Wir haben uns bei gemeinsamen Abenden im Haus einer Freundin kennengelernt. Anfangs wusste ich nur, dass Ruth Paulig ein Gründungsmitglied der Grünen in Bayern war und viele Jahre im bayerischen Landtag Politik gemacht hat.
Beim letzten dieser Treffen im Frühjahr dieses Jahres hat sie von Projekten erzählt, die sie nach dem Ende ihrer aktiven Zeit als Politikerin in Afrika ins Leben gerufen hat. Ich war von ihrem Bericht so fasziniert, dass ich sie gefragt habe, ob ich ein Porträt über sie schreiben darf. Sie hat zugesagt, und einige Zeit später hat sich ein passender Termin für unser Gespräch gefunden.
Ein ungewöhnliches Haus
Es ist ein sonniger, aber recht frischer Vormittag Anfang Juli, als ich Ruth Paulig aufsuche. Sie wohnt in Breitbrunn, einer Gemeinde, die heute zu Herrsching am Ammersee gehört.
Ihr Haus liegt außerhalb des Ortes am Ende einer schmalen Straße, die durch ausgedehnte Wiesen führt und an der man eigentlich keine Wohnhäuser mehr vermutet. Kurz bevor die Straße als Sackgasse endet, tauchen aber tatsächlich noch ein paar Häuser auf, weit weg von jeder dörflichen Infrastruktur.
Von meinen Recherchen weiß ich, dass ich nach einem Holzhaus Ausschau halten muss – und fast hätte ich es übersehen, so versteckt liegt es inmitten hoher Bäume und dichtem Gebüsch.
Ruth hat mich schon erwartet. Sie zeigt mir, wo ich parken soll, damit die Nachbarin gegenüber problemlos ihr Auto rangieren kann.
Ich hatte schon von Freunden gehört, dass Ruths Haus ziemlich ungewöhnlich ist, aber was ich da vor mir sehe, übertrifft noch meine Erwartungen. Der aus dunklem Holz erstellte Bau mit der schrägen Glaskonstruktion auf dem Dach, umstanden von riesigen Buchen und Eichen, weckt in mir die Assoziation eines Hexenhauses mitten im Wald. Er wird von einem hohen Blätterdach überwölbt, durch das die Sonnenstrahlen kaum hindurchdringen können. Vor dem Haus ein mit Steinplatten belegter Sitzplatz mit einem großen, rustikalen Tisch und zwei Stühlen, umgeben von einer kleinen Lichtung, von der ein paar Trampelpfade in verschiedene Richtungen führen.
»Bis jetzt ist noch nichts passiert«
Ich stehe da und staune, und Ruth lädt mich zu einer kleinen Besichtigungstour durch das Innere des Hauses ein, in dem sie ihre drei Söhne großgezogen hat und das, je nach Bedarf, immer mal wieder erweitert wurde.
Obwohl das Haus so urig wirkt, ist es umwelttechnisch hochmodern ausgerüstet: Photovoltaik auf dem Dach, Brauchwassertoilette, Feststoffbrenner. Also ganz so, wie man das von einer Grünen der ersten Stunde erwartet.
Ruth führt mich vorbei an Räumen auf verschiedenen Ebenen, die Treppe hinauf bis unter das Glasdach, wo sie schläft: »Im Sommer schaue ich hier in die Baumkronen. Im Winter, wenn die Blätter weg sind, sehe ich über mir den Himmel voller Sterne. Nur wenn ein Gewittersturm angesagt ist, ruft einer meiner Söhne, der immer ein bisschen um mich besorgt ist, an und bittet mich, weiter unten zu schlafen. Wenn dann mal wirklich ein Ast abbrechen oder sogar ein Baum umfallen sollte, bin ich dort sicher.«
Auf meine Frage, ob sie keine Angst hat, dass auch ohne Sturm mal ein Ast abbrechen oder ein Baum umfallen könnte, meint sie: »Ja, doch, ich mach mir schon Sorgen deswegen. Manchmal fallen tatsächlich auch Bäume um, von denen man das nicht erwarten würde, weil sie eigentlich noch voll belaubt sind. Vor allem am Waldrand kann das passieren.
Und einmal ist mir auch ein ziemlich dicker Ast draußen vor dem Haus genau auf den Kopf gefallen. Aber sonst ist bis jetzt noch nichts passiert.«
Und sie erklärt, dass sie jedes Jahr Baumpfleger kommen lässt, die die Bäume sehr genau auf mögliche Bruchstellen untersuchen, kritische Äste absägen oder manche Bäume auch ganz fällen, damit junge nachwachsen können.
Ein magischer Ort
Dann lädt sie mich ein, an dem großen Tisch vor dem Haus Platz zu nehmen und bringt mir von drinnen mehrere warme Decken in fröhlichen Farben: »Die liegen bei mir immer bereit. Leg sie dir um die Schultern und auf die Beine, der Wind ist frisch und die Sonne kommt durch die Blätter nicht wirklich durch …«
Sie gießt mir frisch gebrühten Kräutertee ein.
Dieser Ort hat wirklich etwas Magisches. Von überall ertönt Vogelgezwitscher, dazwischen der durchdringende Ruf eines Raubvogels, der über dem Landschaftsschutzgebiet, das sich gleich an die Grundstücksgrenze anschließt, seine Kreise zieht. Sonst ist nur das Rauschen der Blätter zu hören.
Ich frage Ruth, ob es für ihre Söhne nicht wunderbar gewesen ist, in diesem so ganz besonderen Haus aufzuwachsen. Und sie erzählt, dass ihre Kinder, genauso wie die Enkelkinder jetzt, das Leben inmitten der Natur tatsächlich sehr genossen haben. »Nur einer meiner Söhne hat als kleines Kind mal gesagt, dass er gern einmal in einem Hochhaus in der Stadt wohnen würde …«
In einem Hochhaus in der Stadt – oder auch schon in einem ganz »normalen« Haus – könnte ich mir Ruth allerdings kaum vorstellen. Ich finde, sie passt wunderbar hierher, und was sie mir im Laufe unseres Gesprächs über sich selbst, ihre Familie und ihren eigenen »konfusen« Lebensweg erzählt, bestätigt meine Einschätzung voll und ganz.
Eine komplexe Familie
Geboren ist sie 1949 in Seefeld am Pilsensee als die ältere von zwei Töchtern aus der zweiten Ehe ihrer Mutter, die schon vier Kinder aus erster Ehe hat.
»Der erste Mann meiner Mutter ist im Russlandfeldzug gefallen, kurz nach der Geburt ihres vierten Kindes.
Mein Vater – er war ein Jugendfreund meiner Mutter, die beiden sind in benachbarten Häusern in München Harlaching groß geworden – hat meine Mutter danach mitsamt ihren vier Kindern geheiratet.
Am Tag vor der Hochzeit hat einer meiner Brüder zu einer Nachbarin gesagt: „Morgen fahren wir nach Andechs, da heiraten wir … und die Mama kommt auch mit!“
Das war im Mai 1946. Die Gäste haben noch ihre eigenen Essensmarken für das Hochzeitsmahl im Klostergasthof mitbringen müssen …
Aus der neuen Ehe sind dann noch ich und meine jüngere Schwester hervorgegangen.«
Die beiden Häuser in Harlaching, in denen ihre Eltern aufgewachsen sind, wurden 1943 bei einem Fliegerangriff zerstört. »Sie haben zu den ersten Häusern überhaupt gehört, die im Krieg in München zerbombt worden sind. Die Leute sind damals extra mit der Tram aus der Stadt heraus gefahren, um sich die Ruinen anzusehen …
Mein Großvater ist im Bunker verschüttet worden und war tot, auch die Großmutter ist mit dem jüngsten Sohn verschüttet worden und ins Krankenhaus gekommen. Die drei älteren Kinder hatte die Haushaltshilfe der Großeltern zu ihrem Heimatbauernhof in Niederbayern mitgenommen und so sind sie verschont geblieben.
Nur ein Fotoalbum gibt es noch von damals, alles andere ist verbrannt.«
Nicht immer ist klar, welches Kind wohin gehört …
Ich frage Ruth, wie es war, in einer so großen, komplexen Familie aufzuwachsen. Wie vertragen sich die Nachkommen der beiden Väter?
»Unsere jüngste Schwester ist Mediatorin, die haben wir immer extra dabei, wenn wir uns treffen.« Sie lacht.
»Nein, wir verstehen uns alle gut. Wenn wir Familientreffen haben, dann sind wir in der engeren Familie so um die 60 Personen. Manchmal muss man da schon bei dem einen oder anderen Kind nachfragen: und wer bist jetzt du …? Alle Halbgeschwister verstehen sich sehr gut, alle haben Kontakt mit beiden Vaterfamilien.«
Fast alle Mitglieder der Großfamilie leben im engeren und weiteren Umkreis von Breitbrunn, auch zwei von Ruths Söhnen. Nur einer wohnt mit seiner Familie in Hamburg. Mit den Enkelkindern hat sie einen sehr guten Kontakt: »Meine Enkelin, sie ist vier, hat zu ihrer Mama gesagt: Weißt du, Katrin, die Oma ist mein Lieblingsmensch!
«
Die Kinder sind oft bei ihr, sie kümmert sich viel um sie. Einer ihrer Söhne wohnt im Nachbarhaus. Die Enkel kommen zu ihr, wenn beide Eltern arbeiten. »Nur wenn Ferien sind und alle in Urlaub fahren, habe ich frei.«
Die Ausbildung
Wenn Ruth über ihre Familie spricht, spürt man deutlich, wie wichtig diese für sie ist. Wie gern sie dafür sorgt, dass es allen gut geht, aber auch, wie stolz sie auf die einzelnen Verwandten ist. Zum Beispiel auf einen ihrer Vorfahren, den Ozeanflieger Hermann Köhl ›› , dem es 1928 als erstem Piloten gelang, in einem abenteuerlichen Flug den Atlantik von Osten nach Westen zu überqueren.
Doch vor allem von ihrer Mutter (»sie war ähnlich wie ich – eine ziemlich resolute Frau«) spricht sie voller Zuneigung und Bewunderung. Und wie ihre Mutter, die Kunsterzieherin war, den Beruf aber nie ausgeübt hat, wählte auch Ruth als einen der beiden Wege in ihre berufliche Zukunft die Ausbildung an der Müncher Kunstakademie.
Der zweite Berufsweg war wohl von ihrem Vater geprägt. Er war Mathematik- und Physiklehrer, und wie er hat auch Ruth sich immer für Naturwissenschaften interessiert. Sie wurde sowohl zum Medizin- als auch zum Psychologie-Studium zugelassen, hat jedoch beides schnell wieder aufgegeben (»Das war nichts für mich!«) und sich für die Diplombiologie entschieden.
»Für mich war das ziemlich erschreckend«
Es waren die 68er Jahre, die Hochphase der Studentenrevolten. »An der Akademie ging es damals sehr turbulent zu: Die Studenten sind mit Motorrädern durch die Gänge gebrettert, haben den Dozenten vor die Tür gekackt … Für mich als Dorfkind war das alles ziemlich erschreckend!
Im Biologiestudium war ich dann in einer marxistischen Arbeitsgruppe. Das war der Beginn meiner politischen Aktivitäten.«
Nach dem Diplomabschluss hat sie in einem Halbtagsjob als Mikrobiologin an der Uni gearbeitet, gleichzeitig das Staatsexamen an der Kunstakadmie gemacht und das erste ihrer drei Kinder bekommen.
Mit ihrem Mann, auch er – wie ihr Vater – Lehrer für Mathematik und Physik, hat sie, der Unabhängigkeit und Freiheit immer viel bedeutet haben, 30 Jahre lang eine offene Beziehung geführt, bis es zur Trennung kam.
Seitdem lebt sie allein in ihrem Häuschen im Wald, macht ausgedehnte Reisen mit dem Fahrrad quer durch Europa »…am liebsten allein, da kann ich das Tempo fahren, das mir passt!«, geht Wandern und Bergsteigen.
Nun könnte man annehmen, dass Ruth Paulig im Laufe ihres jungen Erwachsenenlebens ziemlich beschäftigt war, als sie die drei Söhne großgezogen und daneben als Kunsterzieherin an verschiedenen Gymnasien unterrichtet hat.
Und doch hat sie auch noch die Zeit gefunden, sich intensiv politisch zu betätigen.
»Eigentlich hatten wir gar keine Lust, eine Partei zu gründen«
Angefangen hat es im April 1978, Ruth war damals 29 Jahre alt. »Wir haben uns in einer kleinen Gruppe im Wohnzimmer meines Bruders in Krailling zusammengesetzt, um nach einem griffigen Namen für unsere Liste für die Landtagswahl zu suchen. Ich habe gesagt, wir brauchen eine Farbe. Und ich habe dann Grün vorgeschlagen, die Farbe der Natur und der Hoffnung … Wir wollten ja die Umwelt schützen, die Ökologie war unser Thema.
Eigentlich hatten wir gar keine Lust, eine Partei zu gründen, aber wir wollten den anderen, den großen Parteien die Macht wegnehmen. Und so waren wir in Bayern die ersten Grünen in Deutschland und in Europa. Damals waren wir so naiv zu glauben, in zehn Jahren hätten wir unsere Forderungen durchgesetzt und dann würden wir uns wieder auflösen.«
Schon im Oktober 1978 ist die Partei unter dem Namen Die Grünen bei der Landtagswahl in Bayern angetreten. Und von 1986 bis 1994 und dann wieder von 1998 bis 2008 wird Ruth Paulig als erste Grüne in den Bayerischen Landtag gewählt und macht dort insgesamt 18 Jahre Politik, davon einige als Fraktionsvorsitzende und Umweltpolitische Sprecherin der Fraktion.
Im Jahr 2001 wird sie für ihre politische Arbeit mit dem Bayerischen Verdienstorden ›› geehrt.
Promoting Africa
2008 stand Ruth Paulig dann nicht mehr für die Wahl zu Verfügung. Doch das heißt noch lange nicht, dass sie danach die politische Arbeit aufgegeben hat, wenn auch nicht mehr als Aktive im bayerischen Politikbetrieb, sondern als Entwicklungshelferin bei inzwischen zwei Projekten in Afrika.
Und das kam so:
2004 lernte sie während einer Tagung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) in Nairobi den Kenianer Jimmy Kilonzi ›› kennen, der sich mit seinem Projekt Youth Support Kenya ›› unter anderem für die Versorgung von AIDS-Waisen in den Slums von Nairobi engagiert.
Diese Begegnung war den Anstoß dafür, dass Ruth Paulig im Jahr 2009 mit einem Team von Gleichgesinnten und Unterstützern den gemeinnützigen Verein Promoting Africa e.V. ›› gegründet hat, der Kindern und Jugendlichen aus den Armutsvierteln von Nairobi eine Ausbildung und damit eine Perspektive für ein einträgliches Leben im eigenen Land ermöglichen soll.
Der Verein gibt den jungen Menschen eine Chance
»Der Verein kümmert sich darum, dass die jungen Leute ein Dach über dem Kopf haben, dass sie regelmäßig essen, und vor allem, dass sie die Chance haben, in eine Schule zu gehen.«
Diese Schule, das Skills Centre Nairobi ›› , hat der Verein mit tatkräftiger Hilfe von Studenten und Architekten der TU München und der Hochschule Augsburg ›› gebaut. Anfangs wurden dort junge Leute aus bedürftigen Familien in Handwerksberufen wie Schreinern, Schneidern ausgebildet, inzwischen können sie unter anderem auch Automechaniker oder Köchinnen und Köche werden, sogar mit einem eigenen Bistro.
Die theoretische Ausbildung findet durch einheimische Lehrer in der Schule statt, in der die Schülerinnen und Schüler, genauso wie die Lehrer, auch wohnen. Der praktische Teil wird in den Schulwerkstätten und in Handwerksbetrieben vermittelt, wo ein Teil der Schüler nach der Abschlussprüfung auf Wunsch übernommen wird, während andere Absolventen sich weiter fortbilden oder sich auch selbständig machen können.
Über 1000 Jugendliche haben inzwischen dort eine offiziell anerkannte Prüfung abgelegt.
Immer wieder war sie vor Ort
Jimmy Kilonzi, der inzwischen, neben seinen eigenen Projekten, auch den Verein Promoting Africa vor Ort unterstützt, sorgt für die Auswahl der Kinder und Jugendlichen, die die Schule besuchen dürfen, eine Sozialarbeiterin des Vereins kümmert sich um Praktisches wie Schulkleidung und das nötige Schulgeld.
Kilonzi erhält von Promoting Africa für seine Arbeit ein Gehalt, genauso wie von einem weiteren Verein in Wasserburg, für den er ebenfalls tätig ist. Von diesen – für europäische Verhältnisse eher bescheidenen – Gehältern kann er gut leben und seine Familie mit den beiden Töchtern ernähren.
Immer wieder war Ruth Paulig vor Ort, um selbst nach dem Rechten zu sehen, sich tatkräftig einzubringen: »Ich war dort oft die erste Weiße, die die Leute gesehen haben. Wohlhabende Familien wie die von Jimmy Kilonzi bleiben übrigens bei zwei Kindern, damit diese die Chance auf eine gute Ausbildung kriegen.«
Eine junge Frau aus Kamerun
Das Projekt in Kenia funktioniert immer besser, und Ruth Paulig spielt mit dem Gedanken sich aus der aktiven Verantwortung etwas mehr zurückzuziehen. Doch dann wird ihr im Frühjahr 2019 bei der Feier zum zehnjährigen Bestehen von Promoting Africa eine junge Frau aus Kamerun namens Clémence Labrentz vorgestellt.
Ruth erzählt: »Clémence stammt aus einer wohlhabenden Familie in Jaunde, der Hauptstadt von Kamerun. Sie hatte in der Schule Deutsch gelernt und ist nach dem Abitur als Aupair nach Bayern gekommen. Das anschließende Jurastudium hat sie aufgegeben, das juristische Deutsch war ihr zu schwierig. Sie hat dann eine Ausbildung zur Chirurgisch-Technischen Assistentin gemacht und in verschiedenen Krankenhäusern im Landkreis Starnberg gearbeitet. Dann hat sie sich hier verliebt und eine Familie gegründet.«
Clémence Labrentz hat über dem vergleichsweise sorglosen Leben, das sie hier in Deutschland führen kann, nie die Probleme in ihrer afrikanischen Heimat vergessen, die Armut, den Mangel an Perspektiven für viele Kinder und Jugendliche dort. Und sie hat beschlossen, zu helfen.
Wings for Africa
So gründet sie im November 2019 mit Ruths Hilfe und einem Team von Helfern und finanziellen Unterstützern nach dem Vorbild von Promoting Africa den gemeinnützigen Verein Wings for Africa e.V. ››
Kurz vor unserem Gespräch hatte mich Ruth zur Jahresversammlung von Wings for Africa in Dießen am Ammersee eingeladen. Dort konnte ich Clémence und die anderen Verantwortlichen des Vereins kennenlernen und mir ein Bild von ihrem Kamerun-Projekt machen.
Auch dieses Vorhaben klingt überaus spannend und ist ganz offensichtlich sehr erfolgreich. Wir sehen Fotos von der neu gebauten Berufsschule in der Nähe der Hauptstadt Jaunde, die auf einem von Clémence gestifteten Grundstück errichtet worden ist. Der Bau der Schule wurde von der Bayerischen Staatskanzlei gefördert, was Ruth Pauligs früherer politischer Tätigkeit dort zu verdanken ist.
Auch in dieser Schule können die Schülerinnen und Schüler Handwerksberufe erlernen, die sie später dazu befähigen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und eine Familie zu ernähren. Bei Wings for Africa ist die Ausbildung im Schreinern und Schneidern sehr wichtig und gut nachgefragt und es entstehen dabei sehr schöne Werke, wie wir auf eindrucksvollen Fotos feststellen konnten.
Neben der Handwerksschule gibt es ein angegliedertes Gartenbauprojekt, für das Clémence ebenfalls Flächen zur Verfügung gestellt hat, die dann von den angrenzenden Dörfern noch erweitert worden sind. Hier wird Gemüse angebaut, das nicht nur die Ernährung der Schülerinnen und Schüler der Berufsschule sichert, sondern das auch die große Armut einzelner Familien und der vielen alleinerziehenden Frauen lindert. Und demnächst soll dort für die Ernährungssicherheit auch mit der Haltung von Ziegen und Hühnern begonnen werden.
Weiter plant Clémence den Bau eines Gesundheitszentrums in der Nähe des Schulgeländes, denn wie sie sagt, ist es um die medizinische Notfallversorgung in Kamerun nicht allzu gut bestellt.
Den Menschen in Afrika eine Perspektive geben
Es ist also noch viel zu tun, aber wenn man erlebt, mit welch großem Engagement und mit wieviel Enthusiasmus sich die Projektleiterinnen, Mitarbeiter und Unterstützer in beide Schulprojekte einbringen, kann man nur voller Respekt gutes Gelingen und viele Nachahmer wünschen.
Wichtig ist dafür natürlich auch, dass sich immer wieder genug Spender und Förderer finden, damit diese großartigen Projekte nicht am Geldmangel scheitern.
Ruth Paulig ist überzeugt, dass die Berufsschulausbildung für Afrika ganz wichtig ist. »Das Handwerk wird inzwischen viel mehr geschätzt, denn die Handwerker werden gebraucht, um das Land aufzubauen. Die Schülerinnen und Schüler unserer Schulen sind so stolz auf ihr Land! Sie sind hochmotiviert – und sie sind stolz darauf, dass sie mit Europa zusammenarbeiten! Das gibt ihnen Wertschätzung für sich selbst und auch ihrem Land gegenüber.
Die jungen Menschen in Afrika, auch die, die keine Chance haben, einen Beruf zu erlernen, lieben ihre Heimat und wollen sie nicht verlassen. Aber dann sehen sie im Fernsehen, wie das Leben in Europa ist, und dann gehen sie weg, anstatt dass man ihnen zuhause eine Ausbildung gibt. Das verstehe ich nicht!
Ich würde diesen Weg der Ausbildung in Handwerksberufen gern öfter sehen in der Politik! Offizielle Entwicklungsprojekte sind oft so großkotzig! Es sind Riesenprojekte, die wahnsinnig viel Geld verschlingen. Mit einem Bruchteil dieser Summen könnte man so viele Schulen aufbauen! Darauf sollte man den Fokus richten! Dann gibt man den Menschen dort eine Perspektive auf ein gutes Leben im eigenen Land – und sie müssen nicht mehr weggehen und im Mittelmeer ertrinken … «
»… an beiden Enden des Äquators …«
Im Rückblick ist Ruth Paulig stolz darauf, dass es ihr gelungen ist, mit ihrem Engagement die Berufsschulen »an beiden Enden des Äquators, im Osten und im Westen« ermöglicht zu haben. Aber jetzt, wo sich abzeichnet, dass ihre Projekte erfolgreich sind und vielleicht zu Selbstläufern werden, möchte sie ihren persönlichen Einsatz herunterfahren.
»Ich will aus dem Vorstand herausgehen und nur noch im Beirat bleiben. Und ich will endlich Zeit für mich selbst haben und wieder malen. Das Malen ist ein Teil von mir, das will ich wieder umsetzen. Es ist eine Bereicherung für mich selbst.«
Ich denke, das hat sich Ruth Paulig mehr als verdient, dass sie sich endlich Zeit für ihre eigenen Interessen nimmt. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass sie sich wirklich ganz aus dem Geschehen, ob im politischen oder sozialen Bereich, zurückziehen wird – dafür ist sie immer noch viel zu engagiert. Auch wenn sie sagt: »Ich mag nicht mehr … Schon vor mehr als 40 Jahren hatten wir in der Politik dieselben Themen wie heute, und nichts hat sich geändert! Das zermürbt mich. Zwei Generationen sind verloren gegangen … Man sagt und fordert immer das Gleiche. Aber nichts passiert … Nein, ich mag nicht mehr!«
Mal sehen, ob die Powerfrau Ruth Paulig den völligen Rückzug ins Private wirklich durchhält … Ich kann’s mir nicht vorstellen …
Irmgard Voigt schreibt
Eine weitere sehr interessante, toll geschriebene Reportage. Danke Ulrike!
dodo lazarowicz schreibt
so lang wie hochinformativ und wunderbar! toll, danke ulrike!
Cornelia von Schelling-Sprengel schreibt
Was ist Ruth Paulig für eine einmalige, interessante, bewundernswerte Frau ! Und Ulrike Zieglers Artikel über sie bringt sie einem so nahe – man folgt ihr mit Spannung und so viel Sympathie auf jedem neuen Lebensweg
Heilmann schreibt
Liebe Ulrike, dieses Interview ist ein Ansporn für mich. Ich danke dir.