Salem war von seinen Kameraden im Gaza getrennt worden. Die Israelis waren tief bis zum Süden des Gaza vorgedrungen. Sie, die Verteidiger, hatten dem Vorstoß nicht viel entgegenzusetzen. Die Panzer waren nicht zu stoppen und der Artilleriebeschuss sowie die Fliegerattacken taten ein Übriges, sie zurückzudrängen. Salem war von seinen Kameraden getrennt worden und hatte sich hinter eine schon bröckelnde Wand gedrängt. Der Beschuss durch die Panzer machte aber seine Situation vollends unerträglich, denn wenn die Mauer zusammenbrach, war er erledigt. Und das konnte ganz schnell passieren.
Seine Lage war schwierig hinter einer bröckligen Hauswand. Er blickte sich um, doch seine Leute waren nicht mehr zu sehen. Niemand von den Zivilisten war auf der Straße, nur einige Hunde jaulten und streunten mit hängenden Ohren um die Ruinen. Er musste etwas unternehmen, das war klar. Auf der anderen Straßenseite erspähte er einen Bombentrichter, ziemlich breit und anscheinend tief genug, um sich zu verstecken. Mit raschen Sprüngen würde er über die Straße hechten und in dem Trichter verschwinden. Und dann sich hinwerfen und einen toten Palästinenser markieren.
Plötzlich lag eine unheimliche Stille über dem Gelände
Währenddessen schossen die Scharfschützen des Gegners zum Zeitvertreib auf die Hunde, und wenn sie einen getroffen hatten, kläffte und schrie der arme Teufel wie ein Kind. Das machte diese Todeszone noch grausiger. Nebelschwaden waberten in einer Brise, die vom nahen Meer kam, hin und her.
Eine Panzergranate riss mit ohrenbetäubendem Krachen ein riesiges Loch in das Haus gegenüber. Verflucht, hörten die mit ihren furchtbaren Spielchen überhaupt nicht mehr auf?
Doch plötzlich war es ruhig. Eine unheimliche Stille lag über dem Gelände. Es war, als hätten sie alle beschlossen, nach Hause zu gehen, nicht mehr weiter zu kämpfen und sich hinzulegen und endlich mal zu schlafen, nur noch zu schlafen.
Er musste hier verschwinden, musste über die Straße rennen und sich in den Trichter stürzen. Er blickte angestrengt hinter dem Vorsprung der Mauer hervor in die nördliche Richtung, von der die Panzer und die Infanterie zu erwarten waren, aber er sah niemanden, nicht mal mehr Hunde waren auf der Straße.
Es schadete nicht, Allah zu danken, dass er bis hierher gekommen war
Er packte seinen Karabiner mit der Rechten, presste ihn an den Körper, duckte sich und rannte mit großen Schritten aus seiner Deckung zu der Stelle, wo er den Bombentrichter vermutete. Mitten im Sprung nahm er das trockene Knallen eines Gewehrs wahr und dann das hektische Gebell eines Maschinengewehrs. Das gilt mir, fuhr es ihm durch den Kopf, aber da war er schon auf der anderen Seite, hatte mit einem seitlichen Blick die Tiefe des Kraters erkannt und sich blitzschnell hineinfallen lassen. Er rutschte die steile Wand entlang und spürte die rauen Steinbrocken, die seine Beine und seinen Arsch schrammten. Tief aufatmend griff er nach seinem Gewehr, es war zum Glück noch da, er war also nicht wehrlos, wenn ihn einer der Soldaten entdecken würde.
Er hatte es geschafft und war auf den Grund des Trichters gelangt. Eine Weile lag er regungslos an der Wand. Seine Lage war beschissen, auch Allah konnte ihm nicht mehr helfen, aber es schadete nicht, an ihn zu denken und ihm zu danken, dass er bis hierher gekommen war. Wo die anderen wohl waren? Vielleicht waren sie längst tot oder lagen irgendwo im Dreck der Straße und schrien um Hilfe.
Sein Feind lag da vor ihm, ein verwundeter Israeli
Plötzlich flackerndes Maschinengewehrfeuer. Das Echo stülpte sich über die Stille und wie auf Kommando fiel ein Inferno von Detonationen über ihn her. Er hielt sich die Ohren zu. Was blieb ihm noch? Salem grinste, als er sich vorstellte, dass er einen Toten spielte, der es nicht mehr wert war, mit Schüssen zerschossen zu werden.
Mitten in seine Gedanken platzte ein Schlurfen und ein lautes Kratzen. Dann torkelte ein Mann schwerfällig in den Trichter und landete ihm gegenüber auf dem Rücken. Er blutete an der Seite und sein Stahlhelm hing ihm halb ins Gesicht. Der Sturz hatte ihn wohl ohnmächtig gemacht, denn er blieb so liegen, wie er heruntergefallen war.
Er sah genauer hin – ein verwundeter Israeli war das, ihm gegenüber lag ein verwundeter Israeli! Verdammt, das hatte ihm noch gefehlt! Ob er schon gesucht wurde? Er hielt den Atem an. Scheiße, sein Feind lag vor ihm.
Was sollte er tun: ihm helfen? Oder ihm die Kehle durchschneiden?
Sollte er ihm helfen? Vielleicht war er nicht so schwer verwundet, und er konnte ihm sein grauweißes Hemd ausziehen, es um seinen Karabiner wickeln und über dem Kraterrand schwenken. Aber ob das funktionierte? Ob sie ihn nicht wegputzen würden, einen miesen Trick vermuten, mit dem er sie überraschen wollte, als Selbstmordattentäter?
Oder sollte er ihm sofort den Rest geben, ihm die Kehle durchschneiden? Einem verwundeten, wehrlosen Kämpfer? Immerhin war es ein Soldat, und dann gab es wieder einen weniger von ihnen! Vielleicht war er aber auch schon tot? Der andere rührte sich nicht, er lag mit geschlossenen Augen da.
Er musste ihm helfen, auch wenn er sein Feind war. Salem robbte sich an ihn heran und legte einen Finger auf die Halsschlagader. Nur ganz verhalten fühlte er den Blutfluss, der Mann lebte also noch. Er knöpfte ihm den Uniformrock auf und sah nach der Wunde. Das Blut hatte aufgehört zu fliessen. Der da brauchte Hilfe, schnelle ärztliche Hilfe, denn die Wunde war ziemlich lang und tief und gezackt. Er riss einen Teil seines eigenen Hemds heraus, nicht so weiß wie das des Soldaten, aber es reichte, die Wunde zu bedecken und sie vor weiterem Schmutz zu schützen.
Sie konnten alle hopsgehen in dieser Situation
Er hörte wieder ein schlurfendes Geräusch, und als er hoch sah, bemerkte er einen Jungen, der über den Rand des Trichters lugte. Scheiße, was wollte der hier? War der wahnsinnig geworden, sich mitten unter die Kämpfenden zu wagen? Er rief hinauf: „Hau ab, verschwinde, geh zu deiner Mutter!“ Aber dann fiel ihm ein, dass er vielleicht gar keine Mutter mehr hatte und alleine hier herumschlich um sein bisschen junges Leben zu retten. Seine erste Wut war auf einen Schlag verraucht, und der Junge tat ihm leid, wie er so ruhig und versonnen zu ihm heruntersah.
Und plötzlich stand neben dem Jungen auch noch ein räudiger Hund und winselte vor sich hin. Was sollte er tun? Sie alle konnten mit einem Male hopsgehen in dieser Situation, er, der Junge und der Hund, und der da neben ihm, mit seinem schwindenden Leben.
Salem schloss für einen Augenblick die Augen. War es das nun gewesen in seinem Leben? Er mit seinen zwanzig Jahren und der Soldat dort, kaum älter. Er schlug sich an die Stirn, immer wieder, sollte er hier mit dem anderen krepieren?
Er wollte noch nicht sterben, er war kein Selbstmörder, sondern ein ehrlicher Freiheitskämpfer. Und es wurde ihm schlagartig klar, dass es auch um den Jungen da oben ging und dass es einfach sinnlos war, sich gegenseitig zu massakrieren und die Zukunft zu vernichten. Jetzt zählte nur noch ihr nacktes Leben. Er dankte Allah, dass er ihn bisher beschützt hatte, aber es war Wahnsinn, das von Allah geschenkte Leben einfach wegzuwerfen. Ja, es zu zerstören! Er musste aufhören, er wollte nicht mehr.
„Tu es, du machst Allah damit eine Freude.“
Er war am Ende. Nie mehr so daliegen, nie mehr einem nicht helfen können, der verrecken würde, auch wenn es sein Feind war! Er hatte die Schnauze voll von all dem Getöse um Rache und Vergeltung. Und dass diese Kerle für ihre Taten ins Paradies kommen würden, das hatte er sowieso nie geglaubt. Hier war doch das Paradies, auf diesem Planeten, der keine Kriege mehr brauchte, sondern Menschen, die sich nicht mehr in die Luft sprengten und sich totschossen und ihre Häuser zerstörten und ihre Kinder und all die Menschen töteten, die um sie waren.
Er musste dem da helfen, auch wenn er sein Feind war, und der Junge sollte dabei mitwirken. Er zog seine verschmutzte Jacke aus und riss sich sein stinkendes Hemd vom Leib. Dann spießte er einen Fetzen davon auf die Mündung seines Karabiners und befestigte ihn so gut es ging. Langsam kroch er hoch zu dem Jungen und hielt ihm das Gewehr hin. „Da liegt ein Verwundeter, ein Israeli“, er hustete und spuckte Schleim.
„Nimm den Karabiner und winke mit dem weißen Fetzen, auf ein Kind schießen sie hoffentlich nicht. Und wenn doch, spring einfach herunter. Sie kommen dann schon.“ Der Junge sah ihn ungläubig an. „Tu es, du machst Allah damit eine Freude. Also fang schon an, hast du mich verstanden?“
Der Junge sah ihn an und kniff die Augen zusammen. „Warum hilfst du dem Feind?“ „Soll ich den da krepieren lassen, he? Nun mach schon, für ihn und mich ist der Kampf aus, verstehst du das?“ Der Junge blickte ihn an, dann nickte er und hangelte sich das Gewehr hoch. Er richtete er sich auf und umfasste den Kolben des Karabiners, stemmte ihn hoch und schwenkte den grauweißen Fetzen des Hemds hin und her. Salem lächelte und blickte zum Rand des Kraters.
Auch der Hund war ein Lebewesen, wie er, der Israeli und der Junge. Er hörte den Hund leise jaulen und spürte, wie er seine Haare beschnüffelte. Er streckte seine Hand nach ihm aus und kraulte ihn ein wenig, und er fühlte die feuchte Schnauze des Hundes an seinen Fingern.
dodo lazarowicz schreibt
Das ist eine hoch aktuelle Geschichte , sehr gut und berührend erzählt von Markus Dorsch.
Vielleicht kann man die nochmal ins Februar-Magazin stellen?
Und wo ist er übrigens, der Markus Dorsch? Ich hab ihn schon lange nicht mehr gesehen.
Vielen Dank für die Gedanken!