Unsere Tante Luise ist die älteste von fünf Kindern, die nach dem Ersten Weltkrieg im Abstand von zwei Jahren im Sauerland in einer Wassermühle auf die Welt kamen. Sie wurde im Juli 99 Jahre alt und genoss sichtlich ihre Geburtstagsfeier. Ab drei Uhr nachmittags kamen Nachbarn jeden Alters zum Gratulieren und Feiern, das Fest mit etwa dreißig Gästen endete erst mit der Dunkelheit dieses schönen Augusttages.
Luise ist eine echte Löwin, entsprechend wurde für die Geburtstagsfeier im Vorfeld wohl überlegt, was sie anziehen sollte. Sie entschied sich schließlich für eine lachsfarbene Bluse und Korallenschmuck und legte großen Wert auf ein leichtes Rouge, „um nicht zu blass auszusehen“.
Unsere jüngere Tante Hilla ist die vierte der Geschwister. Sie wird bald 93, sieht jedoch aus und bewegt sich wie höchstens Mitte 70. Sie ist eine weltoffene, fröhliche Schützin, was Äußerlichkeiten angeht eher lässig, bequem und praktisch, um stets schnell losspurten zu können. Sie schmeißt den Haushalt noch immer ziemlich selbständig und versorgt ihren inzwischen doch etwas verkleinerten Bauerngarten mehr oder weniger ohne fremde Hilfe. Vor allem aber kümmert sie sich rührend um Luise, die trotz des täglichen, dreimaligen Pflegedienstes ohne ihre Hilfe in ein Heim müsste. Hillas Kommentar: „Ich bin Altenpflegerin mit 92“.
Beide sind immer gut gelaunt und lachen gern
Beide sind immer gut gelaunt, allenfalls nörgelten sie wegen des Gartens über den trockenen Sommer, denn die Ernte fiel ja entsprechend kleiner aus. Beide essen fünf Mal am Tag, sind aber trotzdem schlank (keine großen Portionen). Sie lesen täglich die Tageszeitung, regelmäßig das Kirchenblatt und diverse regionale Blättchen. Abends sehen sie im TV Nachrichten, vor allem den Wetterbericht, danach bevorzugen sie Sendungen zum Lachen. Dafür wird bereits nachmittags das TV-Programm studiert.
Auf dem Tisch im Fernsehzimmer zwischen ihnen stehen Pralinen, Bonbons, Schokolade und manchmal Obst. Ab und zu gönnen sie sich ein Likörchen. Ansonsten trinken sie selten Alkohol, manchmal sonntags zum Essen ein Gläschen halbtrockenen Wein.
Hier ist immer Tag der offenen Tür
Bei ihnen ist immer was los, Menschen aller Altersgruppen und verschiedenste Tiere aus der Nachbarschaft kommen regelmäßig vorbei und werden individuell verwöhnt: Für Mischling Lieschen aus Rumänien, die Hündin vom Fischzüchter, wird gekocht, Retriever Tina kriegt was Knuspriges, die Katze in der ehemaligen Scheune liebt Fisch und Leber und für sonstige Streuner werden vorsorglich auf einem Baumstumpf vor dem Haus dicke Knochen als kleine Stärkung deponiert.
Meine Schwester Gabi und ich haben die beiden gefragt, was glaubt ihr, ist der Grund für euer zufriedenes Leben und erhielten in einem längeren Gespräch nach und nach folgende Antworten. Meistens sprach Hilla in Wir-Form und Luise pflichtete mit „richtig“, „genau“ oder „stimmt“ bei, manchmal ergänzte sie auch. Beispielsweise erinnert sich erstaunlich gut an Details, namentlich wenn es um Kräuter und selbstgemachte Salben geht, darin war sie Spezialistin:
„Wir hatten von Kindheit an immer ein sicheres Zuhause mit viel Platz, sind umgeben von netten Menschen und wir sind Gott sei Dank gesund. Dafür haben wir allerdings auch zeitlebens viel getan. Wir haben aus unserem Garten gelebt, Minze, Melisse, Salbei und Ringelblumen für Tees geerntet und natürlich viel Obst, Nüsse und Gemüse. Wir hatten Hühner, frische Eier und Fische, davon haben wir uns im Wesentlichen ernährt. Bis heute macht uns die Gartenarbeit zufrieden, wir freuen uns, wenn alles wächst und reift und blüht und wir die Jahreszeiten erleben.“ Und Luise ergänzte: „Ohne unsere Ringelblumen- oder Beinwellsalbe geht’s einfach nicht, die sind das Beste für unsere Knochen.“
Ohne zu arbeiten, wäre das Leben langweilig
Wir haben sie gefragt, wie sie denn immer alles mehr oder weniger alleine geschafft haben, denn in der Haupterntezeit ging es ja Schlag auf Schlag. Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Blaubeeren, Äpfel, Pflaumen oder Birnen wurden reif und wollten geerntet oder eingekellert oder zu Marmeladen und Säften gekocht werden. Und nicht nur das, sie brauchen reichlich Tannenzapfen, mit denen sie ihren Küchenherd anmachen und die einen so guten Duft verbreiten.
Hilla meinte: „Irgendwie kamen immer Leute vorbei, die mitgeerntet haben, sie kriegten was ab und so waren wir alle zufrieden. Aber das war ja nicht alles, zu unserem Leben gehörten auch immer unsere Tiere. Inzwischen sind es ja nur noch Adoptivtiere. Wir füttern ja das ganze Jahr über hunderte unterschiedlichste Vögel, manchmal verirren sich auch Eichhörnchen zu uns. Wir freuen uns täglich über ihr Gezwitscher und die vielen Ständchen, je nach Jahreszeit. Auch Hunde und Katzen aus der Nachbarschaft besuchen uns regelmäßig, dann kriegen sie was Gutes und werden gestreichelt. Lieschen haben wir erst einmal beigebracht, Pfötchen zu geben.“
Und weiter: „Ihr wißt ja noch, der Opa sagte immer: Arbeit macht das Leben schön, ohne zu arbeiten wäre das Leben langweilig. Das stimmt. Klar, wir konnten selbst bestimmen, was wir tun wollten, und das waren unser Garten und unsere Tiere. Dennoch hatten wir einen festen Rhythmus, Tiere warten nicht, sie haben Hunger und wollen raus und Unkraut wuchert oft schneller als das, was man ernten möchte. Dann muß man ran.
Als wir älter waren, haben wir die Tiere nach und nach abgeschafft, als letzte die Hühner. Doch wir machen weiter so gut wir können und haben ein volles Programm.“ Luise meinte: „Ja, ich hab den Weg zum Stall einfach nicht mehr geschafft und zum Schluss kostete ein Ei einen Euro“.
„Wir haben dauernd Besuch, das hält uns ganz schön auf Trab.“
Wir haben sie dann gefragt, ob es ihnen denn nicht langweilig ist, immer zu Hause zu sein, schließlich waren sie ja früher dann doch immer mal wieder mit Gruppen auf Achse, Hilla ist sogar mit 80 zum ersten Mal nach Mallorca geflogen. Das hat sie sich von uns zum Geburtstag gewünscht.
Sie meinte: „Nein, wir haben so viel gesehen, das vermissen wir nicht besonders. Wir verreisen im Fernsehen, da sieht man alles viel genauer und bequemer. Und langweilig ist es uns auch nicht. Wir haben dauernd Besuch von Freunden und Nachbarn, zu denen wir immer ein gutes Verhältnis hatten. Unser Besuch hält uns ganz schön auf Trab: Tiere füttern, Kaffee kochen, Kuchen backen, Tisch decken…
Umgekehrt kriegen wir auch viel Hilfe. Einer fährt und zum Einkaufen, der nächste mäht den Rasen. Oliver (der Fischzüchter von nebenan) versorgt uns mit Fisch. Unsere Währung sind Nuß- oder Marmorkuchen oder Plätzchen nach Wahl.“
Gegenseitiges Geben und Nehmen macht alle zufrieden
Der vor kurzem zugezogene, allein lebende Albaner Les hat Familienanschluß, leistet kleine Hilfen und darf dafür das Treibhaus mit gesamtem Gerät für sich nutzen. Freiwillig liefert er von seiner Ernte Kartoffeln, Gurken oder Tomaten. Er liebt die beiden, schafft ihnen Holz für den Ofen herbei und sagt immer „meine Luise“ und nimmt sie in den Arm, oder zu Hilla: „meine Mama“. Hillas Kommentar dazu: „Das muß mir erst mal einer nachmachen, mit 92 Mutter werden“. So nebenbei kriegt er Deutschunterricht und, wenn er abends nach Hause kommt, ein alkoholfreies Weißbier in der Küche und wenn er mag, was zu essen.
Bei diesem permanenten Austausch sind alle zufrieden.
Bis noch vor einigen Jahren wurde viel in unserem Gartenhaus gefeiert. Da saßen sie dann zu sechst, jeder hatte sein Spezialgetränk, und hatten Spaß. Nicht nur, aber auch für diese Treffen setzten sie selber Liköre an, einige tranken aber auch Wein oder Sekt. Über diese Zeiten wird gerne gesprochen und gelacht, vor allem über die Männer, die den selbstgemachten Obstwein unterschätzten und torkelnd nach Hause gebracht werden mußten.
Wir haben sie zum Thema Feiern gefragt und sie meinten:
„Ja, das geht so nicht mehr, nach und nach sind fast alle gegangen. Wir gucken uns aber ab und zu die Fotos von unseren Partys an und alles ist wieder da. Wir sind nicht traurig, weil wir nicht alleine sind und so viele neue Menschen um uns haben, wer kann das in unserem Alter schon sagen.“ Und Luise meinte trocken: „Eher manchmal zu viele“.
„Wir sind mit Nächstenliebe immer gut gefahren.“
Unsere Familie ist streng katholisch. Wir haben die beiden gefragt, was ihnen im Leben moralischen Halt gegeben hat.
Hilla meinte: „Wir waren immer erdverbunden, haben durchgehalten und sind konsequent. In unserem Leben sind wir mit Glaube, Anstand, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und vor allem Nächstenliebe immer gut gefahren. Wir haben früher vielen Menschen in Notsituationen geholfen, nun kriegen wir es irgendwie zurück.
Wir beten täglich und regelmäßig kommt der Pastor und hält bei uns eine Andacht.“ Und Luise ergänzt: „Das ist jetzt ein kleiner Inder, der alte ist in Pension“.
Wir haben sie gefragt, wie sie sich erklären, dass bei ihnen auch im Alltagsleben immer was los ist. Man kann quasi zu jeder Tageszeit kommen, meistens hockt schon jemand am Tisch. Die beiden finden das normal.
Hilla meint dazu: „Ja, wir sind halt immer zuhause und in unserer Küche ist es warm, das wissen die Leute. Wir leben geregelt und es gibt immer Kaffee und Kuchen. Für manche sind wir auch eine nostalgische Anlaufstelle. Denkt mal an Lore (75), die kam schon mit ihrem Papa zu uns als sie vier war. Ja, und die Kinder von nebenan kommen auch gerne und lassen sich von früher erzählen; manchmal male ich auch mit denen oder wir basteln.“
Ihr einziger Wunsch: gesund und selbstständig zu bleiben
Wir haben sie nach den Finanzen gefragt, denn wir wissen, daß sie eigentlich mit Geld nicht viel am Hut haben. Sie hatten nie zu viel, aber immer genug. Wir sind aber ziemlich sicher, sie wußten nie genau, wieviel sie hatten, denn erst waren die Eltern zuständig, später unsere verstorbene Mutter.
Hilla meinte augenzwinkernd: „Wir haben Geld genug, außerdem brauchen wir nicht viel. Wir haben unseren Garten, unser Obst, Tomaten und Kräuter, und was wir nicht haben, tauschen wir mit den Nachbarn oder wir kaufen es uns. Außerdem füllt ihr uns ja unsere Gefriertruhe regelmäßig auf, damit wir nicht kochen müssen, bis auf Gemüse, Salat oder Kartoffeln. Das schaffen wir prima, und nicht zu vergessen: Nachtisch. Sonst ist es kein richtiges Mittagessen. Ansonsten brauchen wir wenig. Wenn was fehlt kauft ihr es uns, mal Schuhe, Wäsche oder Kleider. Im Haushalt hat Mutter immer auf Qualität geachtet, gute Wäsche gekauft und unsere Möbel haben ganze Generationen nicht klein gekriegt.“
Wir haben sie zum Schluß gefragt, was sie sich wünschen. Auch hier kam Hillas kurze und praktische Aussage: „Ich hoffe, wir bleiben gesund und selbständig und können hier im Hause bleiben.“ Und Luise bekräftigte: „Jawohl“, was mehr wie „jawoll“ klang.
Das wünschen meine Schwester und ich ihnen auch von Herzen. Wir tun alles dafür, dass es so bleibt, dass wir demnächst Hillas 93. und nächstes Jahr Luises 100. Geburtstag gemeinsam feiern und wir mit und über unsere originellen Tanten noch viele Jahre lachen können.
dodo lazarowicz schreibt
was für eine bezaubernde geschichte, dankeschön. man möchte sofort fragen, ob man das nächste mal mitfahren und dort eine weile bleiben nd viel vo den beiden tollen damen abgucken darf.
herzergreifend, ein lehrstück für gutes leben.
Cornelia von Schelling schreibt
Da hat die Mechthild aber einen lebendigen, witzigen, richtig anschaulichen Beitrag geschrieben! Mechthild ist seit Jahrzehnten meine Freundin und hat oft von ihren Tanten erzählt – jetzt sehe ich die alten Damen endlich vor mir, dank Mechhilds eingängiger Schilderung! Eines noch : ohne die Fürsorge und unbeirrbare Liebe der Nichten wären Hilla und Luise nicht so fröhlich und ausgeglichen wie sie es heute sind – mit fast hunder Jahren. Das weiß ich, den Mechthild sagt gefühlt jeden Monat : Ich fahre jetzt wieder zu meinen Tanten…