Die Luft am Tresen war heiß und stickig, der Lärm von Autos hinter der offenen Tür mischte sich mit Musikfetzen unter dunkel getönten Lampen.
Er sah um sich, betrachtete die Männer und Frauen, die miteinander sprachen und tranken, während sich manche auf der kleinen Tanzfläche der Bar bewegten. Alle schienen in Kontakt, nur er fühlte sich meilenweit entfernt.
Einsam
Ein plötzliches Gefühl von Einsamkeit überfiel ihn wie ein Sturzbach nach Regen. Er zahlte und verließ fluchtartig den Raum, schlug den Weg zum Flussufer ein und atmete tief die nun kühle Luft des Sommerabends. Je weiter er sich von der Stadt entfernte, umso heller sah er die Sterne, die über ihm in unglaublicher Zahl leuchteten.
Ohne viel nachzudenken, schlug er einen Trampelpfad ein und ließ sich aufatmend am Stamm einer Pappel nieder. Er sah den Wellen zu, die seine Sandalen umspielten, zog sie aus, fühlte das Nass zwischen den Zehen, ging einen Schritt hinein, bis das Wasser seine Jeans erreicht hatte. Er hielt inne und schloss die Augen, ein schmerzliches Sehnen nahm ihm die Luft.
Sie hatte ihn verlassen. Sie hatte gekämpft und verloren. Die Krankheit war stärker als sie gewesen und für einen Augenblick wünschte er, dass er es gewesen wäre, so unerträglich schien seither jeder Tag ohne sie. Was immer er tat, schien ohne Sinn. Er schlief unruhig und träumte wirres Zeug, rasierte sich nicht mehr, ging seinen Freunden aus dem Weg. Sein Atelier erschien ihm nackt und kahl, und wenn er etwas begann, legte er es nach Stunden wieder aus der Hand.
Das Wasser war so ruhig, so friedlich floss es dahin – ob es auch ihm Frieden bringen würde? Der Gedanke erschreckte ihn plötzlich und er wandte sich um, kletterte zurück zum Baum und lehnte seine heiße Wange an die Rinde.
Eingebung
Etwas dröhnte in seinem Kopf. Es war eine Spirale, die ihn öffnete, und er spürte, wie eine Figur aufstieg: lang die Beine, die in einen biegsamen Körper übergingen, in der linken Hand einen ehernen Schild unter jungen Brüsten, die rechte Seite an eine Lanze gelehnt, über dem quellenden Haar ragte ein Helm. Sie sah ihn an und sagte ein Wort: „Kämpfe!“
Er schlug verwirrt die Augen auf. Wo war er? War er eingeschlafen und hatte von ihr geträumt? Die Szene war wie ein dreidimensionales Bild in jede Zelle seines Gehirns eingraviert und er lief den Weg zurück, schnell, immer schneller.
Als er in seinem Atelier ankam, schaltete er alle Lampen an, suchte den Eimer mit dem nassen Ton und fing an zu formen, zu kneten, zu streichen, das Gesehene zu gestalten. Es war wie ein Rausch, er dachte nicht und spürte, wie seine Hände ihn führten, wie sie ihm jede Ecke, jede Rundung zeigten, als ob sie Augen hätten. Als der Morgen dämmerte, war er fertig mit seiner Skulptur.
Er schlief tief und traumlos auf der alten Couch. Am nächsten Tag begann er mit dem Gipsabdruck und brachte einige Tage später sein Werk zum Gießer.
Pallas Athene?
Ein Freund, der ihn besuchte, betrachtete die Frau lange, die aus einem eckigen, leicht mürrischen Kopf wuchs, und machte ihn auf einen Wettbewerb der Stadt aufmerksam, die für den Eingang des Ostparks eine Bronzeskulptur suchte. Ohne sich viel Gedanken zu machen, schickte er einige Fotos und hielt nach zwei Wochen überrascht einen Brief in Händen, in dem der Kunstreferent der Stadt ihm mitteilte, dass er den Wettbewerb gewonnen hatte.
Als bei der Aufstellung des Kunstwerks ein Galerist den Mythos von Pallas Athene erzählte, die Zeus aus seinem Kopf geboren hatte, da lächelte er. So war das wohl meistens, die Juroren und Kunstkritiker wussten angeblich genau, was im Künstler vorgegangen war. Sollten sie doch. Er wusste es besser, und er ließ sie in dem Glauben.
Diese Kopfgeburt hatte ihm das Leben gerettet. Mit ihr begann eine neue Phase seiner Arbeit als Bildhauer.
»Kopfgeburt« von Elfriede Hafner-Kroseberg (Regie: Iris Seyband / Aufnahme und Schnitt: Volker Gerth):
Wie es zu dieser professionellen Aufzeichnung kam, berichtet uns Iris Seyband in einem Beitrag › .
[…] die berührende Geschichte »Kopfgeburt« über Verlust und Einsamkeit, aber auch das Kämpfen und die Überwindung des Schmerzes durch das […]