Treffen mit Renate Joos und ich freue mich darauf, ihr bei nächster Gelegenheit wieder zuzuhören.
* Nach unserem Gespräch weiß ich es besser: nicht Graphologen tragen zur Aufklärung von Kriminalfällen bei, sondern Schrift-Experten, die kriminologisch arbeiten und durch Schriftvergleich zum Beispiel Testaments- oder Scheckfälschungen aufdecken.
[…] erinnert mich an die Aussage der Graphologin Renate Joos, die bei unserem Gespräch › zum Thema Schreiben mit der Hand sagte, dass die Handschrift eines Menschen eine „gefrorene […]