Im „Fernblick“ wird Leichtigkeit gegenüber dem Unabänderlichen geübt
Schwungvoll quert sie den Weg zur „Kapelle“, unserem morgendlichen Meditationsort, entledigt sich mit unüberhörbarem Klettverschluss-Ratschen ihrer Sandalen, versieht Moritz, den Kater, geschwind noch mit ein paar Koseworten und lässt sich beherzt nieder auf dem ihrer Körperfülle gemäß etwas erhöhten runden Kissen.
Wir sitzen schon. Ganz wach sollen wir nun da sein, sagt Hildegard an. Ja sagen zu dem, was der neue Tag uns bringt. Jetzt. Dazu erden wir uns, bringen unsere Körper in „diese gute Spannung“ und richten uns aus zwischen Himmel und Erde. Atemzug um Atemzug sollen wir ruhiger werden. Bilder, Gedanken, Gefühle loslassen. Vorbeiziehen lassen wie die Wolken am Gipfel des Säntis gegenüber, die zu beobachten wir seit unserer Ankunft im „Fernblick“ mehr als genug Gelegenheit hatten.
Krankheit als Chance und Anruf
Trotz August nämlich sorgt das Wetter dafür, dass kein Zweifel aufkommt: diese Reise geht nach innen und nicht zu den gastlichen Hütten des Alpstein!
Aber zum Urlaubmachen ist ohnehin keine(r) von uns an diesen Ort gekommen, unweit von Sankt Gallen, nur ein paar Stationen mit der Appenzeller Bahn bergauf, dann „Halt auf Verlangen“ und noch ein kurzer steiler Anstieg. Durch irgendetwas im Fernblick-Programm für diese Oasenzeit – so heißt unser Kurs – hatte sich offenbar jede(r) angesprochen gefühlt: Übergang. Krise. Krankheit als Chance und Anruf. Darum in etwa soll es gehen.
Mich hatten die letzten Monate unmissverständlich die Störanfälligkeit scheinbar ungetrübter Gesundheit spüren lassen. Aus heiterem Himmel (oder hatte die Heiterkeit schon länger die eine oder andere Trübung und ich habe sie nicht beachtet?): Schwindel, Hörsturz, Heulen, Hadern, Trauern. Die Hilflosigkeit meiner Kollegen, die Fruchtlosigkeit ihrer Behandlungsversuche. Endlich mein Entschluss, die Botschaft zu hören (wennschon mittlerweile nur noch mit einem Ohr) und Freundschaft zu schließen mit dem offenbar Unabänderlichen.
„Nur ein gebrochenes Herz ist ein ganzes Herz“
„Nur ein gebrochenes Herz ist ein ganzes Herz“ steht schließlich in einem der Bücher von Anna Gamma ››, Geschäftsführerin des Lassalle-Institutes und Gründerin des befreundeten „Fernblick“. Die Bücher von Anna Gamma stehen im Foyer des Hauses. Daneben andere, von Meister Eckhard und Thich Nhat Tanh, zur christlichen Mystik und zum ZEN und zu dem, was beiden, und nicht nur ihnen, sondern auch anderen Wegen gemeinsam ist. Dieses „gewisse Etwas“, das im „ Fernblick“ trägt und das die Fernblick-Leute hinaustragen. Mit ihren Peacecamps und anderen mutigen Aktionen, in Krisengebiete wie den Kosovo. Als „Beitrag für Frieden und Versöhnung in uns und in der Welt“, wie AnnaMaria, eine langjährige kraftvolle Fernblick-Mitstreiterin es vor jedem gemeinsamen Essen ansagt und uns zu einigen Momenten des Schweigens einlädt.
Die dargebotenen Gerichte sind himmlisch! Jeden Tag genau zur selben Zeit zuverlässig himmlisch! Krokante Pinien-Hirse-Rübli-Bällchen an feiner Zitronenthymian-Yoghurt-Sauce zum Beispiel. Wir sind angehalten, unserem Körper Gutes zu tun.
Neben den Meditationen, den WIR-Runden und den Gesprächen mit Hildegard oder einer der beiden anderen Hüterinnen des Hauses, bilden sie die Eckpfeiler und die Lichtpunkte unserer Tage.
Hier lernen wir die Zeit als etwas Kostbares kennen
Daneben bleibt viel Zeit, die wir hier kennenlernen werden als etwas Kostbares, das, wenn Hildegard von ihr spricht wie von reifen Brombeeren, wahrhaft den Hauch von köstlichem JETZT im Ewigen ahnen lässt.
Zeit für ausgedehnte Spaziergänge durch das sanfthügelige Weide- und Obstland des Appenzell, in dem heute nicht mehr Menschen leben als vor 150 Jahren. Wohltuend geordnet und rundum geeignet zum Nachsinnen über das Nicht-Geordnete in mir, das irgendwo mittreibt im Fluss des Lebens und immer wieder quertreibt, vor allem an Biegungen und wenn Unerwartetes kreuzt. Die Frische genießen, die nachklingt aus Hildegards Impulsen an den Vormittagen.
Tag um Tag werden die Objekte, die ich mit der Kamera meines neu erstandenen iPhones festhalte, weniger spektakulär: wo grasen heute die Geißen? Wie reif ist der Holunder? Ist die Fahne vom Leimensteig oben oder unten?
Könnte das gemeint sein mit Komplexitätsreduktion oder dem Gott der kleinen Dinge? Zeigt das Fernblick-Programm bereits erste Spuren einer Bewegung in eine neue Himmelsrichtung?
Bei jedem hat „es“ einen anderen Namen
Letztlich sind wir alle aus ähnlichen Beweggründen hier. Da hat etwas angeklopft, erst leise, dann immer lauter. Soll das wirklich alles gewesen sein? Und wenn, kann es dann nicht wenigstens so bleiben wie es ist? Und nicht auch noch Risse bekommen, die weh tun, und unschöne Narben? Was meint Tiziano Terzani mit „Das Ende ist mein Anfang“? Und Christoph Schlingensief mit „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!“?
Bei jeder und jedem zeigt „es“ sich anders und hat einen anderen Namen: Burnout, Erschöpfung, Lebenskrise. Aber etwas ist bei allen ähnlich. Das hat mit Verletzung und Heilung, mit Verantwortung und Vertrauen, mit Unterwegssein und Heimkommen und mit dem Vielen im Einen zu tun. Wahrscheinlich meint Hildegard das mit der „guten Spannung“ und der Ausrichtung zwischen Himmel und Erde.
Genau da holt uns der Fernblick ab und macht uns ein Angebot. Das ist weder Therapie noch Körper-Seele-Geist-Wellness, und keinesfalls ein Ansinnen von Bekehrung. Das ist Anregung zum Mitmachen, zur Lebensfreude, zur Grenzüberschreitung, zum Mutigsein. Wenn mir trotzdem beim Abschied das Wort „Gottvertrauen“ in den Sinn kommt, schiebe ich es wegen dem Beigeschmack von früher schnell von mir weg. Vorüberziehen soll es wie eine Wolke. Nichts soll diese wunderbare Reise trüben. Da, auf einmal, zeigt sich der Gipfel des Säntis. Wolkenlos und klar wie der Fujisana in seltenen, unvergesslichen Augenblicken. Jetzt.
Was sagen Sie dazu?