Im Sommer 1984 hatte es über dem Münchner Raum und auch über unserem frisch angelegten Garten in der Waldstraße ein heftiges Hagelunwetter gegeben. Die Erdbeeren waren nur noch roter Matsch, Büsche und Bäume hatten zerfetzte Blätter, die mit alten Fenstern abgedeckten Frühbeete waren so voller Glassplitter, dass wir nichts mehr verwenden konnten.
Tennisballgroße Hagelkörner zerschlugen damals sogar das Dach von Helmuts Großvater in München-Trudering, sie prasselten ihm direkt ins Krankenbett rein. Ein paar Tage später starb er. Die Beerdigung war groß und makaber, aber das ist eine andere Geschichte.
Das neue Gewächshaus
Jedenfalls entschlossen wir uns, ein Gewächshaus aufzustellen.
Im Frühjahr darauf war es dann soweit: Wir hatten unzählige Pakete mit Gewächshausbauteilen im Garten liegen, die wir zusammenbauen mussten. Ein Ikeaschrank war nichts dagegen – zum Glück halfen uns Freunde, und bald stand es sauber und leer in unserem Garten.
Jetzt mussten wir es natürlich noch füllen. Voller Vorfreude fuhren wir zu einem großen Gartencenter nach Germering, bepackten unser Auto mit zahlreichen Plastiksäcken voll Gartenerde, dazu kamen Gemüsepflanzen und Blumen.
Zum Schluss entdeckten wir ein Sonderangebot Torf – heutzutage natürlich streng verpönt – und nahmen auch davon ein paar Säcke mit.
Zuhause warfen wir Erde- und Torfsäcke ins Gewächshaus. Es war schon kühl, zum Weiterwerkeln waren wir zu müde.
»Da ist so ein komisches Tier!«
Am nächsten Morgen strahlte die Sonne, wir wollten uns an die Arbeit machen. Helmut öffnete die Gewächshaustür.
»Doja, komm schnell, da ist so ein komisches Tier!« hörte ich ihn rufen. Auf einem Torfsack saß ein grünliches, echsenähnliches Wesen mit dickem Bauch und einem langen spitzen Schwanz, etwa eine Handspanne groß. Es schaute uns verwundert an und wir es auch. Durch die Wärme war es wohl »lebendig« geworden.
Schnell machten wir die Gewächshaustüre wieder zu, damit es nicht weglaufen konnte. »Das ist denen beim Gärtner wohl ausgekommen und in einen aufgerissenen Torfsack geschlüpft«, meinte ich. »Wir müssen dort Bescheid sagen, die Tiere sind sicher wertvoll!«
Helmut rief beim Gartencenter an, und nach langem Warten wurde er mit der richtigen Abteilung verbunden.
Er erzählte, was passiert war.
»LEBENDE TIERE SIND VOM UMTAUSCH AUSGESCHLOSSEN!« hörte ich es durchs Telefon schnarren. Helmut erklärte nochmal, dass wir es ja nicht gekauft hatten. Doch noch etwas lauter wiederholte der Verkäufer: »LEBENDE TIERE SIND VOM UMSCHAUSCH AUSGE…« Er versuchte es ein drittes Mal. »ICH HABE DOCH GESAGT: LEBENDE TIERE …«
Da legte Helmut auf. Weiterreden hatte wohl keinen Sinn mehr. Wir mussten uns mit dem neuen Hausgenossen arrangieren.
Die neuen Hausgenossen
Zum Glück hatten wir noch ein altes Terrarium in der Garage. Wir schütteten etwas Kies rein, legten ein paar Holzstücke und Steine dazu und wollten das Tierchen in seine neue Behausung bringen. Langsam schoben wir die Gewächshaustüre auf.
Helmut, der wesentlich geübter im Tiere-Fangen ist als ich, erwischte es gleich und setzte es vorsichtig ins Terrarium.
Doch da entdeckten wir in der Ecke noch ein zweites, ebenso grün, mit in der Sonne schillernden Schuppen. Bald saß es neben seinem Leidensgenossen.
Doch es gab ein Problem: Welches Futter brauchen die beiden? Wahrscheinlich lebende Insekten.
Sollten wir jetzt den ganzen Tag Fliegen fangen? Nein!
Also nochmal zum Gartencenter! Wir versuchten gar nicht mehr, ihnen ihre verlorenen Tiere anzudrehen, wir schauten in die Zooabteilung und da entdeckten wir ihre Brüder und Schwestern: »Rotkehlanoli« stand auf dem Schild und »Amerikanisches Chamäleon, frisch aus der Karibik, Stück 25.- DM«. (Leider gibt es die heute immer noch zu kaufen: Im Internet werden sie in 5er- und 10er-Packs angeboten. Kauft man 5, kostet das Stück 21.95 Euro; kauft man 10, spart man je einen Euro.)
Eine Angestellte, die gerade etwas Futter in ein daneben stehendes Aquarium schüttete, konnte uns Auskunft geben. Sie wusste, was die Rotkehlanolis gerne fressen. »Ja, da kaufen Sie alle paar Tage eine Tüte Heimchen, das ist ganz einfach.«
Wir nahmen eine durchlochte Plastiktüte voller zirpender Tierchen mit.
Die Katzen waren sehr interessiert …
Zu Hause stellten wir das Terrarium ins Wohnzimmer, ließen ein paar Heimchen hineinspringen und warteten zusammen mit den Kindern gespannt, wann das erste verzehrt wurde. Auch unsere beiden Katzen, Zora, die edle Abessinierin, und ihre plumpe Tochter Fritzi, waren äußerst neugierig. Sie saßen nervös auf der Sofalehne vor dem Terrarium und folgten jeder Bewegung der kleinen Chamäleons mit ihren Augen.
»Wir müssen die Schiebetüre immer gut zumachen!« schärften wir uns gegenseitig ein.
Unsere beiden Rotkehlanolis bekamen zwar keine Namen, aber wir schlossen sie ins Herz und saßen oft lange vor dem Terrarium. Bald zeigten sie uns ihre roten Kehlsäcke, die sie gewaltig aufblähen konnten. Und sie wechselten tatsächlich ihre Farbe: Vor grünem Hintergrund waren sie grün; kletterten sie auf das große braune Rindenstück, wurden sie bräunlich.
So ging es einige Monate. Wir kauften fleißig Heimchen, die toten Stubenfliegen, mit denen wir es auch mal versuchten, mochten sie nicht.
Die Katzen saßen immer wieder voller Jagdeifer vor dem Glaskasten, merkten aber irgendwann, dass sie keine Chance hatten. Dafür brachten sie uns Singvögel, Mäuse, junge Blindschleichen, Frösche und Eidechsen, die es damals noch reichlich gab.
Oft kaufte ich nach der Schule beim Gartencenter am Viktualienmarkt eine Tüte Heimchen und erntete dann in der S-Bahn erstaunte Blicke von Mitfahrenden, weil es in meinem Rucksack leise zirpte.
»Mist, sie sind weg!« Was war passiert?
So kam ich eines Tages am Spätnachmittag heim, der Rest der Familie war ausgeflogen. Ich wollte nun gleich unsere beiden Rotkehlanolis füttern, trug die Katzen aus dem Zimmer und ging mit der Tüte zum Terrarium. »Ach du Schreck! Wo sind die Chamäleons?« Die Schiebetüre war einen winzigen Spalt offen. »Wer hat hier nicht zugemacht! Mist, sie sind weg!«
Ich schaute in alle Ecken, hinter den Ofen, unters Klavier, schob die Schränke vor, aber außer Staub konnte ich nichts entdecken.
Auch Helmut und die Kinder, denen ich bald von dem Desaster erzählen musste, fanden die Tierchen nicht.
»Es müssen wohl die Katzen gewesen sein«, war unsere traurige Antwort. »Sie haben wahrscheinlich mit ihren Krallen an der Schiebetüre rumgemacht.«
Die Heimchen ließen wir im Garten frei.
Noch Jahre später war im Keller ein leises Zirpen zu hören, einige Heimchen hatten sich hinter den Öltanks eingenistet. Vielleicht haben sie uns Glück gebracht.
Den Katzen wohl auch, denn sie wurden sehr alt, Fritzi sogar 23 Jahre – was wiederum für die rund um uns herum lebenden kleinen Tiere kein Glück war.
Was sagen Sie dazu?