Professor Dr. Horst-Dietrich Mennle, die Koryphäe schlechthin auf dem Gebiete der philosophischen Exkursforschung, war an der Reihe. Er löste am Schalter der Stiegelseebahn zwei Fahrkarten, eine für seinen Doktoranden Mario Renke (29), die andere für sich selbst: „Über Pressling nach Stierfelden, bitte, und auf der anderen Seeseite zurück.“
Der Beginn einer Abstecherreise
Die Frau am Schalter wunderte sich über diese umständliche Beschreibung des Stiegelsee-Roundtriptickets durch den groß gewachsenen, zugleich korpulenten Kunden, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars und gab ihm die verlangten Fahrkarten.
„Macht genau vierundzwanzig Euro, der Herr.“
„Recht herzlichen Dank, Herr Professor, aber ich kann meine Fahrkarte doch wirklich selbst bezahlen“, beeilte sich der Doktorand zu versichern.
„Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Heute sind Sie mein Gast.“ Der Professor lächelte seinem um einen ganzen Kopf kleineren Schüler doktorväterlich gönnerhaft zu.
Die Studenten höherer Semester kennen normalerweise die Marotten ihrer Dozenten, und freilich war auch Renke der tunlichst als Wohltat zu verstehende Brauch Mennles, mitten im Juli den Fleiß des aus seiner Sicht eifrigsten Doktoranden im zurückliegenden Studienjahr mit einer Einladung zur Umrundung des Stiegelsees per Bahn zu honorieren, schon längst bekannt gewesen, bevor er sich plötzlich selbst mit dieser Würdigung konfrontiert sah. Aber er wusste natürlich auch, dass nach dem Vorbild von Kaiser Tiberius’ Refutatio Imperii der vorgebliche Versuch der Gunstzurückweisung in den gebildeteren Kreisen zum guten Ton gehörte. Und dass es der Zweck dieser Geste war, den Wohltäter sich im Gefühl der eigenen Großzügigkeit aalen zu lassen, weshalb sie weder zu routinehaft, noch zu insistierend in Szene gesetzt werden durfte.
Die beiden betraten ein Abteil der zweiten Klasse und nahmen neben dem Fenster auf Bänken mit einer abgewetzten grünen Plüschpolsterung Platz, der Professor in Fahrtrichtung, der Student ihm gegenüber. Als der Pfiff des Schaffners verhallt war, setzte sich der Traditionszug, der noch von einer Dampflokomotive gezogen wurde, ruckelnd und fauchend in Bewegung.
Wieder lächelte der Professor spitzlippig.
„Tradition ist wichtig, lieber Herr Renke, ohne sie wären wir orientierungslos. Aber nicht alles verdient tradiert zu werden, denn das an sich Unwerte gibt uns nur eine vermeintliche, in Wahrheit nämlich falsche Orientierung.“
Der Doktorand fühlte, dass er gegen das bedrohlich nahe Gefühl des innerlichen Zusammensackens schnell etwas unternehmen musste, und sagte ohne zu zögern: „Ja! Ja! Ja!“, so wie dies damals in Mode gekommen war: abgehackt kurz und mit einer unveränderlichen Stimme, die sich auch am Ende nicht senkte.
Hingegen zögerte nun der Professor mit seinem Vortrag fortzufahren, auch das Lächeln wich aus seinem Gesicht, wenngleich beide Ereignisse nicht länger als eine halbe Sekunde währten. Anscheinend war ihm Renkes Bejahungsstakkato in dieser Form unangenehm, vielleicht zu sehr Mainstream, doch er fing sich sofort wieder. Der junge Mann hatte es ja ohne Zweifel gut gemeint. Renke wiederum war die minimale mimische Entgleisung des Professors nicht entgangen und er nahm sich fest vor, auf der Hut zu sein und sich voll auf sein Gegenüber zu konzentrieren.
„Der Exkurs“, fuhr der Gelehrte fort, „bereichert und vertieft unser Wissen. Er führt uns aber auch weg von dem Thema, mit dem wir begonnen haben uns zu beschäftigen, er stört unser Denken.“
Risiken bei der Geburt von Exkursabschweifungen
Renke nickte wortlos in langen Amplituden, als ob ihm gerade ganz Ungeheures bewusst würde. Doch eben diese vorsätzliche Langsamkeit, verbunden mit dem Spröden des Sujets, untergrub die Konzentration des Studenten. Der monotone, einschläfernde Takt des rollenden Zugräder tat ein Übriges.
„Der Exkurs ist der Janus unter den Theoriestrukturelementen. Er zeigt uns zwei grundverschiedene Gesichter.“
Das erinnerte Renke an Anna, seine Ex-Exfreundin. Vor ein paar Tagen hatte er sie zufällig im Café Rundblick getroffen. Er hatte sie zuerst gesehen, wie sie lässig an der Theke stand und an einem Cappuccino nippte, neben dem eine Schachtel Zigaretten lag. Mann, die Frau hatte echt sein Wissen bereichert und vertieft, als sie noch zusammen waren! Aber je länger es gegangen war, desto mehr hatte sie auch sein Leben durcheinander gebracht mit all ihren verrückten Ideen und unvorhersehbaren Launen. Und erst noch ihr ständiges Gequalme! – Dann, warum auch immer, hatte Renke ‚Hallo, Anna!‘ gesagt und ihr am nächsten Morgen wieder den Cappuccino an sein Bett gebracht.
In der Ferne zog die Kirche von Auting mit ihrem Zwiebeltürmchen an ihnen vorbei.
„Wir dürfen den Exkurs aber nicht verteufeln, lieber Herr Renke, das wäre der ganz falsche Weg.“
Der Doktorand schürzte zustimmend die Lippen, froh darüber, dass der Professor seine kurze geistige Abwesenheit offenbar nicht bemerkt hatte.
„Beziehungsweise“, fuhr Mennle fort, über sein unmittelbar bevorstehendes Bonmot schon vorab grinsend, „wenn der Exkurs tatsächlich so ein Teufelchen ist, dann muss man ihn eben an die Kandare nehmen.“
Renke hob staunend-fragend die Augenbrauen.
„Sie kennen doch sicherlich den Song ‚Spinning Wheel‘ der Gruppe Blood, Sweat & Tears?“
Von dieser Formation hatte Renke noch nie etwas gehört. Er tat so, als dächte er intensiv nach, um sich keine unnötige Blöße zu geben.
„What goes up must come down; spinning wheel got to go round“, sang der Professor und grinste immer noch.
„Aber natürlich! Ich weiß nicht, warum es mir nicht sofort eingefallen ist. Sie besitzen übrigens einen sehr beachtlichen lyrischen Tenor, Herr Professor. Wer hätte das gedacht!“
Der Professor errötete und winkte ab.
„Aber was ich noch nicht ganz verstehe: Worin besteht der Zusammenhang?“
„Welcher Zusammenhang? Ach so, natürlich! Es geht letztlich um Symmetrie, verstehen Sie? Wenn der Exkurs uns, selbst wenn es in bester Absicht geschähe, vom Thema wegführt, dann muss es auch einen Rekurs geben, der uns wieder zu ihm zurückführt. Wenn Sie auf der Autobahn feststellen, dass Ihre Tankfüllung zur Neige geht und Sie die Schnellstraße verlassen, um eine Tankstelle anzufahren, dann setzen Sie doch voraus, dass es von dort einen Weg gibt, der Sie zurück zur Autobahn führt. Dieser Weg ist der Rekurs, so wie ich ihn verstehe, der Rückweg zum Thema!“
„Absolut, Herr Professor, absolut! Und um das theoretische Benzin bereichert, das ich dem Exkurs verdanke.“
Renke war sehr stolz auf seine Metapher. Der Professor sprang von seinem Sitz hoch und klopfte ihm kräftig auf die Schulter.
„Theoretisches Benzin! Köstlich!“
Er nahm wieder Platz, froh über so viel Verständnis und solche Begeisterung für das Forschungsgebiet bei seinem Lieblingsschüler.
Halb erschlagen, aber zufrieden mit der Wirkung seiner Formulierung wartete der Doktorand auf den Fortgang der Ausführungen des Professors. Der Zug fuhr mit metallisch kreischenden Bremsen in den kleinen Bahnhof von Meising ein. Er sah unauffällig auf die Uhr und rechnete: Erst zwanzig Prozent der Fahrzeit waren vergangen! Sich bloß nichts anmerken lassen, war die Devise.
Die Ambiguität professoraler Wohltaten
Anstatt weiterzudozieren, öffnete Professor nun den mitgebrachten Rucksack mit Schottenmuster und fing an ihn auszupacken.
„Ich glaube, wir haben uns eine kleine Stärkung verdient, mein lieber Herr Renke. Diese Brote habe ich für uns schon letzte Woche geschmiert. Mit Butter und Teewurst, aus der Schlachtung meiner Großmutter. Die Teewurst enthält Löwenzahn- und Brennnesselblätter, müssen Sie wissen!“
Renke gab sich Mühe, begeistert zu wirken, als er die ihm gereichte Schnitte auswickelte.
„Das ist aber noch nicht alles!“, verkündete Mennle triumphierend. „Wissen Sie, was sich in dieser alten verbeulten Thermosflasche befindet?“ Er deutete auf einen Behälter, der zumindest außen schon einigen Rost angesetzt hatte.
„Sie spannen mich ganz schön auf die Folter, Herr Professor“, antwortete Renke diplomatisch.
„Darauf kommen Sie nie! Lauwarmer Holundersirup, ungesüßt, dafür mit einem Hauch Knoblauch, eine Spezialität meiner Tante Beatrix Stöffl. Ich habe nämlich noch eine zweite Tante Beatrix, die heißt aber Bierkellner.“
„Lecker, mmh!“, kommentierte Renke, ergeben in sein Schicksal, das er nach Abschluss der etwa zehnminütigen Ess- und Trinkmarter dennoch lobte, weil es ihn diese hatte überleben lassen. Er würde sich allerdings, bevor er am Abend mit Anna ausging, gründlich die Zähne putzen und mit einem Mundwasser gurgeln müssen.
„Und jetzt ‘ne echte Havanna, da sagen Sie doch sicher nicht nein!“
Mennle griff in seine Brusttasche und holte zwei dicke, in gräuliches Küchenkrepppapier eingewickelte Stumpen von mindestens fünfundzwanzig Zentimeter Länge heraus.
„Die haben zehn Jahre lang im Humidor gelagert“, betonte der Exkursforscher.
Renke stotterte: „Aber Herr Professor, ich glaube nicht, dass man hier im Zug rauchen darf. Sicher kleinlich, ökologizistisch, aber…“
Mennle deutete nur auf das Schild „Raucher“ über der Abteiltür. Er entzündete ein Streichholz und bewegte die Zigarre darüber hin und her, bevor er sie mit kräftigen Zügen in Brand steckte und Renke sein Exemplar überreichte. Während des Rauchens, das die nächste halbe Stunde in Anspruch nahm, sprach der Professor kein Wort, Renke, kein Freund des Rauchens, auch nicht. Allmählich verschwand der Professor vollkommen hinter einer Rauchwolke. Schließlich entschuldigte sich Renke ganz eilig und kam fünf Minuten später totenbleich wieder zurück. Inzwischen hatte Mennle, so gut es ging, gelüftet.
„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wir sagten: Der Exkurs ist ein kleines Teufelchen. Er ist nützlich, aber man darf ihm nicht über den Weg trauen.“
Renke starrte apathisch durch den Professor hindurch in eine imaginäre Ferne. Zum Teufel mit dem blöden Exkurs und dem Professor gleich noch dazu! Er hätte längst mit seinen Freunden in Urlaub fahren können, nach Kroatien oder in die Provence! Und er wäre auch Anna nicht wieder begegnet und hätte sich nicht wieder mit ihr eingelassen. So ein Schwachsinn! So ein nutzloser Mist! – Obwohl, naja: Nach einem im vierten Semester abgebrochenen Studium der forensischen Ästhetik war ihm das Studium der Exkursgeschichte als eine sinnvolle Alternative erschienen. Später hatte er noch als Promotionsstudium Exkursphilosophie drangehängt, da in diesem Fach die Aussichten auf eine akademische Laufbahn anscheinend blendend waren. Und all dies nun, kurz vor dem Ziel, wegschmeißen nur wegen eines Teewurst-Holundersirup-Rekurses? Mensch, Mario, reiß dich bloß zusammen!
„Herr Renke, ist Ihnen etwas? Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Mennle besorgt und hielt den Atem an.
„Doch, doch, Herr Professor! Es ist nur so, dass mich hin und wieder ein heiliger Schrecken packt, wenn ich mir vor Augen halte, was für ein weites Feld die Exkursphilosophie recht eigentlich darstellt! Ich bin Ihnen so dankbar für die Einblicke, die Sie mir heute in diesem wunderschönen Ambiente gewähren. Wie war das nochmal mit dem Teufelchen?“
Erhebende Momente im Leben eines Studenten
Erleichtert entließ der Professor einen Schwall abgestandener Tabakluft in Richtung des Doktoranden, den es fast schon wieder hob, und fuhr fort:
„Ich sehe, Sie wollen es wirklich wissen! Nun gut: Sie kennen natürlich Goethes ‚Faust‘ und die Selbstcharakteristik des Mephistopheles, er sei ‚ein Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.‘ Schwant Ihnen etwas?“
Renke, der noch immer um physische Fassung rang, erwiderte: „Doch, das sagt mir etwas. Es ist wie… –“
„Ja!“, kürzte der Professor Renkes Bedenkzeit mit der Ungeduld des Eiferers ab, „Mephisto ist der Exkurs im Leben Dr. Fausts! Er will ihn von seiner höheren Bestimmung, die das Thema seines Lebens ist, ablenken, wegführen und verspricht ihm eine schier endlose Vergnügungsreise: ‚Damit du, losgebunden, frey, erfahrest, was das Leben sey.‘ Der Teufel will Faust vom Lebenssinn wegziehen, hin zum Lendensinn: in eine Sphäre der sinnlosen sinnlichen Herumtreiberei!“
Der Professor schien sich allmählich in Trance zu reden und auch sein Schüler fiel in diesem Moment, in dem körperliche Schwäche, eindringliche Rhetorik und gleichförmige Fahrgeräusche sich vermischten, in eine Form von Halbbewusstsein, in der er zwar durch eine Art automatisierter Mimik den Schein aufrecht erhalten konnte, dem Monolog des Professors zu folgen, innerlich jedoch eigenen Gedanken nachhing.
‚Sinnliche Herumtreiberei‘ – für dieses Programm hätte Renke nur allzu gerne einen Geist zur Verfügung gehabt. Einen Geist, der die Dinge in seinem Sinne hätte steuern können. Dann wäre die Vergnügungsreise nach Kos an Ostern sicher nicht derartig aus dem Ruder gelaufen. Und dann hätte ihn auch Anna jetzt nicht wieder in ihren roten Krallen. Sein über- beziehungsweise unterirdischer Reisebegleiter hätte dieses Fischermonster, das Kerstin von Anfang an angemacht hat, einfach im Duell erledigt wie Mephisto es mit Gretchens Bruder so effektiv durchgezogen hat: ‚Nun ist der Lümmel zahm!‘ Von wegen! Stattdessen musste er sich von seiner Damaligen als dummer, verklemmter Bubi hinstellen lassen, sich von ihr ständig ‚Kos, Kosen, Kosi fan tutte‘ anhören!
„Ich sehe es Ihnen an, lieber Renke, Sie sind genauso empört wie ich! Wie konnte Goethe Herrn von Kleist dies nur antun? Einem so hoffnungsvollen jungen Talent! Er hat seine Machtstellung schändlich missbraucht, er hat nicht ein Minimum an Sensibilität bewiesen. Einfach abscheulich!“
Eine Adrenalinwoge schwappte über Renke zusammen. Wovon sprach Mennle denn überhaupt? Was hatte er nicht mitbekommen? Er spürte den Boden unter den Füßen nicht mehr. Ohnehin körperlich immer noch sehr fragil, überkam ihn urplötzlich eine derartige Übelkeit, dass er aus dem Abteil rannte, ohne auch nur die knappste Erklärung abgeben zu können. Als er nach zehn Minuten sichtbar weiter geschwächt und sich an den Wänden abstützend zurückkehrte, fand er im Gesicht des Professors alle Anzeichen höchster Besorgnis.
Die Verantwortung des Wissenschaftlers
„Oh Gott! Was habe ich nur angestellt? Wie konnte ich Ihrem zarten Gemüt nur diese fürchterliche Geschichte zumuten? Bitte verzeihen Sie mir! Es sollte eine erbauliche philosophische Bahnfahrt werden, doch sie hat sich durch mein törichtes Verhalten für Sie in ein psychisches und physisches Inferno verwandelt!“
„Ach, lieber Herr Professor“, entgegnete Renke mit leiser Stimme, „es gibt doch gar nichts zu entschuldigen. Keine schönere Reise als diese hätte ich mir je wünschen können. Es ist halt nur so, wie Sie genau erkannt haben, dass ich für die Begegnung mit manchen tragischen Ereignissen und Gegenständen innerlich noch nicht gerüstet bin. Ich bin es also, der Sie wegen mangelnder Reife um Nachsicht bitten muss.“
Der Professor erhob sich gerührt und strich der dahinsiechenden akademischen Nachwuchskraft wortlos und vorsichtig über das bereits schütter werdende Haar.
Der Zug fuhr in den Bahnhof von Pressling ein, einige Leute stiegen aus, andere ein und tief in seinem Inneren fühlte sich Renke auf doppelte Weise erleichtert.
Behutsam nahm Mennle den Faden seines Monologs wieder auf: „Kleist war wirklich kein Kleiner! Er hat Sprache bis zum Zerreißen strapaziert und auch – zerstört. Aber wie alle genialen, im wahrsten Sinne des Wortes, Sprachgewaltigen hat er sie dadurch auch spürbar gemacht.“
Auch Kerstin war nicht klein, aber von ihr gespürt hatte Renke nicht sehr viel, jedenfalls seiner Meinung nach nicht genug. Verdammtes Luder! Das war mit Chantal alles ganz anders gewesen, einer zierlichen, einfühlsamen Malerin, die er im vorigen Sommer in Aix-en-Provence kennen gelernt hatte. Sie hatte ihn nur mit „Mon Marius“ angesprochen, nach dem Roman „Marius“ von Marcel Pagnol, der in Südfrankreich spielt, ihrer Heimat. Oder auch mit „Mon Chou“. Als er versucht hatte, sie dazu zu überreden, zu ihm nach Deutschland in die große Stadt zu ziehen, war er zu seiner freudigen Überraschung kaum auf Widerstand gestoßen. Die ersten Monate hing der Himmel denn auch voller Geigen – und Blumen, denn Chantal hatte sich auf diese beiden Themen spezialisiert. Natürlich konnte Renke nicht jede Woche eine neue, besser noch: alte Violine mit nach Hause bringen, Blumen aber schon, und das erwartete Chantal von ihm auch. Und sie belohnte ihn immer dafür.
Was für ein Leben hatte er geführt, hatten sie geführt! Bis eines Tages ein paar Freunde von ihm zu einem kleinen Umtrunk kamen und sich hinter vorgehaltener Hand über die Themen der an der Wand befestigten Aquarelle Chantals lustig machten. Und indirekt auch über ihn, Renke, weil er zugelassen habe, dass seine Bude in ein Puppenhäuschen verwandelt worden sei. Das hatte er natürlich zuerst alles zurückgewiesen, aber es nagte doch an ihm. Als weichgespülter, romantischer Zuckersoftie wollte er nämlich nicht vor aller Welt dastehen. Also begann er, Chantal zu ihren Bildern Fragen zu stellen, was dieser zunehmend auf die Nerven ging, trotz Renkes Bekenntnis „Ich weiß natürlich, dass du eine ganz große Künstlerin bist“, mit dem er seine Anmerkungen grundsätzlich einleitete. Ob das denn nicht auf die Dauer etwas einseitig sei, ob diese starke Spezialisierung nicht ihrer künstlerischen Weiterentwicklung im Wege stehe, ob nicht auch die gesellschaftliche Wirklichkeit der malerischen Gestaltung würdig sei und so weiter. So dauerte es nicht mehr lange, bis Renke in der kleinen Küche nicht ein französisches Frühstück mit warmen Croissants und Konfitüre erwartete, sondern die reisefertige Chantal mit gepacktem Köfferchen: „Voilà, j’ai compris. Tu ne m’aimes plus. Donc, je m’en vais.“ In den folgenden Wochen hatte Renke viel Trost gebraucht und Kerstin, eine von denen, die sich mit am meisten über Chantals Bilder lustig gemacht hatten, hatte ihm diesen in reichstem Umfang gespendet.
„Diese Natter!“, entfuhr es Renke.
„Ich bin ganz Ihrer Meinung, lieber Renke, diese Bezeichnung hat sie vollauf verdient.“ Er war ganz aufgeregt und holte tief Luft.
Renke schreckte hoch. Einer zweiten Beinahe- oder Ganzbloßstellung fühlte er sich nicht gewachsen und öffnete daher den Mund, um sich durch ein umfassendes Geständnis Erleichterung zu verschaffen. Doch der Professor schnitt ihm das Wort ab, noch bevor es überhaupt akustische Gestalt annehmen konnte.
„Eine Natter ist sie, nichts anderes als eine widerliche Natter! Eine Frau, die gar nicht anders als im Mittelpunkt stehend existieren kann und die dafür auch buchstäblich über Leichen geht. Wie oft hat sie das stille Liebesglück anderer oder auch Freundschaften zerstört und darüber sogar noch finster gelacht. Sie hat ein Herz aus Eis, aus reinem, blanken Eis!“
Diese Beschreibung hielt der völlig perplexe Doktorand nun doch für übertrieben. Kerstin war gewiss zickig und vor allem flippig, aber so ein männermassenmordender Vamp war sie jetzt auch wieder nicht. Aber – konnte es denn überhaupt sein, dass Mennle von ihr sprach? Wie denn? War der Mann womöglich imstande, Gedanken zu lesen? Renke überlegte kurz und kam zu dem Ergebnis, dass es nicht so sein konnte.
Der Zug war inzwischen wieder zum Stehen gekommen. „Stierfelden, hier Stierfelden“, war durch das geschlossene Fenster zu hören, was den Professor auf einen anderen Gedanken brachte.
„Stierfelden verfügt über eine weltberühmte Stierzucht, die so genannten Blaustiere. Wollen Sie die Stallungen besichtigen?“
Abstecher und Rekurs: Etymologische Aspekte möglicher Inkompatibilität
„Das wäre unter anderen Umständen eine ganz fabelhafte Sache. Heute aber fühle ich mich, offen gestanden, etwas zu matt dafür. Ich möchte auch Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, lieber Herr Professor Mennle.“
„Prima. Dann fahren wir doch gleich weiter nach Posselhofen.“
Renke war sich unsicher, wie er dieses „Prima“ verstehen sollte. Hatte Mennle versucht, die Enttäuschung über die Ablehnung seines Vorschlags zu überspielen, oder war auch er daran interessiert, so schnell wie möglich diese Fahrt abzuschließen? Oder beides? Er kam zu keinem Ergebnis.
„Hans Christian Andersen war ein ganz großer unter den Märchenerzählern. Auch Goethe hat ein Märchen verfasst, das er auch sogar noch ‚Märchen‘ nannte, aber ich finde es nicht artistisch, sondern artifiziell. Wie auf dem Reißbrett konstruiert.“
Renke sah keinen Grund, dem Professor hierbei zu widersprechen, und schwieg, wissbegierig blickend.
Aber nicht sehr lange, da sein die letzten Energiereserven verzehrender Blick auf den Professor hinter den sich allmählich senkenden Augenlidern verschwand und das respektvolle Schweigen einem beherzten Schnarchen wich. Der Professor, obschon erste Zweifel daran hegend, dass jemand wie Renke im akademischen Betrieb das nötige Stehvermögen aufbrächte, lächelte nachsichtig und zündete sich eine weitere Havanna an.
Renke fiel in einen sehr unruhigen Schlaf und hatte einen wirren Traum: Chantal hatte einen großen Geigenbogen in der Hand, mit dem sie angespitzte Rosenzweige verschoss. Sie schoss sie auf eine Frau ab, die, an einem weißen Schreibtisch sitzend, die Pfeile jedoch mühelos abfing, wodurch sie sich in Zigaretten verwandelten, die sie sich mit Hilfe ihrer überlangen rotlackierten Fingernägel in den Mund steckte und anzündete. Als die dreizehnte Zigarette erglomm, richtete Chantal den Bogen auf sich selbst. Renkes verzweifelter Rettungsversuch kam zu spät. Hinter seinem Rücken das rasselnde Gelächter der Kettenraucherin, in der er, sich umdrehend, plötzlich Anna erkannte. In diesem Moment öffnete sich eine weiße Tür und Goethe betrat den Raum: ‚Fliehe diese Frau, mein Freund, sie ist artifiziell!‘ Das Rasseln von Annas Gelächter ging nun in ein höllenhundhaftes Bellen über. Renke sah nur noch Rauch und aufglühende Zigaretten. Wohin konnte er fliehen? Er wachte auf.
„Sie sind ja schweißgebadet, lieber Renke. Unsere Reise ist ja nun leider ganz anders verlaufen als vorgesehen. Aber jetzt, Gott sei Dank, geht sie zu Ende und man kann immerhin einen Arzt für Sie rufen.“
Renke, in seinen Sitz gekrümmt, setzte zu einer Antwort an. Doch den Professor drängte es, die verbleibenden Minuten zu nützen, um das gedankliche Netz dieser Fahrt fertigzuknüpfen.
„Goethes Märchen war in der gewählten Form letztlich eine Utopie. Die Exkurs-Rekurs-Figur ist keine Utopie.“
Renke verstand kein Wort, rang sich aber ein schwaches Nicken ab.
„Die Exkurs-Rekurs-Figur“, fuhr der Gelehrte triumphierend fort, „ist die Gestalt des Diskurses, nein: Sie ist sein Wesen!“
„Genau so ist es“, stimmte der Doktorand mit schwacher Stimme zu.
Mennle lächelte durch ein Rauchwölkchen hindurch: „Wollen wir doch mal sehen, auf welchem theoretischen Fundamentum Ihr Votum steht. Großes steht Ihnen bevor – wenn das Fundament ein solides ist.“
Renke versuchte seine letzten Kräfte zu mobilisieren.
„Herr Renke“, die Stimme des Professors klang plötzlich hart, „was stellen für Sie die letzten zwei Stunden dar?“
Renke überlegte fieberhaft. Er musste jetzt schnell die passende Antwort finden, koste es, was es wolle!
Da ging sie ihm auf, wie durch ein Wunder:
„Es war eine bezaubernde Rundreise durch kleine Städte und große Themen. Der Stiegelsee war wie das Leben: Wir umrunden es, aber wir berühren, wir verstehen es letztlich nicht. Am Ende sind wir wieder am Anfang. Alpha est Omega.“
War das möglich? Wie hatte ihm in einem Zustand völliger Schwäche nur ein derartiger geistiger Wurf gelingen können? Er war stolz auf sich und wartete auf die freudige Bestätigung seines genialen Einfalls durch den Professor.
Der aber schwieg und packte seine Utensilien zusammen.
„Birnbrunn, hier Birnbrunn. Bitte alles aussteigen, der Zug endet hier.“
Renke wurde unruhig.
Der Professor sagte immer noch nichts.
Renkes Puls schoss nach oben.
„Wie habe ich mich nur so in einem Menschen irren können!“ Mennle schüttelte den Kopf. „Sie haben nichts verstanden, Renke, – rein gar nichts. Das Leben ist kein unberührbarer See. Es ist vielmehr ein Pool von Themen, mit denen wir uns befassen. Der Exkurs führt uns von ihnen weg, in sich jedoch schon dialektisch den Keim für den Rekurs nährend, der uns zum Thema zurückführt. Das Leben ist dergestalt Diskurs und der Diskurs ist Leben.“
„Aber das habe ich doch gesagt. Gewiss, meine Formulierung war insofern missverständlich, als…“, wollte der verzweifelte Renke einwenden, doch der Professor unterbrach ihn.
„Hier, nehmen Sie die, Sie können sie gebrauchen.“
Der Professor legte die letzte Havanna neben Renke auf den Sitz, nahm seinen Rucksack und zwängte sich eilig aus dem Abteil hinaus.
Was sagen Sie dazu?