Wer hat die schönsten Schäfchen
Die hat der goldne Mond,
Der hinter unsern Bäumen
Am Himmel droben wohnt.
Das Mondgesicht
Der Mond als guter Hirte? Ein Gestirn am Nachthimmel. Rund und voll, ein Kindermond mit gutmütigem Gesicht? Oder ein Lampion, ein Mond, gefaltet aus Papier?
Nachtblau und mondgelb, mit eben diesem Lachgesicht schwebt der Mond aus Papier, befestigt an einem dünnen Holzstab, durch die halb geöffnete Tür ins dunkle Kinderzimmer. Dort liegen zwei kleine Mädchen in ihren Betten und warten auf den Mond.
Manchmal kommt er abends, von einer Kerze in seinem Innern geheimnisvoll erleuchtet, am Holzstab gehalten vom Vater.
Ein, zwei, drei Mal schwebt er am Türspalt hin und her und verschwindet dann still. Die Kinder nehmen ihn in ihre Träume mit.
Der Planet
Die Mädchen werden größer und dürfen in klaren Nächten aufbleiben bis der Mond aufgeht.
Zuerst erscheint er als eine orangerote Scheibe hinter dem Wald, dann sich hellgelb färbend, wirft er sein Licht über die Burg wie ein warmes gelbes Gewand.
Durch das Fernglas wird er betrachtet, Gebirge und Ebenen sind auf ihm zu erkennen.
Mare Tranquilitatis, der Vater erklärt die geheimnisvoll klingenden Namen der Landschaften dort oben. Guter Hirte oder Planet am Nachthimmel?
Abendstern, großer Wagen, kleiner Bär, Venus, Milchstraße – der nächtliche Himmel ist ein Mysterium.
Zur Mondlandung bringt das Fernsehen den Mond direkt ins Wohnzimmer, aber er ist kein Kindermond mehr.
Zu sehen ist eine Landefähre, ein Astronaut, der ein paar Stufen hinabsteigt und dann mit riesigen, klobigen Schuhen als erster Mensch den Mond betritt. Ein großer Schritt für die Menschheit …
Verändert sich dadurch der Blick zum guten Mond?
Der Begleiter
Die Mädchen wachsen zu jungen Frauen heran, schön wie der volle Mond.
Sie sitzen am Ufer des Meeres, der Vollmond zeichnet eine silberne Straße aus Licht auf die leicht bewegte Wasseroberfläche, der Nachtwind greift den Mädchen ins Haar, sie lachen leise.
Später eine Reise in die Wüste.
Sand, bunte Felsen, Stille, Hitze.
Die Wüste ist weiblich, eine sinnliche Frau mit sanften Rundungen.
Der volle Mond, eine große reife Aprikose, himbeerrot, brombeerrot, rosarot geht er am Rande der Wüste auf.
Ein guter Hirte.
Weiter im Leben.
Zwei Sommer lang lebt eine der beiden Frauen hoch oben in den Bergen. Ganz nah unter dem Himmel, mit dreißig Kühen.
Der Käsekessel, so rund und glänzend wie der Mond. Randvoll mit weißer Milch.
Mondgelbe runde Käselaibe reifen im Felsenkeller.
Die Berge rundum werden vom vollen Mond in ein Silberlicht getaucht.
Am Gras hängen glänzende Tauperlen, die Kühe atmen leise und kauen.
Die Königin der Nacht legt ihr silbernes Festgewand um Mensch und Tier, die Erde dreht sich im Sphärenklang.
Der gute Hirte
Nun trägt die Frau Silberfäden im Haar. Der gute runde Mond steigt hinter den Kiefern am Himmel empor wie ein großer Lampionmond, zitronengelb, nachtblau, Frösche quaken, Hunde bellen, in der Ferne rauscht der Atlantik.
Weiße Wölkchen ziehen mit ihm durch die Nacht.
Er ist ein guter Hirte.
Dann weidet er die Schäfchen
auf seiner blauen Flur,
denn all die weißen Sterne
sind seine Schäfchen nur.
Abendlied zu Beginn und am Ende von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1830
Was sagen Sie dazu?