Das Hospiz ist ein schöner Ort. Sofort ruft etwas in mir danach, diesen ersten Satz zu relativieren. Wie kann ein Ort des Sterbens nur als schön tituliert werden? Ich verstehe die Frage, ich stellte sie mir und doch denke ich sofort an Margarete, die wohl antworten würde: »Man kann sich nur vorstellen, was man selbst erlebt hat. Für alles andere müsste man sich öffnen und das fällt vielen unheimlich schwer.« Genauso erging es mir auch. Es fiel mir schwer, ich öffnete mich und durfte dann feststellen, was ich nicht für möglich hielt: Das Hospiz ist ein schöner Ort.
Ich habe einen Termin mit Ferdinand. Zehn Minuten vor unserer Verabredung betrete ich das Hospiz, die Sonne scheint, sie wärmt das Gebäude, zwei Katzen scharwenzeln die Gänge entlang und toben lautlos, wie nur Katzen dies können. Ein paar Schritte vorbei an dem großen Glasbehälter, in dem ein Stein von jedem lagert, der hier verstorben ist, stehe ich vor Ferdinands Tür. Und als ich gerade klopfen und zu deren Griff fassen will, öffnet sich die Tür von innen und eine Dame mittleren Alters wirkt ganz überrascht.
»Huch!«, sagt sie.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«, sage ich, »Ich möchte zu Ferdinand.«
»Oh, ich fürchte, Sie kommen zu spät.«
»Nein, nein, wir waren um neun Uhr verabredet, ich bin ganz sicher, es ist kurz vor neun.«
»Das kann gut sein, und doch: Es ist zu spät – mein Ferdinand ist heute Nacht gegangen.«
Ein Satz, der so viel mehr verriet, als ich in diesem Augenblick begreifen kann. Meine Beine nehmen zwei Schritte Abstand, in der stillen Hoffnung, die Situation besser verstehen zu können.
»Es tut mir leid, das wusste ich nicht«, stammle ich verloren.
»Das muss es nicht«, entgegnet sie mir. »Es ist gut, wie es ist.«
»Weil er sehr gelitten hat?«
»Nein, ganz im Gegenteil, weil er nun etwas weiß, das er gern erfahren wollte und das wir noch nicht wissen.«
Nur, weil er nicht mehr hier ist, ist er ja nicht fort
Ehe sich die Flut von Gedanken, die sich gerade in mir zu einer Welle zusammenfügt, breitmachen kann, stellt sich diese Frau mir als Margarete vor und lädt mich auf die Terrasse zu einem Kaffee ein.
»Gestern Abend saß ich mit meinem Mann zusammen hier. Wir lachten leise. Mehr mit den Augen als mit allem anderen. Und dann sagte er etwas, das so typisch ist für ihn, so wunderbar, wahr und warm. Er sagte: »Ich weiß gar nicht, wen von uns beiden ich mehr beglückwünschen sollte.«
Sie lächelt, die Sonne hinter ihr lächelt mit und lässt die kleine Träne, die ihre Wange hinunterrollt und ihren Lidstrich etwas weicher formt, glitzern.
»Das ist ein ganz wunderbarer letzter Gedanke, den Ihr Mann mit Ihnen geteilt hat, da steckt eine ganze Menge drin.«
»Ja, das stimmt. Auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass es nicht der letzte Gedanke war, den mein Ferdinand mit mir geteilt hat. Nur, weil er nicht mehr hier ist, ist er ja nicht fort.«
»Was glauben Sie, wo er nun ist?«
»Halten Sie mich bitte nicht für verrückt, ich weiß sehr wohl, dass sein Körper heute Morgen hier abgeholt und ins Krematorium gebracht wurde. Seien Sie sich jedoch gewiss, dass Ferdinand sehr viel mehr war, als seine körperliche Hülle. Für mich in jedem Fall. Er ist mein Seelenverwandter und ich spüre keinerlei Veränderung, seit sein Herz aufhörte zu schlagen. Unsere Verbindung ist ungebrochen.«
Themen wie diese sind schwierig für mich. Und zwar am Ende aus einem einzigen Grund: Sie sind mir unbekannt. Gewissermaßen fremd. Neu. Und offensichtlich allein dadurch suspekt.
»Es ist schade, dass ich Ihren Ferdinand nicht persönlich kennenlernen konnte. Ich wollte heute mit ihm über sein Leben sprechen, über das, was er von ihm gelernt hat.«
»Ja, das ist schade; er hätte Ihnen sicher einige schöne Sachen erzählen können. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen etwas über sein Leben berichten.«
Außen glänzte alles, doch im Innern war eine große Leere
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, würde mich aber sehr freuen. Haben Sie es denn mit ihm verbracht?«
»Nein, nein, das habe ich nicht. Ferdinand und ich mussten uns erst finden. Es war keine Sandkastenliebe oder Ähnliches. Und doch war es eine sehr besondere Verbindung.«
»Was bedeutet es, wenn Sie sagen, wir mussten uns erst finden?«
»Das bedeutet, er musste sich erst finden und ich mich, ehe wir uns finden konnten.«
»Und dann?«
»Als ich Ferdinand begegnete, war ich 42 Jahre alt, war zwei Mal verheiratet und verbrachte sehr viel Zeit mit mir. Zeit, die ich gebraucht habe, um nach all dem Erlebten zu mir zu finden. Ihm ging es ganz ähnlich, auch wenn sein Leben bis dato ganz anders aussah. Er war sehr wohlhabend, ein erfolgreicher Tischler mit eigenem Unternehmen. Wir kamen zusammen, hatten gemeinsam alles, was wir uns irgendwann einmal erträumten und merkten dann, dass dies auch eine Last sein kann.«
»Inwiefern eine Last?«
»Auch wenn im Außen alles glänzte, so spürten wir im Innern eine große Leere. Diese Leere versuchten wir zu füllen mit wunderbaren Reisen, in geschmackvollen Restaurants und einem Traumhaus wie aus einem Katalog. Doch dann durften wir erfahren, dass diese Leere im Innern nicht durch Mittel im Außen gefüllt werden konnte. So sehr wir uns bemühten, so fleißig wir waren, es half nichts. In uns blieben wir leer.«
»Das überrascht mich.«
»Ja, das überraschte uns auch. Noch überraschender war jedoch die Erfahrung, all das loszulassen.«
»Sie haben also all die Dinge, für die Sie Jahre, vielleicht Jahrzehnte lang gearbeitet haben, verkauft?«
Die Erfahrung der Befreiung
»Nein, nicht ganz. Auf einer Bali-Reise trafen wir einen ganz besonderen Menschen. Er war wie wir und doch ganz anders. Dieser Mensch war uns auf den allerersten Blick unglaublich ähnlich – er kam auch aus Europa, war unser Jahrgang, hatte seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und wurde mit ihr und durch sie erfolgreich. Doch er strahlte auf den zweiten Blick etwas aus, das uns vorher nicht begegnet war, etwas, das uns fehlte – eine tiefe, innere Ruhe und Zufriedenheit. Er war im Gleichgewicht mit sich und der Welt. Wir waren fasziniert und inspiriert und entschieden uns dann, seinen Weg zu unserem zu machen.«
»Und das bedeutete?«
»Dann kamen wir zurück und taten eine ganze Menge Dinge, die sich völlig verrückt anfühlten. Wir stifteten unser Haus, verschenkten unser Hab und Gut und durften die Erfahrung der Befreiung machen.«
»Ich möchte nicht respektlos sein, aber das klingt total verrückt!«
»Ja, es ist ver-rückt«, sagte Margarete und pausierte zwischen der ersten und der zweiten Silbe. »Verstehen Sie?«
»Ich weiß es nicht, wenn ich so ehrlich sein darf, ich weiß es wirklich nicht.«
»Dürfen Sie, es ging uns ganz genauso. Es ist schwer zu erklären, noch schwerer zu verstehen, aber schnell erlebbar. Und doch, es war der erste und damit vielleicht wichtigste Schritt in ein Leben, in dem die Leere in uns gefüllt wurde.«
»Es hat alles zum Guten verändert?«
»Es hat alles verändert. Ob nur zum Guten oder nicht, ist eine Bewertung, die ich nicht vornehme. Es hat uns aber diese Leere genommen und uns allein dadurch dem Glück immer wieder ganz nah gebracht.«
»Sah Ihr Ferdinand das auch so?«
»Wir waren einander Begleiter. Ohne Besitzansprüche, ohne Konventionen. An Ferdinands Seite habe ich lernen dürfen, dass das Loslassen und die eigene Unabhängigkeit keine Gefahren für die Liebe darstellen, wie ich bis dahin fester Überzeugung war. Umso unabhängiger ich werden durfte, umso mehr liebte ich ihn und umso weniger brauchte ich anderes, Materielles, Konsum oder Ablenkung. Und verstehen Sie mich nicht falsch, wir zwei waren und sind keine Hippies, diese sogenannte freie Liebe war gar nichts für uns.«
Ferdinand hat es verstanden, das Leben
Wir schwiegen eine ganze Weile, in der ich Margarete in ihrem eleganten, wenn auch blumigen Kleid betrachtete und mir eingestehen musste, dass ich ihrer Hülle eine solche Fülle nicht zugetraut hätte. Ich war sprachlos. Als meine Worte zurückkehrten, fragte ich sie:
»Haben Sie eine Idee davon, was Ihr Ferdinand mir antworten würde, wenn ich ihn hätte fragen können, was er vom Leben lernen durfte?«
Sie lächelte: »Nein, da wäre alles und nichts denkbar, das er Ihnen hätte sagen können. Aber ich kann Ihnen noch eine klitzekleine Geschichte erzählen, die mir zeigt, dass er es wohl verstanden hat, dieses Leben.«
»Unbedingt.«
»Vor etwa eineinhalb Monaten, als längst klar war, dass er bald herausfinden würde, was nach dem Tod kommt, da kam er eines Abends aus seinem Zimmer und gab mir einen großen Briefumschlag. Darin war ein von ihm selbst verfasstes Dossier, ein Flugticket und eine schwarze Filmdose.«
Margarete schmunzelte, pausierte, schmunzelte, ließ eine weitere Träne unberührt über ihre Wange laufen und sagte dann: »In der Filmdose war ein Samen eines Apfelbaumes aus dem Garten seiner längst verstorbenen Eltern. In dem Dossier stand alles, was er wusste und in Erfahrung bringen konnte über die Polarlichter, mögliche Touren und Unterkünfte sowie – natürlich – eine Restaurantempfehlung. Es endete mit der Bitte, ihn zu entschuldigen, da er diese Reise entgegen seiner tollkühnen Behauptung nicht gemeinsam mit mir antreten könne; er sei bedauerlicherweise verhindert. Wenn allerdings die Möglichkeit bestünde, wäre er dankbar, ich würde diese Reise für uns angehen und wenn dabei ein Augenblick sich anböte, einen der besten Apfelbäume überhaupt für ihn in Schweden zu pflanzen, wäre er sehr glücklich.«
Das Hospiz ist ein schöner Ort. Sofort ruft etwas in mir danach, diesen ersten Satz zu relativieren. Wie kann ein Ort des Sterbens nur als schön tituliert werden?
Ich verstehe die Frage, ich stellte sie mir selbst und doch denke ich sofort an Margarete, die wohl antworten würde: »Man kann sich nur vorstellen, was man selbst erlebt hat. Für alles andere müsste man sich öffnen und das fällt vielen unheimlich schwer.«
Genauso erging es mir auch. Es fiel mir schwer, ich öffnete mich und durfte dann feststellen, was ich nicht für möglich hielt: Das Hospiz ist ein schöner Ort.
Autorenkommentar:
»Dieses Buch hat mich verändert. Es hat mich über ein Jahr beschäftigt und wird es weiter tun. In den letzten zwölf Monaten habe ich Sterbende getroffen und mit ihnen über das Leben gesprochen, über das was sie von ihrem gelernt haben.
Was sich im ersten Moment schwer, beinahe unerträglich anhören mag, war in Wirklichkeit etwas Befreiendes, denn die vielfältigen Begegnungen wirkten Augen und Herzen öffnend, sie haben mich – mitten durch die Angst und den Schmerz – zu mir geführt und mich dem Leben nähergebracht.
‚Was ich noch zu sagen hätte…‘ erzählt von zwölf dieser Begegnungen mit mutigen Menschen, die mir am Ende ihres Lebens einen Einblick geschenkt haben, in das, was sie beschäftigt und bewegt, in das, was sie von ihren Leben lernen durften.«
Tim Wache, Autor
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