Es war während einer Woche in Wien, als meine Neugierde auf Wohnprojekte erwachte. Ich landete im Café »mittendrin«, das zum Wohnprojekt VinziRast ›› gehört. Bei VinziRast leben ehemals Obdachlose zusammen mit Studenten unter einem Dach.
Bei einer Reise nach Freiburg wiederum führte mich der Weg ins Vitra-Designmuseum ›› in Weil am Rhein. Dort lief gerade eine Ausstellung über Wohnprojekte in ganz Europa.
Das war spannend und ich merkte, dass ich selbst Lust bekam, bei einem Wohnprojekt einzuziehen. Denn eins hatten offenbar viele Wohnprojekte gemeinsam: Stets gab es gemeinsame Räume und ein gemeinsames Leben im Haus, daneben aber hatte jeder seinen eigenen privaten Bereich, seine eigene Wohnung, in die er sich zurückziehen konnte. Eine ideale Mischung, wie ich fand.
Drei Generationen unter einem Dach
Die Neugierde wuchs, und sie führte mich zum Stammtisch des Heidelberger Wohnprojekts Horizonte, der alle zwei Monate im Restaurant Löwenkeller in der Weststadt stattfindet. Dort saßen Claire Ford und Annette Feuerstein von Horizonte und lächelten mich an.
Schnell kamen wir ins Gespräch. »Wir leben mit drei Generationen unter einem Dach«, erläuterte Claire Ford, eine Französin, die seit 30 Jahren in Deutschland lebt. »Wir haben vier Familien mit insgesamt zwölf Kindern, ältere Leute, junge Paare – gerade das macht es so reizvoll für mich.«
Annette Feuerstein berichtete, dass das Horizonte-Haus momentan zwar komplett belegt sei, 28 Personen sind eingezogen. Ich könne mich aber in eine Warteliste eintragen.
Ich signalisierte großes Interesse und erzählte von mir. Und ich erfuhr die ersten Details über das, was Horizonte ausmacht, das, was den Bewohnern wichtig ist und was sie offenbar auch in die Tat umgesetzt haben. Denn vor etwa einem Jahr war der Traum Wirklichkeit geworden. Nach rund zehn Jahren Vorarbeit waren sie tatsächlich in ihr neu gebautes Horizonte-Haus eingezogen.
Dieses Schmuckstück mit fünf Etagen ist ein Neubau, der auf dem Gelände einer ehemaligen US-Kaserne errichtet wurde, dem Mark-Twain-Village ›› , mit 20 unterschiedlich großen Wohnungen, mit Laubengängen und dem Herzstück, einem 60 Quadratmeter großen Gemeinschaftsraum.
Eingezogen wurde ab Februar 2019, über den Zeitraum mehrerer Monate, während drum herum noch Bauarbeiter werkelten und hantierten. Und jeden einzelnen Einzug haben die Horizontler festlich zelebriert.
Es war ein langer Weg
Der Weg bis dahin war lang. Schon im Jahr 2009 hatte sich die Keimzelle von Horizonte gebildet. Aber erst die historische Chance, die sich mit dem Abzug der US-Armee 2014 auftat, brachte den Durchbruch.
Während die US-Soldaten die Heidelberger Quartiere verließen, liefen die Planungen für die Umnutzung der bisherigen Militärflächen an. Die Stadt Heidelberg gab grünes Licht für Horizonte wie auch für weitere alternative Projekte mit schillernden Namen wie »Woge« oder »Hagebutze« auf demselben Gelände.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Aktiven von Horizonte machten sich auf die Suche nach einem Immobilien-Partner und fanden ihn schließlich in der Baugenossenschaft Familienheim, die nun offiziell als Vermieter auftritt. Die Mitglieder des Wohnprojekts unterschrieben daraufhin ganz konventionelle individuelle Mietverträge mit Familienheim, schlossen sich jedoch parallel dazu – eher unkonventionell – zum Verein Horizonte e. V. zusammen, wählten einen Vorstand, gaben sich eine Satzung mit einer Beitragsordnung und eindeutigen Statuten, was zum Beispiel die Aufnahme neuer Bewohner betrifft.
»Im Jahr 2015 gingen mein Mann und ich zum Tag der offenen Tür bei den ehemaligen US-Kasernen«, erzählt Marita Kuxmann (36), die mit ihrem Mann Andreas und den drei Kindern Elisa, Johann und Marlon im Erdgeschoss wohnt. »Da gab es Info-Stände mehrerer Wohnprojekte, und schon im Herbst waren wir bei einem Horizonte-Treffen dabei.«
Kurz danach stieß Klaus Richter, heute 72 Jahre alt, ehemaliger IT-Fachmann bei einem Pharmakonzern, als einer der letzten, zusammen mit seiner Frau Waltraud, zur Gruppe. Sein Traum ist wahr geworden, wenn auch nicht mit seinen Schulfreunden, wenn auch nicht als reine Senioren-WG.
Fast droht das Projekt zu platzen
Doch kurz vor dem ersten Spatenstich drohte das Projekt zu platzen. Der Bauträger Familienheim erhöhte die Miete so stark, dass die jungen Familien sie sich nicht mehr leisten konnten. Gemeinsam fand man dann doch eine Lösung. Familienheim ist eng mit der Erzdiözese Freiburg verbunden und mit deren Fördermitteln konnte den jungen Familien geholfen werden. Das Projekt war gerettet.
»In dieser Krisensituation konnten wir uns alle sehr gut kennen lernen«, blickt Horizonte-Frau Anne Weigand zurück, die auch im Ruhestand weiterhin als Psychotherapeutin arbeitet. »Jetzt genieße ich es, hier mit Menschen zusammenzuleben, die ich schon mehrere Jahre kenne, von denen ich weiß, dass ich mich auf sie verlassen kann.«
Das Zusammenleben mit mehreren Generationen ist für die 69-Jährige eine große Bereicherung. Voller Tatendrang engagiert sie sich deshalb in der Arbeitsgruppe »Mittagstisch«. An jedem Wochentag bietet das Team ein warmes vegetarisches Mittagessen an, das in erster Linie für die Schulkinder gedacht ist, bei dem aber auch die Großen mitgenießen dürfen – und das zum Sonderpreis von 2,50 Euro pro Kind und 3,50 Euro pro Erwachsenem, Nachspeise inklusive.
Schauplatz der fröhlichen Speisung ist der geräumige Gemeinschaftsraum – das vitale Zentrum der Idee vom generationenübergreifenden Miteinander. Hier laufen die Fäden zusammen, hier trifft man sich zu vielerlei Aktivitäten: Eine Leinwand mit Beamer erfreut die »Tatort«-Fans, die hier sonntags dem Krimifieber huldigen. Ein Flügel, den eine Familie beigesteuert hat, begeistert die Musikfans, ein regelmäßiger Tango-Nachmittag lockt die Tänzer aufs Parkett. Aber auch auf der Terrasse hinter dem Haus und auf Stühlen in den Laubengängen wird Gemeinschaft gelebt, wenn man sich spontan zum Plaudern zusammensetzt, bei einem Glas Wein oder Wasser.
Was die Bewohner am meisten schätzen
Alle zwei bis drei Wochen treffen sich die Horizontler ganz offiziell zur Vollversammlung, nicht zuletzt um Alltägliches zu regeln. Generell gilt: Die Mitarbeit in Arbeitsgruppen wie in der Planungsgruppe, im Kulturausschuss, der Gartengruppe (»Gruppe Grün«) oder eben der Mittagstisch-Gruppe ist freiwillig, lediglich der Putzplan ist fest und verpflichtend. Für die nicht immer leichte Entscheidungsfindung hat der Verein ein abgestuftes Konsenssystem eingeführt. Horizonte hat extra eine Trainerin engagiert, die das Verfahren vorgestellt und mit allen eingeübt hat.
Das Haus steht, viele Modalitäten sind mittlerweile klar geregelt. Doch was schätzen die Bewohner am meisten? »Wer kann schon in ein Haus einziehen, in dem er bereits alle Bewohner kennt und ihm alle sympathisch sind?«, freut sich Klaus Richter. »Ich sehe jeden Tag vertraute Gesichter und ich habe keine Scheu, auch meine Ängste, Bedenken oder Einwände mit den anderen zu teilen.«
Der Wuppertaler hat schon als Student gerne in WGs gewohnt. »Ich konnte mir immer schon gut vorstellen, im Alter nicht als Ehepaar zu versauern«, sagt er mit einem Lächeln. »Mit Freunden zusammen haben wir immer wieder mal davon geschwärmt, irgendwann eine Alters-WG aufzumachen.« Für das Heidelberger Projekt und ihre jetzige Vier-Zimmer-Wohnung haben Klaus Richter und seine Frau auch ihr bisheriges Leben in zwei getrennten Wohnungen aufgegeben – aber auch diese Hürde haben sie mit Bravour genommen.
Das Durchhalten lohnt sich
»Ich finde die Hilfsbereitschaft hier im Haus einfach großartig«, sagt die Französin Claire Ford. »Ich muss nur eine Email schreiben, schon melden sich garantiert einige Bewohner, die mir helfen wollen, etwa einen schweren Schrank zu rücken – so etwas Wunderbares habe ich noch nie erlebt.«
Marita Kuxmann genießt es, vom Erfahrungsschatz und von der Gelassenheit der Älteren zu profitieren, besonders wenn sie sich gerade in ihrer Aufgabe als Mutter gestresst fühlt. »Unheimlich gut finde ich auch, dass ich mich voll und ganz auf die anderen verlassen kann«, fügt Kuxmann hinzu. »Ich spüre da ein unsichtbares Netz, das mich trägt.«
Ihre Familie und sie können dem Sozialleben mit den anderen im Erdgeschoss am wenigsten entgehen. »Johann, mein Mittlerer, fühlt sich von der geballten Gemeinsamkeit gelegentlich überfordert«, sagt Marita Kuxmann. »Er musste lernen, sich abzugrenzen – und ich ebenfalls.« Wenn es der jungen Familie zu bunt wird, zieht sie sich jetzt in den gepachteten Schrebergarten zurück, der ganz in der Nähe liegt.
Auch das Horizonte-Projekt wächst und gedeiht. Ja, und irgendwann steht auch wieder ein Stammtisch für neue Interessenten an. Wie hat es ein Horizonte-Mitglied einmal so treffend formuliert: Wohnprojekte sind nichts für Leute, die kurzfristig eine Unterkunft suchen. Geduld, Ausdauer und ein langer Atem sind gefragt.
Horizonte zeigt, dass sich das Durchhalten lohnt.
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