Es war irgendwann im Jahr 2070…
Die alte Frau sah aus wie vertrocknetes Hutzelbrot, aber ihre Stimme war klar und ihre Augen leuchteten. »Wissen Sie, auf einmal ging alles ganz schnell und plötzlich. Die Weltgemeinschaft hatte lange genug das Pariser Abkommen verschludert. Dann kam die große Pandemie ins Spiel und man setzte Dinge durch, die zuvor undenkbar gewesen wären.
Aber zum Schluss wurde die Hoffnung vieler Klimaakteure, Linker, Leute, die sich insgesamt eine bessere Welt wünschten und dafür eintraten, wieder von den Großkonzernen und Oligarchen zunichte gemacht. Die Industrieländer mit den USA waren sich sicher, dass sie sich aus dem Schlamassel schon irgendwie rauskatapultieren würden. So wie halt immer. Und der Rest der Welt – was ging es sie an?«
Eine nachhaltige Revolution
»Quasi über Nacht schlossen sich die panafrikanischen Staaten, Indien, China und andere asiatische Länder zu einer Art Weltregierung zusammen. Tatsächlich hatten schon länger heimliche Treffen und ein reger Austausch im Untergrund stattgefunden.
Überraschung: diesmal lief der Hase anders. Sie hatten es alle so unendlich satt, dieses Spiel, und spielten einfach ein neues.
Es ging ganz schnell, sie waren bestens vorbereitet. In einer Nacht- und Nebelaktion wurden die alten Despoten und Oligarchen auf die Straße gesetzt, das Militär zu sehr guten Konditionen für den ökologischen Umbau der Welt eingekauft, die TV- und Radiostationen besetzt, die Finanzzentren enteignet, die Rüstungsetats – stellen Sie sich vor, zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich um 2.000 Milliarden Dollar – eingefroren.
Das war aber erst der Anfang. Dieses Heer von jungen Leuten, die ihr Leben lang unter Diktatoren und unfähigen Politikern gelitten hatten, hatten an alles gedacht. Mit einem Federstrich löschten sie sämtliche Verträge und Abkommen, die für Knechtschaft, Ausbeutung und Plünderung ihrer Länder abgeschlossen worden waren.
Und sie verfügten, dass ab sofort kein Öl und keine Ressourcen, egal für was, an die alten Herrscher-Länder mehr geliefert werden. Jedes Land war nur noch selber für seine Bodenschätze, seine natürlichen Reichtümer an Pflanzen oder Sonstiges zuständig. Auch für die Herstellung und Aufbereitung. Und auch dafür, ob sie die Produkte verkaufen wollen oder nicht. Vorbei mit den Knebelabkommen wie Fruit Companie und 10.000 ähnlichen, kriminellen Regelungen.«
Eine neue Welt
»Sie glauben gar nicht, welche Woge der Begeisterung und der Freude einmal um den Erdball zog. Klar, nicht bei allen. Die, die früher besonders die Dritte Welt als Selbstbedienungsladen gesehen hatten, waren versteinert und entsetzt.
Wer bei dem riesengroßen Umbau in der Menschheitsgeschichte dabei war mit ganzem Herzen, die/der bekam auch jeden Schutz und volle Rechte auf gute Versorgung und demokratische Regeln und Anteil an allem Vermögen kultureller, materieller und geistiger Art.
Was lange Zeit ein Traum war: alles, was die Erde bot und was es an Gütern gab, es wurde von oben nach unten komplett umverteilt. Niemand bekam mehr, als man zum Leben brauchte. Aber genau dafür reichte es großzügig. Auf einmal hatten alle Menschen auf dieser Welt alles, was sie brauchten, um ein gutes, zufriedenes Leben zu führen. Was nötig war, war da.
Ein kostenloses, wunderbares Gesundheitssystem, wirklich kinderfreundliche Schulen, Bildung, solange es jemand wünschte, ein Grundeinkommen für jeden Menschen, egal ob im Sudan oder in Shanghai. Die Freiheit hinzugehen, wohin man wollte. Das Recht auszusprechen, was einem wichtig war.
Geflüchtete waren kein Thema mehr, man konnte sich niederlassen, wo man wollte, in Absprache mit den jeweiligen Ortsbewohnerinnen. Die Welt, sie gehörte auf einmal wirklich allen! Oder besser gesagt, sie stand allen zur Verfügung, und der Riesenkomplex Landwirtschaft und Tiere veränderte sich quasi über Nacht. Naja, fast.
Es wurde einfach alles mit einem Handschlag umgebaut. Die Labore soweit, dass sie günstig ihr Zellfleisch aus 3D-Druckern anbieten konnten. Das wurde in jeden Teil der Erde geliefert. Die Tiere wurden befreit, sie bekamen, ähnlich wie die Menschen, Mittel, um den Geburtenüberschuss zu regeln. Und sie bekamen ihr Leben zurück, in kleinen Gruppen draußen, je nach ihren Bedürfnissen. Niemand war wichtiger als andere, alle gleich wert, aber genau darauf kam es an. Auf die Wertschätzung des kleinen Hasen wie die des Repräsentanten der Weltregierung oder ihren ältesten Mitbürger*innen.
Was für ein Spaß, als die ganzen fetten Vermögen, Berge von Reichtümern, die gigantischen Summen an Privatbesitz, als das von heut auf morgen in den großen Topf für alle verrührt wurde.«
Eine friedliche Weltordnung
»Sie fragen mich, ob das nicht undemokratisch oder auch despotisch gewesen war? Ja, sicher, nur was wäre die Alternative? Die gleichen Zustände wie damals.«
Die Hutzelfrau strahlte, während sie in ihren Erinnerungen kramte.
»Sie glauben gar nicht, welch ein Aufschrei der Freude, der Begeisterung und Erlösung einmal um den Erdball tobte! Die Initialzündung kam aus der Mitte Afrikas und riss alle Jungen mit, die auch nicht den kleinsten Lichtblick am Firmament sahen.
Und dann, man muss es sich vorstellen, dann war der Lichtblick plötzlich da, ein Blitzlichtgewitter, das die alten Herrscher/Politiker/Wirtschaftsbosse, Henker/Richter/Aufseher und Kerkermeister mit einem Paukenschlag abservierte und hinweg schleuderte.
Das möchte ich Ihnen übrigens auch weiter geben – es wurde niemand physisch oder psychisch gequält oder gar umgebracht. Das hatten wir uns zur Devise gemacht: keine Gewalt, keine Brutalität und keine Vernichtung! Die vorherige Herrscher-Kaste wurde nur entmachtet, bekam alles, was sie zum Leben brauchte. Niemand hatte mehr Rechte, ein höheres Ansehen, nichts. Die ganz besonders fürchterlichen Despoten und Menschenrechtsverbrecher kamen zumindest für einige Jahre unter Betreuung oder Aufsicht und mussten ihre Verbrechen an den Menschen abarbeiten, indem sie es an anderen Menschen wieder gut machen mussten. Soweit man solche Greuel überhaupt gut machen kann? Vermutlich nicht, nur wollten wir diese schrecklichen Prinzipien von Gewalt und Gegengewalt auf jeden Fall durchbrechen.
Was in der neuen Weltordnung bezüglich Klima, Menschen- und Tierrechte, Gerechtigkeit, Humanität, Freiheit und Solidarität festgelegt worden war, galt verbindlich. An diesen Regeln kam niemand vorbei.«
Sie atmete tief und warf die Arme in die Luft. Glücklich, beseelt.
Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen. Die Fortsetzung folgt in Teil 2 ›.
Lust auf mehr Gesellschaftskritik? Unsere Autorin setzt sich immer wieder mit den gesellschaftlichen und politischen Folgen unserer Lebensweise auseinander. Mehr dazu gibt es auch in ihrem Corona-Tagebuch ›.
Christa Ritter schreibt
Hallo Dodo, hab deine Corona-Utopie gern gelesen! Herzlichen Dank. Mein Szenario sieht ein wenig anders aus. Keine Initialzündung aus Afrika, sondern durch das Internet. Alle merken plötzlich, dass sich wie durch ein Wunder ihr Glauben an Geld, Gier und Konkurrenz aufgelöst hat. Wir sind freundlich miteinander, sharen unsere globalen Gefühle von Gemeinschaft und wundern uns. Waren wir blind? Irgendwie schon. Alles hatte mit „Make Love not War“ angefangen, quite a long time ago. Und nun sind wir zurück auf Sendung.