Tag X minus 4: Heute, da ich diesen Text zu schreiben beginne, trennen mich noch vier Tage vom berühmt-berüchtigten ‚Ruhestand‘. Wie bei vielen Betroffenen löst dieser Begriff auch bei mir zwiespältige Gefühle aus.
Da ist zum einen die Aussicht darauf, bestimmte lästige Verpflichtungen, die jeder Beruf mit sich bringt, loszuwerden und mehr Zeit ‚für mich selbst‘ zu haben. Zum anderen gehöre ich zu den Glücklichen, die dieses ‚Selbst‘ immer ein Stück weit auch durch ihren Beruf verwirklichen konnten und daher einen Teil dessen, was ihnen wichtig ist, mit ihm auch verknüpft haben. „Beamtinnen auf Lebenszeit und Beamte auf Lebenszeit treten nach Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand.“ So steht es im § 25 des Beamtenstatusgesetzes.
Was geschieht aber mit den Projekten, um die eine/r sich jahre- oder jahrzehntelang gekümmert hat? Treten die dann auch wegen Erreichung ihrer Altersgrenze in den Ruhestand?
trait d’union – eine interkulturelle Plattform für Jugendliche
Ich bin (noch) Gymnasiallehrer und habe von den insgesamt vierzig Jahren plus einen Tag meiner ‚Amtszeit‘ vierzehn Jahre an deutschen Auslandsschulen gearbeitet, in Bilbao im spanischen Baskenland und davor in Toulouse im Südwesten Frankreichs.
Dort haben französische Kolleg*innen und ich 1999 die interkulturelle Jugendzeitung trait d’union gegründet. Der Name bedeutet Bindestrich und symbolisiert das Ziel dieses Projekts: Jugendlichen, vor allem Schülern – und ihren Lehrern –, aus verschiedenen Ländern und Kulturen eine journalistische und kreative Plattform des Austauschs und der Zusammenarbeit zu bieten.
Die Kooperation soll für alle Beteiligten attraktiv sein. Deshalb bringt diese multimediale Zeitung, die in unregelmäßigen Abständen erscheint, nur Themen, die im Schnittbereich der Interessen von Jugendlichen und ihrer Bildungseinrichtung liegen. Auch sollen sie so weit gefasst sein, dass ein fächer-, gattungs- und medienverbindendes sowie kulturelle Grenzen überschreitendes Herangehen möglich ist, z.B. „Unsere Zukunft“, „Jungen & Mädchen“ und „Courage“. Auf der Webseite ›› können von den teilnehmenden Teams Beiträge hochgeladen und mittels einer allen Beteiligten zugänglichen Kommentarfunktion öffentlich zur Diskussion gestellt werden.
Integrationskompetenz ist in der heutigen Zeit besonders wichtig
So wird ein Austausch von Informationen und Erfahrungen sowie individuell und kulturell unterschiedlicher Perspektiven angeregt. Dieser kulturüberschreitende Kommunikationsprozess und die ihn beeinflussenden Faktoren werden von allen Beteiligten thematisiert und diskutiert. Dadurch gelangen die Partner im Bewusstsein ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Konventionen einer offenen und konstruktiven Zusammenarbeit, die dann allen als Tutorials für interkulturelle Projektarbeit zur Verfügung stehen.
Jeder Teilnehmer erhält damit die Chance, seine interkulturelle Integrationskompetenz zu steigern: eine Fähigkeit, deren Wert gerade in einer Zeit wie heute, in der immer mehr das Trennende betont und erzeugt wird, auf der Hand liegt.
Im Laufe von nun fast zwanzig trait d’union-Jahren haben – unter anderem auch im Rahmen von vier europäischen Bildungsprojekten (Comenius und Leonardo da Vinci) – Schüler*innen und Lehrer*innen von 27 Schulen aus 14 Ländern und 5 Kontinenten von dieser Chance Gebrauch gemacht und Beiträge in bisher 30 Sprachen verfasst.
Der Workshop zum Thema „Flucht & Heimat“ wird geboren
Im Schuljahr 2015/16 kam ich, von Bilbao zurückgekehrt, ans Gisela-Gymnasium in München-Schwabing, wo ich den Schüler*innen von der 5. bis 12. Klasse die Mitarbeit an trait d’union anbot. Was aber würde daraus werden, wenn hier meine aktive Zeit, ohnehin nur dreieinhalb Jahre, vorbei wäre?
Im zweiten Halbjahr des Schuljahrs 2017/18 sprach ich meinen Kollegen Marc Withut an, den Leiter des k25 Schultheaters, das aus einem Mittelstufen- und einem Oberstufenensemble besteht. Ich schlug ihm eine journalistisch-theatralische Projektkooperation vor, an der auch unsere Partnerschulen, die Gurugram Public School aus Gurgaon in Indien und das Liceo Sesto Properzio aus dem italienischen Assisi teilnehmen würden.
Marc war gleich Feuer und Flamme. Und so begannen wir, einen internationalen Workshop vorzubereiten, der im Oktober 2018 am Gisela-Gymnasium stattfinden sollte.
Dann mussten unsere Partner, jeweils aus internen Gründen, plötzlich ihre Teilnahme absagen. Das war natürlich eine herbe Enttäuschung. Dennoch setzten wir die Planungen für den Workshop fort, dessen Thema „Flucht & Heimat“ ja an sich schon so viele interkulturelle Aspekte enthielt, dass uns seine Durchführung auch ohne unsere Partnerschulen immer noch sinnvoll erschien.
Die Idee hinter dem Projekt
Dem Projekt liegt folgende Idee zugrunde: Wir leben heute in einer Welt voller aufregender, aber auch krisenhafter Entwicklungen. Theater und Journalismus sind Versuche, die Welt zu begreifen und zu interpretieren. Sowohl Schauspieler als auch Journalisten müssen sich in andere (reale oder erfundene) Menschen hineinversetzen und die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Schließlich senden das Theater und die Medien über ihre Arbeit auch Botschaften an die Öffentlichkeit.
Gründe genug für das Oberstufenensemble des k25 Theaters und die Jugendzeitung trait d’union, während des Schuljahrs 2018/19 beim Thema Flucht & Heimat zusammenzuarbeiten. Dabei sollten sich unsere Schauspieler auch journalistisch mit dem Thema auseinandersetzen, und die Redakteure von trait d’union sollten sich mit der Frage befassen, wie man es auf der Bühne darstellen könnte. Mit ihren Artikeln sollten sie dafür Material liefern, die Theaterarbeit dokumentieren und kommentieren.
Die Profis von der Schauburg unterstützen die Schultheater-Schauspieler
Eines der wichtigsten Ziele des Projekts ist also die Entwicklung eines Theaterstücks zum Thema Flucht & Heimat, das Anfang April 2019 am Gisela-Gymnasium aufgeführt werden soll. Auch die Schauburg, das Kinder- und Jugendtheater der Stadt München, nimmt an unserem Projekt teil. Im Mai 2019 wird dort Mike Kennys Stück „Der Junge mit dem Koffer“ gemeinsam mit Schauspielern des Ranga Shankara Theaters Bangalore, Indien, nach 2017 erneut auf die Bühne gebracht. Der Austausch zwischen den k25-Schauspieler*innen und den Profis von der Schauburg, der von den Journalist*innen von trait d’union begleitet wird, ist inzwischen im Gange.
eigenleben.jetzt – Autorinnen geben ihr Wissen an die Schüler*innen weiter
Ohne ein stabiles Fundament wäre ein solches Projekt freilich nicht zum Laufen gekommen. Für unseren Kickoff-Workshop im Oktober brauchten Marc und ich ein paar erfahrene und einfühlsame Medienleute, die den Schüler*innen einige journalistische Grundlagen beibringen sollten, in kurzer Zeit, aber trotzdem anschaulich und unkompliziert anwendbar.
Hmh! Woher nehmen, wenn nicht entführen? Da fiel mir die Marli-Bossert-Stiftung und ihr Online-Magazin eigenleben.jetzt ein. Eine Grundidee dieses gemeinnützigen Vereins ist ja, die jungen Leute von gestern und die Jugendlichen von heute miteinander zu verbinden und Gelegenheiten zu nutzen, bei denen jene ihre Erfahrungen und ihr Wissen an diese weitergeben können. Im April letzten Jahres bin ich eher zufällig auf diesen Verein gestoßen, und seither mache ich aus voller Überzeugung dort mit.
In der Tat war es nicht schwierig, aus den Reihen der „Eigenlebenden“ drei höchstqualifizierte Damen zum Mitmachen zu bewegen. Es waren dies Angela Roethe, Autorin und Gründungsredaktionsmitglied von „Psychologie Heute“, Dr. Cornelia von Schelling, Journalistin, Autorin und Mitherausgeberin der 2015 erschienenen Anthologie „Die Hoffnung im Gepäck – Begegnungen mit Geflüchteten“ und, last not least, Ulrike Ziegler, Autorin, Fernsehjournalistin und Filmemacherin.
Großes Engagement und Interesse auf beiden Seiten
Am Montag, dem 22. Oktober, versammelten sich jeweils zwölf Schüler*innen von trait d’union und vom k25 Theater im Mehrzweckraum des Gisela-Gymnasiums. Nach einer Einführungsphase, in der Grundinformationen gegeben sowie Erwartungen und Vorstellungen zum Workshop-Thema „Flucht und Heimat“ gesammelt worden waren, traten die Journalistinnen in Aktion: Ulrike erklärte einem Teil der Teilnehmer die Gattungsmerkmale der Reportage, insbesondere der Filmreportage, und stellte sich dann den Fragen der interessierten Schüler, die sie mit ihrem reichen Erfahrungsschatz anschaulich beantwortete.
Gleichzeitig führten Angela und Cornelia ihre Zuhörer*innen in die Kunst des Interviews ein: Nach der Theorie führten sie ein fiktives Interview, in dem eine scheinbar alles wissende Passantin der Reporterin ihre Aufgabe nicht ganz einfach machte. Anschließend bildeten auch die Schüler*innen solche Interviewpaare und übten, was sie zuvor gelernt hatten.
Am Montagnachmittag wendeten die jungen Reporter*innen die erworbenen Kompetenzen bei Interviews mit Fußgängern auf dem Elisabethplatz an; Thema: „Was bedeutet für Sie ‚Heimat‘?“
Die Schüler*innen setzen das Gelernte mit der Unterstützung verschiedener Organisationen um
Der Dienstag war der Tag der Experten. In Kleingruppen wurden zunächst die Fragen vorbereitet, die den eingeladenen Fachleuten gestellt werden sollten. Dann trudelten die Gäste ein, die Marc und ich eingeladen hatten:
Viktor Schenkel, Schauspieler und Initiator des seit 2015 bestehenden theaters grenzenlos ›› , eines integrativen Theaterprojekts für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge und einheimische Jugendliche, ließ sich zusammen mit Ensemble-Mitglied Abdul Hakim interviewen.
Auf ihn war ich durch Ulrike Zieglers Reportage „Das Glück der späten Chance“› aufmerksam geworden, in dem sie ihn und sein Theaterprojekt sehr spannend porträtiert. Fundstelle? Natürlich eigenleben.jetzt.
Von der Schauburg ›› kamen die Intendantin Andrea Gronemeyer, die von der Arbeit an Mike Kennys Flucht-Stück „Der Junge mit dem Koffer“ berichtete, und Sabine Lehmann, die Leiterin des Teams Schule&Kita.
Bei Condrobs ››, einer Einrichtung, die unter anderem ein Wohnprojekt für unbegleitete Flüchtlinge unterhält, arbeiten die Betreuerin Anna Kaiser und die Teamleiterin Toni Riordan. Sie und Bewohner Achmed stellten sich den Fragen der Schüler*innen.
Die Diplompsychologin Gisela Framhein arbeitete viele Jahre als Psychotherapeutin bei Refugio München ››, einer Therapieeinrichtung für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer.
Samy Liranzo besucht die 12. Klasse des Gisela-Gymnasiums. Er hatte den Mut, sich allein einer Gruppe Neonazis entgegenzustellen, die ihn brutal zusammenschlugen.
Bei dem Gespräch, das den Interviewteil abschloss, dankten Hakim und Achmed, beide Flüchtlinge aus Afghanistan, unseren Schüler*innen für ihre interessierten und einfühlsamen Fragen; andere Interviewpartner lobten deren hohes Niveau. Das muss auch an den Coachinnen gelegen haben!
Hier ein paar Stimmen der Teilnehmer*innen am eigenleben.jetzt-Coaching:
„Die drei Damen traten sehr positiv und freundlich auf. Ich fand es toll, dass sie uns an ihren Erfahrungen teilhaben ließen. Sie waren sehr geduldig und haben uns die Sachen mehrfach erklärt, uns verbessert und uns viele Beispiele gegeben.“
„Ich denke, ohne die drei Damen hätte ich nicht annähernd so viele Fragen gefunden. Sie haben uns auf eine so liebevolle Art alle wichtigen Dinge erklärt. Selbst wenn etwas noch nicht perfekt war, haben sie uns nicht negativ kritisiert, sondern einfach Tipps gegeben.“
„Mir hat gefallen, dass wir vor allem sehr viel praktisch gearbeitet haben, so konnten wir das Gelernte gleich ausprobieren. Sie sind auf alle unsere Fragen einzeln eingegangen und haben sie ausführlich beantwortet. Dank dem ausführlichen Vortrag und den praktischen Übungen fühlte ich mich sehr gut vorbereitet und sicher, als wir unsere Interviews auf dem Elisabethmarkt und mit den externen Partnern führten.“
Die am Nachmittag erstellten (Teil-)Ergebnisse wurden am Mittwochmorgen im Plenum vorgestellt. Und am Nachmittag gab Viktor Schenkel allen Workshop-Teilnehmern noch ein dreistündiges Theater-Coaching.
Fortschritte und Ergebnisse des Workshops werden journalistisch begleitet
Inzwischen sind über den Workshop und einige der Interviews vier sehenswerte Videos entstanden. Filmisch dokumentiert wird auch die Erarbeitung des Theaterstücks zum Thema „Flucht und Heimat“. Alle Videos sind in der gleichnamigen Playlist Nr. 9 bei trait d’union TV ›› zu sehen. Texte ›› dazu gibt es auf der Webseite von trait d’union.
Auch die Süddeutsche Zeitung würdigte das Kooperationsprojekt von trait d’union und k25 Theater: Jakob Wetzel, Starkes Stück, SZ online 23.1.2019 ››
Meine liebe Kollegin Eva Straub-Kölcze, eine der Inklusionsbetreuer*innen am Gisela-Gymnasium, übernimmt ab dem zweiten Schulhalbjahr 2018/19 die Schulkoordination von trait d’union; ich bleibe weiterhin Leiter des Gesamtprojekts. Dessen Zukunft sehe ich in der starken internationalen Vernetzung, aber auch in der Zusammenarbeit mit vielen Initiativen und Einrichtungen unserer bunten Stadt München. Für Interessierte:
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Tag X plus 8: Jetzt, da ich diese letzten Sätze schreibe, bin ich bereits eine Woche in Pension. Aber trait d’union geht weiter, ganz maßgeblich auch auf Grund der tatkräftigen und begeisternden Unterstützung durch Macherinnen von eigenleben.jetzt und der Marli Bossert Stiftung, die dieses Online-Magazin trägt. Dafür danke ich euch von Herzen.
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