Begegnung im Park
Es ist heiß, zu heiß für irgendetwas. Trotzdem gehe ich in den Englischen Garten, brauche Bewegung. Auf der Hälfte der geplanten Strecke winkt eine Bank im Schatten. Ich setze mich, leere meine Wasserflasche bis auf einen kleinen Rest, meine Notfallration. Der Himmel ist knallblau. Die hohen, alten Buchen recken ihre grünen Kronen hinein. Ich krame in meiner Tasche nach einem Buch.
»Gestatten Sie?«
Zwei Schritte vor mir steht ein älterer Mann, offensichtlich mit der Absicht, sich ebenfalls auf meiner Bank auszuruhen. Nicht begeistert, aber höflich wie ich bin, sage ich »ja« und rutsche etwas zur Seite. Er hat dichte graue Haare und einen ebensolchen Vollbart, gepflegt.
Irgendwie habe ich jetzt keine Lust mehr zu lesen, aber mir ist auch nicht nach einer Unterhaltung. In ein paar Minuten werde ich weitergehen.
Der Mann seufzt und trocknet sich das Gesicht mit einem großen, weißen Tuch. Die Samariterin in mir kann das nicht eiskalt übergehen.
»Geht es Ihnen nicht gut? Heute ist es aber auch sehr heiß«, sage ich.
»Ja, ich leide«, sagt er, »mit dem Wetter ist es nicht mehr wie früher.«
»Da haben Sie recht, der Klimawandel. Die Hitze ist nicht gut für den Kreislauf.«
Er macht eine wegwerfende Handbewegung als sei das nicht sein Problem.
Der Mann sieht fremdartig aus
»Es soll bald kühler werden und windig«, sage ich, zücke mein Handy und klicke die Wetter-App an.
»Dieses Teufelszeug!« donnert mein Sitznachbar los.
Ich schaue ihn entgeistert an. Jetzt fällt mir auf, dass er eine Art Kaftan trägt oder einen langen, hellen Russenkittel, was fremdartig aussieht, aber er spricht ohne Akzent. Er schnaubt wütend und gekränkt.
»Was meinen Sie?« frage ich.
Er deutet auf mein Handy-Display als wäre da etwas Ekliges.
»Wettervorhersage, Meteorologie«, er spuckt die Wörter verächtlich aus. »Jahrtausendelang genügte es, die Wolken und das Verhalten der Tiere zu beobachten…«
»Naja«, wende ich ein »Wettersateliten, Wissenschaft, das ist schon präziser.«
»Und was nützt es? Gibt es mit all der Wissenschaft weniger Unwetter, weniger Dürren?«
»Das nicht, aber man kann solche Wetterereignisse vorhersagen und warnen.«
»Warnen!« Er lacht verächtlich.
Ich denke an die Überschwemmung im Ahrtal und die Brände auf Maui. Da hat er einen Punkt.
Ich denk, ich spinne
»Früher konnte man etwas dagegen tun!« behauptet er.
»Tun? Was denn?«
»Bittprozessionen, Opfergaben, Gelübde, anderswo auch Regenmacher.«
Ich denk, ich spinne.
»Und das hat geholfen?«
»Manchmal ja, manchmal nein.«
Jetzt sehe ich auf seinem Gesicht ein überlegenes Grinsen.
»Jedenfalls hatten die Leute das Gefühl, sie könnten eine höhere Instanz beeinflussen, oder sie seien selbst schuld.«
Er lächelt selbstgefällig.
»Es war etwas Spirituelles und nicht so unpersönlich und profan wie heute.«
Er steht auf und schickt sich an zu gehen. Zeichnet sich da unter seinem Hemd ein großer Schlüssel ab?
Verwirrt sage ich: »Grüß Gott.«
Und er: »Gerne!«
Ich brauche jetzt dringend den Rest aus meiner Wasserflasche.
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Was nicht passt
»Clemens, du bist paranoid!« sagt meine Frau immer wieder. Das finde ich nicht, ich bin realistisch und vorausschauend. Sie, Lisa, dagegen ist naiv und leichtsinnig.
Wir streiten oft. Besonders seit wir hier heraus gezogen sind auf den Einödhof.
Da hier früher auch eine Käserei war, gibt es einen großen Keller, ideal als Schutzraum. Ich habe ihn ausgebaut, Vorratsregale, Küche, Feldbetten, Wasseraufbereitungsanlage, Medikamente, Werkzeuge, Waffen… unkaputtbare Tür.
»Das ist so krass«, sagt Lisa. »Ich glaub’s nicht, dass ich mit einem Prepper verheiratet bin. Ihr spinnt doch alle!«
»Du wirst mir noch mal dankbar sein, wenn ich mit meiner Umsicht dein Leben gerettet habe«, sage ich dann.
Aber damit gieße ich nur Öl ins Feuer.
»Du begräbst uns jetzt schon lebendig«, keift sie, »das ist doch kein Leben, nichts als Sorge und Misstrauen, weder Freunde noch Spaß… und was das kostet! Wir könnten reisen…«
Was ich verbrauche, muss ich ergänzen
Das kann ich so nicht auf mir sitzen lassen und hole für sie und für Weihnachten einen Tannenbaum aus dem Wald. Wir haben zwar unsere Schwierigkeiten, aber ich will Lisa auch nicht vergraulen. Wenn der Ernstfall da ist, sollte ich nicht allein im Bunker sitzen müssen, womöglich für Monate oder noch länger.
Weil ich schon mal im Wald bin, schlage ich gleich noch Holz für den Kamin. Ich habe zwar einen ausreichenden Holzvorrat, aber wenn ich etwas davon verbrauche, muss ich das auch wieder ergänzen.
So mache ich es mit allem.
Natürlich bin ich mit Gleichgesinnten auf mehreren Foren vernetzt. Wir tauschen uns über die Gefahrenlage aus, geben Tipps für Ausrüstung und Rückzugsorte.
Es kursieren allerdings die unterschiedlichsten Ansichten über mögliche Szenarien, das ist verwirrend. Da bin ich froh, dass ich einen gefunden habe, Lars nennt er sich, der so tickt wie ich.
»Wir sollten uns mal treffen«, schreibt er, und wir haben unsere Koordinaten ausgetauscht.
Das mit dem Tannenbaum und dem Kaminfeuer hat nicht so gewirkt, wie ich gehofft habe.
»Lass mich zufrieden mit diesem mickrigen Romantikscheiß!« hat sie gebrüllt und angekündigt, dass sie mich verlassen wird.
Seitdem ist Funkstille zwischen uns, wir reden nur das Nötigste. Ich weiß nicht, wann sie geht, wie, und ob überhaupt.
Ich bekomme weiche Knie
Heute will ich einen Erkundungsgang machen, da steht ein Mann im Hof. Er trägt einen Tarnanzug. Offensichtlich ist er mit dem Jeep gekommen, der dreckverspritzt in der Einfahrt steht.
»Ich bin der Lars«, sagt er, »ich dachte, wir könnten mal ausloten, ob wir uns eventuell zusammentun, so überlebensmäßig …«
Ich trete näher und checke in ab.
Dieses breite Kreuz, die schmalen Hüften, langen Beine, und dann diese Locke, die ihm in die Stirn fällt, seine männliche und doch sanfte Stimme… , ich muss schlucken und bekomme weiche Knie.
Tschüss, Lisa, denke ich und sage: »Komm doch erst mal rein, Lars.«
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Wohin soll das noch führen?
Heute in der Bäckerei. Alle im Laden Anwesenden tragen Masken, wegen Corona.
Die junge Frau vor mir sagt: »Ein Transbrötchen bitte«.
Die Verkäuferin fragt nicht nach und protestiert nicht. »Sonst noch etwas?«
Ja, sonst noch etwas?! denke ich. Jetzt gibt es nicht nur Trans-Männer und -Frauen, sondern auch schon Transbrötchen! Was war denn dieses Brötchen vorher? Vielleicht eine Brezen? Kann man dann bitte Brezensemmel sagen? Oder war’s ein Bienenstich? Was ist denn in den gefahren? War er sich zu süß? Wollte er endlich einen Leberkäs zwischen seinen Hälften spüren? Wie ging das mit der Transformation? Sicher ein aufwendiger Prozess, und wer bezahlt das?
Soll das jetzt immer so weiter gehen? Ein Schwein möchte lieber ein Schaf sein, eine Kerze will als Glühbirne leuchten, ein Engländer entdeckt in sich den Italiener? Alle suchen sich aus, was sie sein wollen? Immer das Gegenteil vom jetzigen Zustand?
Eigentlich gibt’s das schon lange
Obwohl, wenn ich darüber nachdenke, gibt’s das ja schon lange:
Polizisten, die Kriminelle werden, Schülerinnen werden Lehrerinnen, warum soll aus einem Loser nicht ein High Performer werden können? Aus einer ledigen Frau Schulze wird eine verheiratete Frau Müller-Schulze – Sind wir nicht alle ein bisschen trans?
Als ich gerade überlege, wie sich das mit dem Sport und dem Transport verhält, und ob da nicht ein »s« fehlt, ist die junge Frau mit ihren Einkäufen fertig und geht.
Ich trete an die Theke.
Direkt vor meiner Nase sehe ich ein kleines Schild: »Franzbrötchen 1.80 €«.
(Franzbrötchen ist ein ursprünglich vor allem in Hamburg verbreitetes Gebäck mit Zimt, es soll von Franzosen eingeführt worden sein. Jetzt gibt’s das auch in München.)
dodo lazarowicz schreibt
Am Besten „schmeckt“ mir das „Transbrötchen“.. Auf welch krude Gedanken man so in einer Bäckerei verfallen kann.