Beide sind wir etwas zu früh dran. Wir sind in einem Café verabredet, das für jeden etwa auf halber Radstrecke liegt. Bis vor kurzem hat es noch geschüttet. Dann hat der Regen aufgehört und wir haben beide die Gunst des Augenblicks genutzt und sind losgefahren.
Während ich mich nach einer ruhigen Ecke für unser Gespräch umsehe, stellt er draußen sein Fahrrad ab. Blaue Regenjacke, ein wollenes Stirnband im dichten, inzwischen eher weiß- als rotblonden Haar. Ich erkenne ihn sofort. Sein markantes Gesicht ist mir aus manchem Film in Erinnerung, sein Name war mir bisher nicht geläufig: Viktor Schenkel, 62 Jahre alt, Grafiker, Clown und Schauspieler. Und seit kurzem Gründer, Regisseur und Impresario des „Theater Grenzenlos“.
Ich bin nicht die einzige, die dieses Gesicht kennt, ohne ihm gleich einen Namen zuordnen zu können. Viktor Schenkel hat es aus unerklärlichen Gründen nicht in die Riege der bekannten deutschen Schauspieler geschafft. Auch er selbst weiß nicht, woran das liegt. Immer wieder hat man ihn nach Dreharbeiten gefragt, ob er sich bisher versteckt habe. Hat er nicht. Genau wie andere Schauspieler ist er in Casting-Agenturen vertreten. Rollen wurden ihm versprochen, sollten ihm sogar auf den Leib geschrieben werden. Nichts davon ist passiert. „Der Filmbetrieb ist ein Haifischbecken“, sagt er. „Da wird viel versprochen und wenig gehalten. Vielleicht hab ich auch einfach nicht genug Glück gehabt. Oder ich war zu alt. Ich war schon Ende 30, als ich mit der Schauspielerei angefangen hab. Agenturen bauen lieber junge Schauspieler auf, davon können sie dann noch viele Jahre profitieren.“
Vom Grafiker zum bayerischen Woody Allen
Viktor Schenkel hat ein buntes Berufsleben hinter sich. Schon als Kind hat er sich gern vor dem Spiegel verkleidet und ist in die Rollen von selbst erdachten Phantasiegestalten geschlüpft. Als dann in seiner Heimatstadt der Circus Roncalli gastiert, hängt er den erlernten Grafikerberuf an den Nagel und heuert bei dem Zirkus als Helfer an. Heimlich übt er Clownsnummern ein, die er schließlich in der Pause zeigen darf.
Dann lernt er seine spätere Frau Linde Scheringer kennen und gründet mit ihr das erfolgreiche Clown-Kabarett „Uno Duo“. Doch auf die guten Zeiten folgen schlechte. Er macht den Fehler, einen befreundeten Solo-Kabarettisten ins Duo aufzunehmen. Die Sache geht schief, die Buchungen bleiben aus.
Da kommt Schenkel auf die Idee, aus seinem markanten Woody Allen-Gesicht Kapital zu schlagen. Das Projekt „Rent a Face“ läuft gut und beschert ihm und seiner Familie, die sich inzwischen um drei Töchter vergrößert hat, zehn sorgenfreie Jahre. Werbeleute buchen den „bayerischen Stadtneurotiker“ für witzige Spots, die Filmbranche wird auf ihn aufmerksam.
Doch dann macht der echte Woody Allen wegen eines Missbrauchsskandals negative Schlagzeilen, und von heute auf morgen ist der bayerische Stadtneurotiker out.
Grenzen in den Köpfen verschieben
Er ist inzwischen Ende 50. Mit kleinen Nebenrollen und Theaterworkshops für Jugendliche versucht er, zum Familienunterhalt beizutragen, den seine Frau mit ihrem erfolgreichen Figurentheater nun allein tragen muss. Wenn es manchmal trotzdem nicht reicht, nimmt er zusätzliche Gelegenheitsjobs an. „Wir haben oft von Monat zu Monat gelebt“, sagt er. „Es war eine sehr belastende Situation.“
Ein solcher Job ist die Hausmeisterstelle in der Mohr Villa, einer Kultureinrichtung im Münchner Norden. Als er die Stelle vor drei Jahren auf Drängen seiner Frau antritt, stellt er fest, dass die Villa zwischen einer Mittelschule und einer Auffangeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge liegt. Und er hat die zündende Idee, die von nun an sein Leben bestimmt:
Er gründet das Theater Grenzenlos ››, ein Integrationsprojekt, das die jungen Geflüchteten und deutsche Jugendliche zusammenbringen und die Grenzen in den Köpfen verschieben soll.
Die Geschäftsleiterin der Mohr Villa ist von seiner Idee angetan und bietet ihre Unterstützung an. Voller Elan macht er sich an die Arbeit, doch schnell muss er feststellen, wie schwierig und zäh sich die Umsetzung seiner Vision anlässt. Immer wieder bleiben die jungen Leute weg. An einem Tag kommen neun, am nächsten nur zwei. „Man könnte sagen, die Geflüchteten sind vor mir geflüchtet. Aber ich kann das verstehen. Fast alle sind traumatisiert, sie sind eingeschüchtert und haben keinerlei Selbstvertrauen. Da kommt keiner von denen her und sagt: „Hurra, ich spiel jetzt Theater!“
Aber er bleibt hartnäckig. „Ich bin hingegangen, hab auf sie eingeredet. Wenn es ihnen schlecht ging und sie weinend im Bett lagen, hab ich sie halt rausgezogen. Hab gesagt, komm zu uns, dann gehts dir besser. Und nach und nach sind wir zu einer Art Familie geworden.“
Auf der Bühne im geschützten Raum
Es ist therapeutische Arbeit, die er da leistet. Und es ist ihm schließlich gelungen, eine Gruppe von etwa zehn Teilnehmern aufzubauen, mit der er fest rechnen kann.
„Bei den Geflüchteten sind es fast ausnahmslos junge Männer. Ich habe versucht, auch Mädchen zum Mitmachen zu bewegen, aber die sind sehr verängstigt und eingeschüchtert. Bei den Deutschen dagegen machen nur Mädchen mit, die Jungs in der Pubertät haben zu viel Angst, sich beim Theaterspielen zu blamieren.“
„Wir kommunizieren mit Händen und Füßen. Wenn ich etwas bei den Proben nicht anders erklären kann, spiel ich es vor. Einmal haben sich die Flüchtlinge beklagt, dass sie benachteiligt wären, weil die deutschen Mitspieler mich verstehen könnten und sie nicht, das sei Ungleichbehandlung. Sie haben verlangt, dass ich alles nur pantomimisch erkläre!“ Für Schenkel ist das ein Zeichen, dass seine Bemühungen erfolgreich sind, dass die gemeinsame Arbeit das Selbstbewusstsein der jungen Leute stärkt.
Tatsächlich entstehen die Stücke in Zusammenarbeit, aus der Improvisation heraus. Jeder kann seine eigenen Ideen einbringen. Die Form aber bestimmt der Regisseur. So wurde das erste Stück als Schattentheater konzipiert. „Das hat einen archaischen Aspekt, und es bietet den Schauspielern einen geschützten Raum, weil die Zuschauer sie nicht erkennen können. Das zweite Stück war ein Maskenspiel – auch die Masken bieten einen geschützten Raum. Sobald die Schauspieler die Masken angelegt haben, sind sie in einer anderen Welt und vergessen den Alltag.“
Die Masken haben die jungen Leute in Workshops selbst gestaltet. „Auch das war therapeutische Arbeit. Jeder hat seine Maske so geformt, wie er sich selbst sieht. Alle waren hoch konzentriert. Es war ganz still im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen gehört.“
Texte gibt es in den Stücken nicht oder sie werden über Band eingespielt. „Die Sprachkenntnisse der Flüchtlinge reichen dafür nicht aus, und ich will nicht, dass wir ins Amateurtheater abrutschen. Außerdem möchte ich reduziertes Theater machen, ohne Sprache. Das schafft stille Momente in unserer geschwätzigen Zeit, in der alles laut und voller Getöse ist.“
Das neue Stück, an dessen Konzeption Viktor Schenkel gerade arbeitet und das im Mai 2018 Premiere hat, soll nicht mehr die Vergangenheit der Geflüchteten zum Thema haben, sondern eine mögliche Zukunft, in der die jungen Menschen ein eigenes Land für sich finden, das sie nach ihren Bedürfnissen gestalten. Diesmal werden sie ohne Masken spielen: „Die gemeinsame Theaterarbeit ist für alle Beteiligten ein Prozess des Wachsens und der Entwicklung, und inzwischen ist es für die jungen Leute kein großes Problem mehr, ihr Gesicht zu zeigen.“
Die späte Chance erkennen – und dann nicht loslassen
Viktor Schenkel ist angekommen. Man sieht ihm an, wie stolz er auf seine Arbeit ist. Welches Glück es für ihn bedeutet, jetzt, mit 62, endlich sein eigener Herr zu sein, seine künstlerischen Ideen selbstbestimmt zu realisieren und mit dem menschlich Sinnvollen zu verknüpfen.
„Rückblickend“, sagt er, „haben all die Nebenwege in meinem Leben Sinn gemacht. Alles, was ich gelernt habe, kann ich jetzt anwenden. Meine Grafikkenntnisse helfen bei der Gestaltung und beim Bühnenbild, all die handwerklichen Arbeiten kann ich selbst machen. Das ist wichtig, so lange wir noch so klein und finanziell ungesichert sind.“
Denn Schenkel will sich mit dem, was er bisher erreicht hat, nicht zufrieden geben. Er hat noch große Pläne. Begeistert spricht er davon, dass er das „Theater Grenzenlos“ zu einer Art interkulturellem Theater erweitern möchte. Das Projekt seines Lebens soll keine Eintagsfliege sein.
Er hat seine späte Chance erkannt und ergriffen, jetzt lässt er sie nicht mehr los. Hätte er gedacht, dass ein Hausmeisterjob ihn auf seine alten Tage zur Erfüllung seiner Träume führen würde? „Nie und nimmer!“ sagt er und schüttelt den Kopf.
Nun muss er los. Wir haben die vereinbarte Zeit schon weit überschritten, die Schreibtische warten auf uns beide. Wir verabschieden uns in der Gewissheit, dass wir uns wiedersehen werden. Der Regen hat nicht wieder eingesetzt, es hat sogar aufgeklart. Wenn das kein gutes Zeichen ist …
Theater Grenzenlos, Regie: Viktor Schenkel, Assistenz: Sara Magdalena Schüller, Kamera/Schnitt: Marieluisa Lenglachner
Theater Grenzenlos, Regie: Viktor Schenkel, Assistenz: Monika Weissenberger
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Ulrike Ziegler schreibt
Die Premiere von „Neuland“ am letzten Samstag war ein echter Genuss! Der Meister war verständlicherweise nervös, doch, wie sich schnell herausstellte, zu Unrecht: die jungen Darsteller agierten hoch konzentriert, Pannen gab es keine, die Regie-Ideen waren sehr kreativ und begeisterten das Publikum. Am Ende gab es den verdienten großen Applaus, die Mitwirkenden auf und hinter der Bühne strahlten. Hut ab vor Viktor Schenkel und seinem Team! Ich wünsche Euch weiterhin so gut besuchte Vorstellungen wie am Premierenabend. Auf jeden Fall werde ich Euer Stück sehr weiterempfehlen. Es lohnt sich wirklich, hinzugehen!!