Ich heiße Sandra Rivera und bin 28 Jahre alt. An meinem 15. Geburtstag holte mich mein Vater zu den FARC, den „Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“. Er war ein comandante, ein ranghoher Befehlshaber bei der Guerilla. An diesem Tag wurde mein bisheriges Leben ausgelöscht. Nichts war mehr so wie es vorher war, denn ich trat in die geschlossene Welt der Guerilla-Kämpfer ein.
Nie wieder besuchte ich eine Schule, brach für immer den Kontakt zu meinen Freunden und Freundinnen ab, trennte mich auf Nimmerwiedersehen von dem Jungen, in den ich unsterblich verliebt war.
Aus meinem früheren Leben blieb mir nur noch mein Vater. Obwohl er es war, der mich zu den FARC brachte, und obwohl ich seinetwegen heute im Gefängnis einsitze, habe ich niemals aufgehört ihn zu lieben. Er war trotz allem der zärtlichste aller Väter, er bleibt für immer mein geliebter papito.
Dann kamen die Helikopter
Als Guerillera bekam ich einen neuen Namen. Ich legte meinen Taufnamen ab wie alles andere, was bis dahin mein Leben ausmachte. Es sollte mir nicht mehr erlaubt sein, auch nur einen einzigen Schritt alleine und unbeobachtet außerhalb eines Guerilla-Camps zu machen. Jetzt zählte nur noch die Welt der FARC.
Ich nahm an ungezählten bewaffneten Kämpfen teil, an Feuergefechten gegen das kolumbianische Militär und gegen die rechten Privatmilizen, die paramilitares – bis ich am 28. Januar 2002, nach einem Kampfeinsatz in einer Ortschaft namens Potrero Grande im Departement Huila, von der Armee gefasst wurde.
Als die Militärhubschrauber auftauchten, hatten wir das Gefecht bereits hinter uns. Wir waren überzeugt, die Soldaten zum Rückzug getrieben zu haben. Doch dann kamen, völlig unerwartet, die Helikopter. In panischer Angst duckte ich mich unter einen Felsvorsprung. Das rettete mir das Leben. Sonst hätten mich die Soldaten mit ihren Maschinenpistolen erschossen. Meine Mitstreiter wurden alle niedergemäht, ich bin die einzige Überlebende.
Das Urteil: 40 Jahre Gefängnis
Stunden später fanden mich die Soldaten halb tot neben einem kleinen Bach. Sie nahmen mich fest und brachten mich in die Kaserne von Neiva, der Hauptstadt der Provinz Huila. Danach folgten: Verhöre, Verurteilung, Gefängnis.
Mein anfängliches Strafmaß: 27 Jahre Freiheitsentzug. Das Gerichtsurteil nach dem Revisionsverfahren: 40 Jahre Gefängnis. Eine letzte Verhandlung steht noch aus.
Man wirft mir mehrfachen Mord, Brandstiftung, Raub und Mitgliedschaft bei der Guerilla, also einer terroristischen Vereinigung, vor.
Nun sitze ich schon über vier Jahre im Hochsicherheitstrakt des „Buen Pastor“, dem Frauengefängnis von Bogotá, und bete, ich möge mein Leben nicht hier beenden. Täglich träume ich von einem Neubeginn außerhalb dieser Gefängnismauern.
Noch immer glaube ich, dass mir Gerechtigkeit widerfahren wird, dass ich doch in einigen wenigen Jahren frei komme. Denn nur ein einziger der mir angelasteten Anklagepunkte stimmt: Ich war Guerillera – wie sollte ich das leugnen. Aber eine Mörderin war ich nie. Ich war zwar an zahlreichen bewaffneten Kämpfen beteiligt, habe jedoch niemals hilflose, unbewaffnete Zivilisten erschossen. Viele meiner Mitkämpfer mussten das tun. Ich nicht. Auch Raub und Brandstiftung habe ich nie begangen.
Das kann ich beschwören, el buen Dios, der gütige Gott ist mein Zeuge.
Ich war noch ein junges Mädchen, fast noch ein Kind.
Ich wollte nicht zur Guerilla, doch ich hatte nie eine andere Wahl: Mein Vater, überzeugt von den revolutionären Idealen der „Fuerzas Revolucionarias de Colombia“, hat es so bestimmt.
Kurz bevor ich in das Camp der Rebellen geholt wurde, setzte er sich zu mir und erklärte mir, wer die FARC sind, und wofür sie kämpfen. Er, ein einsilbiger Mann, der als Kind nur kurze Zeit in die Dorfschule durfte, redete jetzt wortreich wie ein Lehrer, der mir eine Lektion erteilt. „Sandrita, die FARC sind die größte, die mächtigste Guerilla-Organisation der Welt. Etwa 18 000 mutige Rebellen kämpfen gegen die sozialen Ungerechtigkeiten in unserem Land, gegen die Korruption der Regierungen, der Privatunternehmen und der herrschenden Klasse Kolumbiens. Die FARC sind die älteste unbesiegte Gruppe bewaffneter Freiheitskämpfer auf unserem Kontinent. Sie kämpft für ein besseres, ein gerechtes Kolumbien.“
Das war seine Einleitung, er klang ungewohnt förmlich. Ich kann seine Worte noch heute auswendig heruntersagen, denn ich habe sie später beim Ideologieunterricht im Guerilla-Camp immer wieder zu hören bekommen.
Dann erzählte er mir von übermächtigen Großgrundbesitzern und millionenschweren Viehzüchtern: „Sie herrschen wie Feudalherren auf ihren riesigen Ländereien, bezahlen Hungerlöhne und vertreiben ihre Arbeiter, sobald sie sie nicht mehr beschäftigen wollen. Und wenn die armen Schlucker aufmucken, zünden sie einfach deren Gehöfte an. Wir von den FARC kämpfen bereits seit über vierzig Jahren für eine Landreform. Deswegen stehen Tausende campesinos, einfache Landarbeiter, wie ich einer war, tausende Tagelöhner, Obstpflücker und Kleinbauern stehen hinter uns. Du wirst es selbst erleben, meine Kleine!“
Dauernd streichelte mein Vater über meine Wange, wie immer mit dem Handrücken, weil seine Finger von der jahrelangen Feldarbeit rau und rissig waren. Dann räusperte er sich und zog die Stirn streng zu einem einzigen Strich zusammen, als er sagte: „Aber leider ist unser Kampf blutig, denn wir kämpfen an vielen Fronten: gegen das kolumbianische Militär, dass uns vernichten will. Gegen die korrupte, bestechliche Polizei, und, wie du weißt, gegen unsere erbitterten Feinde, die paramilitares.
„Ich weiß, papito, die paras schießen und bomben.“ „So ist es, mein Töchterchen. Es sind gut bezahlte, kaltblütige Killer-Kommandos. Sie wurden in den 60er Jahren von den Großgrundbesitzern und den Kokabaronen gegründet und aufgerüstet, um ihre Plantagen und Häuser zu schützen und mit Waffengewalt vor der Guerilla zu verteidigen. Heute sind sie längst nicht mehr nur dazu da, die hacenderos zu verteidigen. Sie haben eigenständige Truppen, die sich am Anbau riesiger Koka-Plantagen beteiligen, das weiß jeder. Im Gegensatz zu unseren Leuten, werden die paracos besonders gut bezahlt. Man sagt sie bekommen über 300 Dollar im Monat. Leider läuft deswegen schon mal ein geldgieriger Guerillero zu ihnen über.“
Mein Vater redete sich in Rage, schimpfte immer lauter auf die verdammten paracos, die ganze Dörfer und Kleinstädte vereinnahmen und aussaugen würden. „Wer sich ihnen widersetzt, dem geht es schlecht. Die Männer der Paramilitärs foltern, reißen Fingernägel aus, reiben eigenhändig Salz in die Wunden ihrer Opfer. Deshalb bekämpfen wir sie und ihre Sympathisanten und Helfer mit Waffengewalt!“
Da unterbrach ich meinen Vater, erinnerte ihn daran, dass es in den Guerilla-Camps doch auch Weihnachtsfeiern mit Tanz und Musik gäbe, und fragte ihn auch, wie häufig er mich denn besuchen würde, dort bei den FARC. Ich wollte nicht noch mehr über diesen schrecklichen Krieg erfahren, vom dem ich sowieso nichts verstand. Ich war ja noch ein junges Mädchen, fast noch ein Kind.
„Irgendwann werden alle Kolumbianer erkennen, dass wir ihre Befreier sind.“
Mein Vater überging meine Frage und sprach einfach weiter. Er war einer der políticos, einer der für den Ideologieunterricht zuständigen Kommandanten, und das obwohl er keiner war, der gern redete. Erst bei der Guerilla lernte er mit großen Worten zu deklamieren, was man ihm in den zahlreichen Unterrichtsstunden beigebracht hatte.
Wenn es um die Gegner der FARC ging, geriet er besonders in Rage: „Die USA sind die schlimmsten Feinde! Sie wollen den Drogenhandel bekämpfen, und weißt du wie dieser Kampf aussieht? Sie schicken uns ihre Flugzeuge und besprühen die Felder der Koka-Bauern. Sie vergiften die Erde, die Bauern erkranken und stehen alleine da, ohne Land, ohne Unterstützung.“
Dann schimpfte er auch noch über die nordamerikanischen Konzerne, die an dem kolumbianischen Öl verdienten und über die Millionen Dollars an Militärhilfe der USA für die kolumbianische Regierung.
„Wir von den FARC begehren dagegen auf. Wir sprengen die Ölpipes und führen den Krieg gegen die Ungerechtigkeit, bis wir ihn gewinnen.
Irgendwann werden alle Kolumbianer erkennen, dass wir ihre Befreier sind.“
Doch die kolumbianischen Richter, die mich verurteilt haben, wollten davon überhaupt nichts wissen. Die Rebellen der FARC sind für die Gerichte keine Freiheitskämpfer, sie sind Terroristen.
Ich fühle mich nicht als Verbrecherin und auch nicht als Terroristin
Bei meiner ersten Gerichtsverhandlung schrie der gegnerische Anwalt so laut in den kleinen Raum, dass ich vor Entsetzen erstarrte: „Jeder, der zur FARC gehört, jeder einzelne ist Terrorist! Auch diese junge Frau hier. Die Guerilla legt Bomben, wirft Granaten, knallt unsere Soldaten ab, sprengt Ölpipes in die Luft, überfällt unsere Polizeistationen und brennt ganze Dörfer nieder. Die Angeklagte weiß wovon ich rede! Als das Militär sie gefangen nahm, hatten ihre Leute gerade eine ganze vereda, die ländliche Ansiedlung Potrero Grande in Schutt und Asche gelegt. Neun Zivilisten, neun unschuldige Menschen mussten sterben.“
Als mein Anwalt konterte, die Einheit, zu der ich gehörte, hätte keines der Häuser angezündet, es gäbe Zeugen dafür. Als er beteuerte, ich hätte nicht einmal einen Schuss abgegeben: „Sie hat ihre Pistole nie benutzt, nicht eine einzige Kugel fehlte; auf der Waffe, die man ihr abnahm, befindet sich kein Fingerabdruck von ihr!“ Als mein Verteidiger das sagte, da steigerte sich der Zorn des gegnerischen Anwalts immer weiter.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was er alles heraus geschrieen hat, meine Knie zitterten so, dass sie aneinander schlugen und mein gesamter Körper anfing zu beben. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, so verängstigt war ich. Ich weiß nur noch, dass er immer weiter gegen die FARC wetterte, und Dinge über sie behauptete, mit denen ich persönlich, ich die Angeklagte, überhaupt nichts zu tun hatte. „ Die FARC morden nicht nur, sie sind auch Narco-Terroristen. Die gesamte Guerilla ist in millionenschwere Drogengeschäfte verwickelt. Woher bezieht sie ihre Millionen? Hauptsächlich aus dem Drogenhandel. Und aus den Lösegeld-Erpressungen. Damit bezahlen sie ihren Waffennachschub, ihre Truppen, die militärische Ausbildung der Kämpfer in ihren Urwaldcamps. Sie sind Kriminelle, sie sind Verbrecher!“
Dazu muss ich sagen, dass ich selbst nie eine Droge genommen habe, nie mit Drogen in Berührung gekommen bin: In unseren Camps gibt es keine Drogen. Wer mit Kokain, Opium, Heroin oder bazuca erwischt wird, wird sehr hart bestraft. Außerdem lebten wir Guerilleros in den Camps immer in äußerster Armut. Von dem Millionen-Vermögen der FARC, von ihren angeblichen Drogen-Geschäften haben einfache Kämpfer wie ich überhaupt nichts gehabt.
Ich fühle mich nicht als Verbrecherin. Und auch nicht als Terroristin. So kann ich mich nicht sehen. Wirklich nicht! Ich bin ein junges Mädchen, das in einen schrecklichen Krieg hineingezogen wurde, und nicht erkannte, wie ihm geschah. Und das unendlich bedauert, was den unschuldigen Opfern der Guerilla geschah. Nun muss ich dafür bezahlen.
Mir wurde klar: Die Zelle ist dein neues Zuhause
Es ist mir sehr schwer gefallen, mich an das Gefängnisleben zu gewöhnen.
Lange wartete ich jeden Tag darauf, dass jemand auftaucht, mich bei der Hand nimmt und sagt: „Sandra, das ist alles ein Irrtum. Komm, wir gehen auf die Straße, setzen uns in eine Bar, reden mit den Leuten und trinken einen tintico, ein Tässchen Kaffee. Es dauerte Monate bis ich begriff: Ich bin tatsächlich hinter Gittern, dies ist kein Albtraum, aus dem ich im nächsten Moment erwache, dies ist die Wirklichkeit. Erst als die falschen Träume allmählich an Kraft verloren, als der Durst nach Freiheit erlosch, weil nie einer kam und mich hinausführte, begriff ich: Die Zelle ist dein neues Zuhause.
Nur die Erinnerungen sprengen die Mauern. Sie leben ständig neu auf, fliegen über alle Grenzen hinweg und bringen mir die Vergangenheit wieder. Wie aus dem Nichts tauchen Schreckensbilder auf, die ich vergessen möchte, aber ich habe keine Macht über sie. Ich bin ihnen ausgeliefert, vor allem nachts: Ein, zwei Stunden bevor wir geweckt werden, fallen die Albträume über mich her. Plötzlich schrecke ich hoch, sehe mich um, drehe den Körper in alle Richtungen: Meine Mitgefangene liegt neben mir und schläft. Hinter mir liegen meine Stofftiere, und ich sehe das Foto meines Vaters und das meines Sohnes. Im Dämmerlicht ist der Gefängnishof mit seinen hohen, verschmierten Wänden zu erkennen. In solchen Momenten weiß ich wieder, wo ich bin.
Ich kann nicht sagen, was schrecklicher für mich ist, von Albträumen geplagt zu werden oder daraus aufzuschrecken und die traurige Realität wiederzuerkennen.«
Was sagen Sie dazu?