Der Maler Emil Nolde ist Teil meiner Kindheitserinnerungen. Einige seiner Aquarelle hingen an den Wänden in meinem Elternhaus. Und sie waren oft Thema bei den Gesprächen der Erwachsenen. Dann ging es um die Naturwelt in Noldes Kunst, über das Magische und Märchenhafte in seinen Figuren. Mein Großvater hatte Nolde persönlich gekannt, und er hatte 1929 mit einer Bürgerinitiative eine erste Ausstellung des Künstlers im Bielefelder Städtischen Kunsthaus ›› organisiert. Nolde war bei der Ausstellungseröffnung Gast im Haus der Großeltern. 1939 hat der Großvater das Aquarell „Kakadus“ erworben, das Nolde 1923 im Berliner Zoo gemalt hat. Mit dem Kauf wollte er Nolde unterstützen.
Bilder prägen sich von klein auf in unser Gedächtnis ein. Sie beeinflussen, was wir für schön oder hässlich, aufregend oder langweilig halten. Mir als Kind haben sich Noldes Bilder vor allem durch ihre Intensität eingeprägt. Die leuchtenden Farben und verfließenden Formen, das Regellose darin beflügelte meine Phantasie. Vielleicht hat das wilde und subjektive Ur-Empfinden der Expressionisten etwas mit diesem unverstellten Empfinden von Kindern gemeinsam. Künstler sind wie Kinder.
Später, zum Ende der Schulzeit, schenkte mir mein Deutschlehrer ein Taschenbuch ›› zu dem Film „Die Deutschstunde“ von Peter Beauvais, der 1971 im Fernsehen lief. Er wusste von der Beziehung unserer Familie zum Künstler.
Die Deutschstunde haben wir auch im Unterricht gelesen. Wir haben natürlich die Geschichte des von den Nazis verfehmten Künstlers geglaubt. So ähnlich hatte sie auch mein Vater erzählt. Was er, wie auch Siegfried Lenz und viele andere, allerdings unterschlagen hat, war Noldes Nähe zu den Nazis. Sie haben sich mit ihm eine positive Identifikationsfigur konstruiert.
Emil Nolde ist einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Vor einigen Jahren fielen mir in den National Archives in den USA Filmaufnahmen in die Hände, die 1947 von der Wochenschau der amerikanischen Besatzungsmacht zu Noldes 80. Geburtstag gedreht worden waren. Im Text des Filmbeitrags wird der Versuch spürbar, Nolde für einen Neuanfang von Kultur und Kunst in Deutschland als positiven Bezugspunkt zu nutzen. Nolde wird darin als „Verfemter“ bezeichnet.
Entartete Kunst
Tatsächlich haben die Nationalsozialisten Emil Nolde 1938 in die Reihe der „entarteten“ Künstler aufgenommen und öffentlich geschmäht. Auch hierzu habe ich in den National Archives ein einzigartiges Filmdokument gefunden, das der Amerikaner Julien Bryan über die Ausstellung 1937 in München gedreht hat:
Sieht man sich die Bilder in dieser Ausstellung an und vergleicht sie mit dem, was zur selben Zeit im Münchner „Haus der deutschen Kunst“ als die offizielle Nazikunst ›› gezeigt wurde, wird der Abgrund zwischen den verschiedenen Arten von Kunstverständnis deutlich:
Am Schluss des Films habe ich das Bild „Christus und die Sünderin“ in den Originalfarben markiert. Es wurde 1929 von der Berliner Nationalgalerie erworben. Um die Anerkennung der expressionistischen Künstler tobte damals in der Weimarer Republik ein heftiger Streit. Benno Reifenberg ›› , ein Kritiker der „Frankfurter Zeitung“, bemängelt 1922 die dramatische Subjektivität, den „schwärenden Farbenbrei“, die „zersetzende und morbide Macht“ von Noldes Malerei. Nolde polarisierte also bereits damals. Er selbst sah sich als Vorkämpfer einer neuen Kunstrichtung, geprägt von Unmittelbarkeit und ursprünglicher seelischer Ausdruckskraft.
Er schrieb: „Ich möchte gerne, dass meine Bilder mehr sind und keine zufällige schöne Unterhaltung, nein, dass sie (…) dem Beschauer einen Vollklang vom Leben und menschlichen Sein geben.“ Er inthronisierte sich selbst als einzigartig, als allmächtigen Herrn der modernen Welt.
Ungemalte Bilder
Auch wenn manche Kommentatoren dies heute in Zweifel ziehen, unterlag Emil Nolde in den Jahren nach 1942 einem Verkaufs- und Malverbot. Ihm wurde die „Verbreitung und Vervielfältigung“ seiner Werke explizit untersagt. Es gibt den Einwand, dass die hohen Verkaufseinnahmen im Jahr 1940 in Noldes Entnazifizierungserklärung 1947 zeigt, dass es ihm ja durchaus gut gegangen sei. Nicht gesagt wird, dass die Einnahmen 1942 nur noch ein Zehntel davon betrugen.
Natürlich hat der damals schon über 70-jährige Nolde nicht existenziell oder gar lebensbedrohlich, wie andere Verfolgte und Entrechtete, unter den Nazis gelitten. Einige private Käufer haben ihn weiter unterstützt. Wie mein Großvater, den die Gestapo – auch aus anderen Gründen – beobachtete und als unzuverlässige Person in ihren Akten führte. Er war einer der Deutschen, die mit Noldes öffentlicher Ächtung als „entarteter Künstler“ nicht einverstanden waren. Was das Verbot seiner Kunst für den alten Künstler psychisch bedeutet hat, kann nicht in Reichsmark gemessen werden.
Nolde schreibt 1942 an Hans Fehr ›› : „Gearbeitet habe ich seit dem ersten August nichts mehr. (…) Nicht zu wissen, was man ‚darf‘ und ’nicht darf‘ und dies Damoklesschwert über den Kopf hängend haben – muß nicht dann die an sich schon sensible Künstlermuse den Menschen verlassen?“
Das kleine Blatt „Familie“ aus der Serie der „Ungemalten Bilder“ von 1943 vermittelt einfühlsam Gefühle wie Glück, Fürsorge und Stolz. Dieses Bild hat mich schon als Kind besonders angesprochen. Mein Vater hat es kurz nach dem Krieg erworben.
Müssen wir Nolde nun abhängen?
Die Kanzlerin hat die Nolde-Bilder im Kanzleramt abhängen lassen. Ein eifriger Kunstbeamter der Berliner Nationalgalerie hat unlängst in den Abendnachrichten des Fernsehens bekannt gegeben, auch er (!) in seine Wohnung keine Noldes mehr hängen wollen würde.
Soll man Nolde also abhängen? Sollen wir nicht. Denn das wäre das Gleiche, was die Nazis mit den „entarteten Künstlern“ gemacht haben. Tausend Werke Emil Noldes wurden damals aus den Museen entfernt und zum Teil in der Schweiz für Devisen (für die Aufrüstung) verhökert.
Die Berliner Secession
Nolde und der Expressionismus waren immer heftig umstritten. 1910 wurden seine Bilder von der Berliner Künstlervereinigung Secession ›› zurückgewiesen. Nach dem Ersten Weltkrieg gibt es weitere Beispiele heftiger Kritik an seinem eigenwilligen, ausdrucksstarken Malstil. Ironischerweise sind der katholischen Kirche damals seine Bilder biblischer Figuren zu „semitisch“. Heute wissen wir, wie offen antisemitisch Nolde eingestellt war.
Diese Geschichte beginnt mit dem Berliner Secessionsstreit von 1910. Der Kunsthändler Paul Cassirer ›› und der Maler Max Liebermann ›› , beides Juden, sind Noldes Intimfeinde aus dieser Zeit. Bei dieser persönlichen Gegnerschaft ging es auch um Noldes bedrohte wirtschaftliche Existenz als freier Künstler. Hans Fehr, der vielleicht beste Freund Noldes, schrieb: „Da aber bei Nolde alles aus einem Urtrieb, aus einer Urkraft, fern vom Verstande, geboren wurde, sah er sein Innerstes verletzt, wenn einer diese geheimnisvolle Welt anzutasten wagte.“ Ein solch radikaler Subjektiver ist als prominenter Staatskünstler des gleichgeschalteten Naziregimes schlechterdings nicht vorstellbar.
Die Verantwortung
Ein Künstler vom Rang Emil Noldes hat jedoch eine besondere Verantwortung für sein Verhalten. Dass er Antisemit war und dass die Entrechtung und Vernichtung seiner jüdischen Mitbürger nach 1933 bei ihm nicht zum Umdenken und zum klaren Bruch mit der Nazi-Ideologie geführt hat, ist jetzt endgültig aufgeklärt worden. Es bleiben also Fragen: Warum versagte das moralische Gesetz in ihm? Als einer der prominentesten Künstler der Weimarer Zeit hatte er Freunde unter den Künstlerkollegen, die schon 1933 in die Emigration getrieben wurden. Darunter Paul Klee, den er 1935 in der Schweiz getroffen hat. Was haben die Künstler besprochen? Anscheinend hat Nolde, wie so oft, geschwiegen.
Die Erfahrung des Nazi-Terrors hinderte ihn nicht, sich Hitler als großartiger Vertreter der „neuen deutschen Kunst des Expressionismus“ anzudienen. Nolde wollte den Expressionismus als Staatskunst des Nazireichs etablieren. Er biederte sich dem Naziregime an, wie Heidegger, Richard Strauss, Gottfried Benn oder Mies van der Rohe es getan haben. Die populistische Banalität, die plebejische und blutgierige Gewalt und den kleinbürgerlichen Geschmack des Nazireichs erkennen sie erst, als es längst zu spät ist. Sie sind der Faszination des Bösen erlegen, wo man doch gerade bei ihnen Immunität dagegen hätte erwarten müssen. Jean Clair ›› nennt das eine „Demütigung unserer moralischen Hierarchien“.
Uns bleibt das sprachlose Entsetzen über das abgrundtief Böse, das nie hätte geschehen dürfen. Wie konnte ein Maler so vieler christlicher Motive die Augen verschließen und bis zuletzt den Naziverbrechern hinterher rennen?
Der Mensch Nolde hat geirrt, der Künstler aber ist seinen Weg gegangen.
Nolde begegnen
Eine Vorliebe für intensive Farben habe ich heute noch. Jedes Jahr kann ich es kaum erwarten, bis der Frühsommer die Welt erblühen läßt. Im Nolde-Museum in Seebüll kann man den Zusammenklang seiner Bilder und seines Gartens besonders intensiv erleben. Der Garten ist eine geradezu unerschöpfliche Quelle für Inspiration. Ein Besuch dort ist der beste Weg, sich diesem großartigen Künstler zu nähern.
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