Wir hatten ihn zufällig in einem sozialen Netzwerk entdeckt: Jim Sullivan, Best Ager Model. Neugierig suchen wir im Internet: da ist ein gepflegter älterer Herr, mit glatter Haut und wachem Blick, den weißen Bart akkurat gestutzt. Er ist in unzähligen Posen auf zahlreichen Werbefotos und Videos zu sehen, als Senior-Darsteller für regionale Firmen und namhafte Unternehmen. Niemals würde man diesem Mann, der mal seriös, mal verschmitzt lächelnd oder fröhlich lachend in die Kamera blickt, seine 80 Jahre ansehen. Jim Sullivan ist 1937 in London geboren und aufgewachsen, nach zahlreichen Stationen in aller Welt lebt er jetzt in der Schweiz und hat erst vor ein paar Jahren mit dem Modeln begonnen.
Wir wollen wissen, wie es zu dieser späten Berufung kam, und treffen den viel gebuchten Herrn, als er auf dem Heimweg von einem Fotoshooting Station in München macht. Das Café Jasmin mit seinem original 50er-Jahre-Dekor schien uns ein passender Rahmen für das Gespräch mit einem Senior im gesetzten Alter, doch Jim hätte auch vor rohem Sichtbeton eine gute Figur gemacht. Der elegante Herr, der mit seinem großen Rollkoffer schwungvoll das Café betritt, wirkt jünger und energiegeladener als mancher Gast, der da mit müdem Blick vor seinem Frühstückskaffee sitzt.
Jim begrüßt uns mit festem Händedruck und lässt sich in das tiefe Sitzpolster sinken. Er kommt direkt aus Rosenheim, von einem zweitägigen Shooting. Während er in seinem Kaffee Crème rührt, erzählt er in einer charmanten Mischung aus Hochdeutsch und Schwyzerdütsch mit englischen Einsprengseln, wie es bei dem Job gelaufen ist.
Wie fast immer, habe er erst vor Ort erfahren, worum es eigentlich ging: er sollte in einer Essenszene den Großvater spielen. Die echten Eltern und Großeltern hatten „seinen Enkel“ zum Set begleitet. „Das ist oft so bei Shootings mit Kindern, und leider führt das manchmal zu Problemen. Gestern war da ein Kuchen, ein wichtiges Requisit für das Shooting, den haben die einfach aufgegessen. Es hat ziemlichen Ärger gegeben, und das hat das Ganze etwas anstrengend gemacht. Aber die Auftraggeber waren sehr nett, ich hab für meine Arbeit ein sehr positives Feedback bekommen. Leider ist das nicht immer so.“
Mal alberner Clown, mal vornehmer Lord
Jim weiß, wovon er spricht. Vor ein paar Jahren ist er für das Werbefoto eines Freundes als Model eingesprungen. Damals haben ihm mehrere Leute bestätigt, dass er sehr fotogen sei. Er hat sich daraufhin eine Zeitlang als Statist verdingt, um zu sehen, wie das in der Modelbranche so läuft. Dann hat er sich mit professionellen Fotos bei verschiedenen Agenturen beworben und wurde sofort gebucht.
Seitdem ist er fast ständig unterwegs zu Foto- und Videoshootings in ganz Europa. Seine Rollen sind vielseitig: mal ist er der gütige Großvater, mal der sportlich-aktive Ehemann, mal spielt er den vornehmen Lord, mal albert er herum wie ein Clown. Es gefällt ihm, in die Rolle zu schlüpfen, die sich der jeweilige Art Director für ihn ausgedacht hat. „Es ist immer ein Abenteuer, eine Challenge“, sagt er. „Das reizt mich und ich möchte es nicht mehr missen.“
Hauptsächlich gefällt ihm am Modeln, dass er ständig andere Menschen kennenlernt, mit denen er redet und Spaß hat, dass er sich bei jedem Job neu beweisen muss und nicht zuletzt, dass er gut bezahlt wird.
Denn das war nicht immer so. Im Laufe seines Lebens musste er oft kreativ sein, um schwierige Situationen zu meistern.
Und dann kamen die Beatles
In eine englische Arbeiterfamilie hineingeboren, hat er als Kind die Bombardierung von London erlebt. Mit 15 gründete er seine eigene Jazz-Band und tingelte mit ihr durch die angesagten Londoner Clubs. Die Militärzeit durfte er als Klarinettist und Saxophonist im Musikkorps der Royal Air Force absolvieren. Dabei hatte er Gelegenheit, Zypern, den Nahen Osten und Teile Afrikas kennenzulernen: Er spielte in verschiedenen Konstellationen verschiedene Arten von Musik, von Big-Band-Jazz bis Klassik. Dann kamen die Beatles mit ihren Gitarren, und Blasinstrumente waren plötzlich out.
Mit 22 gibt er die Musik auf und arbeitet als Buchhalter für einen Importeur deutscher Weine, danach als Account Excecutive in renommierten Werbestudios und schließlich als Textilmanager bei dem bekannten englischen Designer Terence Conran von der Marke Habitat. Doch der EU-Beitritt Großbritanniens 1973 führt zu Schließungen, unter anderem auch in der Textilbranche, und Jim wird arbeitslos.
Er geht nach Korfu und führt dort zwei Jahre lang eine große Disco. Mit seiner Schweizer Freundin zieht er danach für ein Jahr nach München, wo er sich unter anderem als Fensterputzer über Wasser hält. Die beiden heiraten und gehen zusammen in die Schweiz. Zwei Töchter werden geboren, und er arbeitet 21 Jahre lang wieder als Buchhalter: „Obwohl dieser Job überhaupt nicht zu mir gepasst hat“, sagt er. „Aber ich hab ja die Familie ernähren müssen!“
Ausgleich verschafft ihm in dieser Zeit sein aktives Sportlerleben mit erfolgreichen Wettkämpfen im Langlauf und Marathon.
Als er mit 60 in den vorzeitigen Ruhestand entlassen wird, gibt er sich keinesfalls geschlagen. Er arbeitet sich soweit ins IT-Thema ein, dass er Video-Abstracts herstellen kann, die er als Bühnenhintergrund an Musikgruppen in England und Amerika verkauft (Beispiel ››). Er ist heute noch stolz auf diese Idee. Doch der schnelle Wandel im Bereich der Videotechnik führt dazu, dass das Geschäft schließlich zum Erliegen kommt.
Aber Jim lässt sich davon nicht unterkriegen. Genauso wenig wie von ein paar ernsthaften Gesundheitsproblemen, die er mit Zuversicht angeht und überwindet. Er beginnt zu golfen, erreicht Handicap 12 und gewinnt einige Turniere.
Endlich gut verdienen
Und nun, in einem Alter, in dem andere „nur noch ihre Hunde ausführen und über die Nachbarn tratschen“, reist er durch Europa und verdient mit seinen „Abenteuern“ gutes Geld.
Mit der jungen Filmemacherin Marion Bangerter hat er das Video „A new life“ gedreht. Er ermutigt darin Menschen, die aus dem Berufsleben ausscheiden und sich vor den Ungewissheiten des Rentenalters fürchten, das Neue zu wagen und eigene Träume zu verwirklichen:
Text, Darsteller und Erzähler: Jim Sullivan / Kamera und Schnitt: Marion Bangerter
Jim selbst ist das beste Beispiel dafür, wie das gelingen kann. Nach einem langen Leben mit all seinen Hochs und Tiefs hat er nach neuen Herausforderungen gesucht und gefunden, was ihn glücklich und zufrieden macht. Seine Maxime ist: nicht aufgeben, durchziehen, was man sich vorgenommen hat, und dabei Spaß haben..
Wie weit man damit kommt, zeigt diese Anekdote: „Beim Urlaub in Spanien vor vielen Jahren haben wir, meine Frau und ich, uns in eine wunderschöne Gegend verliebt. Wir wollten dort unbedingt ein Ferienhaus haben. Aber unser Geld hat dafür nicht gereicht. Ein paar Jahre lang sind wir dann jeden Morgen um halb sechs aufgestanden und haben Zeitungen ausgetragen. Danach bin ich zur Arbeit gegangen und abends hab ich nochmal Zeitungen ausgetragen. Als wir so genug Geld beisammen hatten, haben wir das Ferienhaus gebaut. Und nach 17 Jahren haben wir es mit großem Gewinn wieder verkaufen können. Davon haben wir uns die schöne Penthouse-Wohnung bei Zürich geleistet, wo wir jetzt unseren Lebensabend verbringen.“
Und dorthin kehrt er am Abend nach unserem Treffen zurück, um sich ein paar Tage auszuruhen, bevor er zu neuen Abenteuern aufbricht.
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