Völlig benommen bleibe ich liegen, die Augen fest geschlossen, beide Hände an die Lider gepresst. In meinem Kopf dreht sich alles und mir ist so schlecht, dass ich mich zur Seite wälze. Mein Atem geht stoßweise und beruhigt sich nur langsam. Als ich mit der Zunge über die Lippen streiche spüre ich Sand zwischen den Zähnen, spucke ihn aus und öffne die Augen. Ich liege in einer Sandkuhle, eingebettet zwischen Grasbüscheln und verdorrten Halmen. Der Himmel ist von einem hellen Blau in dem weiße Wolken schwimmen. Sie sehen aus wie ein Gesicht mit Nase und Augenlöchern. Dann wird es heller und ich mach die Augen wieder zu als die Sonne hinter den Wolken auftaucht. Mit ihr fällt Watte in mich und eine Wärme umhüllt mich vom Kopf bis zu den Füßen. Und plötzlich fühle ich mich nach dem Schrecken so geborgen wie eines der Hühner von Oma, wenn sie in einer Sandkuhle ihre Federn schütteln und den Kopf darunter verstecken. Voller Staunen höre ich den Geräuschen zu die an mein Ohr dringen: dem Wehen aus der Birke über mir, dem Pfeifen der kleinen Spatzen auf einem Zweig, höre ganz nahe das Geschrei von Kindern, das aber seltsam fern ist. Alles fühlt sich neu an, vertraut und doch fremd und es ist mir als ob ich zum ersten Mal sehe und höre, als hätte sich ein Fenster auf getan, das zuvor geschlossen war. Ich spüre meine Finger die sich in den Sand bohren, eine Haarsträhne die in mein Gesicht fällt und schmecke etwas Salziges, das mir in den Mundwinkel rinnt. Ein Fuß schmerzt als ich ihn bewege, aber ich weine nicht. Ich fühle mich so leicht wie ein Vogel der auffliegen will und meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Alles ist so einfach, so vollkommen ruhig, dass mir die Augen langsam wieder zu fallen und eine weiße Feder mich davon trägt.
Ich erwache als jemand mich an der Schulter schüttelt, mir immer wieder über die Haare streicht und sagt : „Elvira, Elvle, Kindle wach auf, wach auf, alles isch guat“ und sehe in die Augen meiner Mutter. „Mama“ murmele ich , dann spüre ich, wie sie mich vorsichtig auf ihre Arme hebt und einen Buben vom Nachbarn, der plötzlich neben ihr steht, wütend an schreit: „ I han ui gsät, dass`r auf se aufpassa sollt ond net oifach da Sandberg na rolla, mei Gott was hätt alles passiera kenna.“
Ich bin zweieinhalb Jahre alt.
(aus: „Kindheit“, Kapitel 1)
Die Nachbarn
Es ist Herbst geworden. Von den Büschen im Garten und den Bäumen, die eben noch Äpfel getragen haben, fallen die Blätter oder hängen gelb und rostbraun an den Ästen. Es wird allmählich kälter, auch in dem einen großen Raum, der im ersten Stock von Großvaters Haus liegt und den er uns, meinen Eltern, mir und meinem Bruder, gegeben hat. Ich höre sie immer wieder vom Krieg sprechen, davon, dass mein Vater Glück gehabt hat heil und gesund zurück zu sein und dass es nicht überall so war, denn andere Männer seien nicht zurück gekommen. Als ich einmal nachfrage, was denn der Krieg sei und warum die anderen Papas nicht zurückgekommen sind, sagt meine Mutter, das könne ich noch nicht verstehen, aber Krieg sei etwas Schreckliches, da würden Menschen sich gegenseitig tot schießen, dann dreht sie sich um und ich sehe Tränen in ihren Augen glitzern. Das macht mich auch traurig und als ich Papa frage warum Mama weint erwidert er ernst, dass ihre drei Brüder auch totgeschossen wurden im Krieg und deshalb hätte ich nur zwei Tanten, aber keine Onkel.
Mein Vater, der auf die Häuser Dächer aus Holz baut mit anderen Männern die das auch können, kommt oft müde nach Hause und im Winter ist er nicht weg, weil es zu kalt ist und man keine Dächer bauen kann, wenn dichter Schnee liegt. Dann sitzen wir alle in der warmen und großen Stube und spielen, das Bett meines Bruders an der Hausmauer, das breite Bett meiner Eltern in der Mitte und meines neben der Türe. Dazwischen stehen Stühle um einen Tisch, der Ofen an der anderen Wand und die Holzkiste darunter. Ein Schrank mit Geschirr steht in einer Ecke und draußen im großen Flur mit breiten alten Dielen, steht ein alter Holzschrank, in den Mama Bettwäsche und unsere Kleider hinein legt. Von dort geht eine Tür weg, hinter der Frau Weinle mit ihrer alten Mutter und ihren beiden Töchtern in zwei Zimmern wohnt. Meine Mama sagt, sie sind vom Krieg vertrieben worden und in unser Haus gekommen, weil sie selbst keines mehr haben und alles zurück lassen mussten, dort in Schlesien, wo sie einmal gelebt haben.
Wir Kinder dürfen oft zu ihr und den Töchtern gehen, die schon in der Schule sind. Die alte Mutter liegt meist im Bett weil sie krank ist und Frau Weinle räumt auf und kocht und bäckt. Wenn wir zu ihnen gehen sind wir in einer anderen Welt. Das was sie essen schmeckt anders als das was Mama kocht. Es gibt eingelegtes Kürbis-Gemüse, Mohn-Strudel und Quark-Kipferl, saure Gurken in Gläsern, schlesische Knödel mit brauner Butter und geröstete Semmelbrösel darüber. Alles schmeckt so köstlich und anders und ihre Großzügigkeit, dass sie uns immer etwas aufhebt, tut so gut. Wenn sie sprechen klingt es wie eine andere Sprache, die ich trotzdem gut verstehen kann. Sie klingt melodisch und ist von soviel Gefühl durchdrungen, wie es bei uns und den Dorf-Leuten nicht ist. Wenn die Leute von ihnen sprechen, sagen sie „Die Flüchtlinge“ und davon gibt es noch viele in unserer Gemeinde.
Meine Mama, die oft krank ist, bittet mich eines Tages, doch zum Nachbarn zu gehen und für sie die Milch zu holen, ihre Füße tun ihr oft weh. Sie gibt mir zehn einzelne Mark um den ganzen Monat zu bezahlen. Während des Gehens ist mir langweilig und ich schleudere die Milchkanne durch die Luft. Die Bäuerin füllt die Milch hinein und als ich wieder daheim bin, fragt Mama wo das Restgeld sei. Da erschrecke ich und erzähle stammelnd, dass ich mit der Kanne gespielt und sie in die Luft geworfen hätte. Meine Mutter bricht in Tränen aus und schimpft ganz arg mit mir, weil Papa zur Zeit ja kein Geld verdient. Und das auch noch vor Weihnachten. Ich bin sehr geknickt und voller Angst in den nächsten Wochen.
Als dann Weihnachten ist, bekommt jeder ein Geschenk, aber ich nur ein ganz kleines, damit ich mich erinnern soll anders mit Geld umzugehen. Und das tu ich auch, ich bin immer ängstlich darauf bedacht es nicht zu verlieren und nicht zu viel davon zu brauchen. Ich erlebe noch lange den Verlust, der mir noch Wochen wie eine schwere Last auf dem Herzen liegt. Umso mehr freue ich mich, als Frau Weinle sagt, da sei ich nicht allein schuld, denn soviel Geld könne man einem kleinen Kind von dreieinhalb Jahren nicht in die Hand geben, da sollten die Erwachsenen wohl gescheiter sein. Sie schenkt mir zu Weihnachten ein paar Handschuhe aus Wolle, die sie selbst gestrickt hat. Da falle ich ihr vor Freude um den Hals und denke immer an sie, wenn ich sie anziehe.
(aus: „Kindheit“, Kapitel 3)
Die Pfannenflicker
Es ist Mai, alles blüht und sprießt: die Tulpen im Garten, die Heckenröschen und Himmelsschlüssel, die Blätter an Bäumen und Sträuchern. Und dann stehen sie plötzlich überraschend wie jedes Frühjahr vor der Tür: die Pfannenflicker aus Italien. Sie kennen Mama seit sie jung war und kommen seit wir hierher gezogen sind, jährlich einmal. Erstaunt sehe ich zu, wie sie zur Begrüßung einer nach dem andern, Mama auf die Wangen küssen, die sogar ein wenig rot wird, so ungewohnt wie das für sie ist. Dann gehen Kaitan, Roberto und Emanuele, so heißen die drei Brüder, durchs Dorf und sammeln Pfannen und Töpfe mit Löchern ein. Mit Lötblei und Feuerkolben werden sie dann repariert und wieder zu den Leuten zurück gebracht. Sie schlafen bei uns im Heustadel auf dicken Decken und Mama kocht für sie mit, wofür sie etwas bezahlen.
Am schönsten ist jedoch ihre Gesellschaft. Denn selbst wenn sie arbeiten, immer pfeifen oder singen sie, necken mich und meine Freundin und haben meistens gute Laune. An den Abenden die schon warm sind, sitzen wir unter dem Stadeldach an einem langen Tisch beim Essen. Danach holt Kaitan seine kleine Geige und stimmt ein Lied an, in das sie alle drei einfallen. Sie singen auf Italienisch, die Worte bella donna, amore, kommen immer wieder darin vor. Ihre Stimmen sind tief und harmonisch, ihre Augen blitzen voller Schalk und dazwischen nippen sie an einem Glas Rotwein, den sie mit gebracht haben. Mein Vater der im Kirchenchor ist, summt mit, denn auch er liebt Gesang. Das Lied „La montanara“, etwas aus den Bergen, gefällt mir am besten. Da schließe ich die Augen und manchmal ist mir dann, als sei ich ein vibrierender Ton in diesem Lied, dessen Sprache so weich und schmeichelnd ist, dass ich daneben Deutsch und Schwäbisch eher als ungelenk und spröde empfinde.
Es geschieht am zweiten Abend, als sie da sind. Ich renne zu den Nachbarn, wo ich meine Brüder schreien höre um sie zum Abendessen zu holen. Da höre ich, wie hinter der Holzbeige die Nachbarsjungen herüberschimpfen, meine Brüder hinüber. „Bleede Deeppn“ und „Dumme Moohackl“ fliegen hinüber und herüber und plötzlich fliegt ein Holzscheit dazu. Meine Brüder nicht faul werfen mit Holzscheiten zurück. Ich stehe etwas ratlos aber doch fasziniert von dem Theater da und bekomme plötzlich einen Schlag im Gesicht. Ich taumle zurück und halte meine Hand an die linke Augenbraue, irgendwie erstaunt was das wohl eben war. Dann spüre ich etwas Warmes an meinem Gesicht entlang rinnen und sehe verwundert, dass es rot ist. Dann wird mir plötzlich schwindlig und schlecht, ich setze mich auf den Boden und dann ist da plötzlich ein scharfer Schmerz in meinen Kopf. In dem Augenblick schreit mein Bruder erschrocken: „Die Elvira, die hams troffn, die Hundskrippl die elendigen“ und hebt ein Buchenholzscheit neben mir auf. Drüben auf der andern Seite wird es ganz still und beide Brüder nehmen mich in die Mitte und bringen mich heim.
Meiner Mutter die ihre letzte Kuh melkt, fällt fast der Kübel aus der Hand und sie schreit: „Jessas Maria, was isch dir denn passiert“ dann springt sie auf und kommt zu mir. Die Pfannenflicker umringen mich und palavern in Italienisch. Dann sagt Kaitan, während einer mir ein Tuch auf das Auge drückt, wir fahren sofort mit unserem Auto, meine Eltern haben ja keins, zum Arzt. Meine Mutter nickt hilflos und setzt sich zitternd hin. In der Arztpraxis, kurz vor Feierabend, näht mir der Arzt die Wunde, nachdem er sie ein wenig betäubt hat und meint, da hast du nochmal Glück gehabt, das hätte buchstäblich ins Auge gehen können. Das wird mir auf der Heimfahrt auch klar und ich schicke ein kurzes Dankgebet zum Himmel, auch dafür, dass die Pfannenflicker gerade bei uns zu Besuch und nicht nur gute Sänger, sondern auch noch Rettungsengel sind.
(aus: „Kindheit“, Kapitel 9)
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