Warum ich alles erst jetzt aufschreibe? Zehn, zwanzig, ja dreißig Jahre später?
Seit einem Jahr bin ich im Ruhestand oder in Pension, wie man auch sagt. Letzteres klingt weniger alt, der Pflege gefühlt entfernter. Das bilde ich mir wenigstens ein. Oder hoffe es. Mit der Hoffnung, dass ein solcher Zustand nie eintreten möge, leben viele. Die Statistik untergräbt die Fundamente dieses Wunsches ohne jegliche Rücksicht. Bitter!
Die Todesanzeigen rücken seit der Zur-Ruhe-Setzung noch stärker als zuvor ins morgendliche Interesse. Allein, weil man mehr Muße für die Zeitungslektüre aufbringen kann. Die Husumer Nachrichten unterlegen neuerdings die Anzeigenseite für Familienmitteilungen mit einem dezenten Beige, das hebt sie würdevoll ab von den Anzeigen, die die Muttersprache abgeschrieben haben wie SALE und Late night shopping.
Ein paar Jahre könnten noch drin sein
Dass die neunzehnhundertzehner und -zwanziger Jahrgänge dabei sind, ihr irdisches Dasein zu beenden, entnehme ich dem Text über ihr »erfülltes Leben«. Bei den -dreißigern geht ein prüfender Blick unwillkürlich auf das genaue Geburtsjahr. Na ja, dreizehn Lenze könnten demnach noch drin sein, denke ich.
Inzwischen sterben nicht selten Gleichaltrige oder solche, die nur wenig älter sind. Ich versuche, zwischen den Zeilen der Traueranzeigen Näheres, für mich Tröstliches zu ergründen: »Plötzlich und unerwartet« rauchte sicher oder hatte erhebliches Übergewicht. »Nach langer und schwerer Krankheit« gemahnt an den nächsten Vorsorgetermin. Und so fort. Zeit fühlt sich auf einmal anders an.
Zur Stärkung der Hoffnung, es möge noch einige Jährchen so weitergehen, ist jedes Mittel recht.
Ich versuche es mit Schreiben. Und wirkte es nur als Placebo.
Zweimal hatte ich den Sprung ins Ausland gewagt
Die Geschichten handeln von meinem Leben als Lehrer an deutschen Schulen im Ausland. Zweimal hatte ich mit meiner Familie den Sprung ins Ausland gewagt. Mehr als sechzehn Jahre kamen zusammen. Nach meiner Pensionierung machte ich als Schulinspektor der Deutschen Auslandsschulen weiter.
Im Oktober 2012 reiste ich mit zwei Kollegen zur Inspektion der Deutschen Schule Visconde Seguro nach São Paulo. Ein wegen Allerseelen unverhofft langes Wochenende bescherte Andreas, einem Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, und mir einen Abstecher nach Rio de Janeiro. Andreas kannte Rio noch nicht. Er war als Lehrer nie im Auslandsschuldienst tätig gewesen.
Obwohl Spätbucher, freuten wir uns, es in die erste Reihe der Copacabana geschafft zu haben. Das Hotel war, wie wir vor Ort unschwer feststellten, in die Jahre gekommen. Mein Zimmer, 2. Stock, hatte kein Tageslicht. Das einzige Fenster mündete in einen fünf mal fünf Meter messenden Innenschacht mit ständig laufenden Klimaanlagen. Zum Licht waren es noch dreizehn Stockwerke. Andreas logierte nicht komfortabler. Extreme Spätbucher eben.
Ich begann zu erzählen
Wir durchpflügten drei Tage lang den warmen Sand des Strandes, schlenderten durch die verfallende Altstadt, vertrauten uns einem Touristikunternehmen an, das an der Rezeption mit dem Corcovado und Zuckerhut warb. Andreas machte Fotos. Eine anstrengende Inspektionswoche wirkte nach. Die vielfältigsten Eindrücke und Gespräche verknüpften sich mit meinen Erinnerungen aus fast siebzehn Auslandsjahren. Mit abenteuerlichen Touren, mit Ereignissen und Herausforderungen, mit denen man nie konfrontiert worden wäre, hätte man den Schritt nicht gewagt und wäre stattdessen zu Hause geblieben.
Und ich begann zu erzählen.
Die Empfehlungen oder treffender noch Warnungen meiner Frau, ich sollte doch bitte nicht jeden Satz mit »Aber bei uns in Peru« oder »An der Deutschen Schule in Bogotá« beginnen, konnten mich nicht bremsen. Die Gedankenflut ließ sich nicht aufhalten. Ich bat Andreas, mir ohne Umschweife zu sagen, wenn es ihm zu viel würde. Ich sei mir meines Überfalls mit diesen Auslandslehrergeschichten bewusst.
Er versicherte mir, das seien Geschichten zum Aufschreiben.
Was sagen Sie dazu?