Was für eine unwirkliche Stadt!
Panoramen folgen Panoramen.
Vorne prunkvoll. Und dahinter?
Ich sitze im Park mit dem Reiseführer auf den Knien.
Festungen, wohin du schaust. Rechts die Eremitage und der Winterpalast, links die Admiralität, daneben die gigantische Goldkuppel der Isaak-Kathedrale und vor mir, der Schicksalsfluss, die Newa. Am anderen Ufer glänzt die goldene Nadel der Kirche in der Hasenburg, die Peter-und-Paul-Kathedrale.
Adern mit launischem Wasser
durchfluten die Kanäle,
und es wohnt Angst unter den Füßen
und ordentlich Respekt
in den Herzen.
Eine prunkvolle Stadt
Im Reiseführer steht, dass bislang der Mensch den Naturgewalten entgegentreten konnte. Die Stadt wurde von den verheerenden Hochwassern bislang nicht bezwungen. Die Gebäude haben die Stürme überlebt, ruhen auf trotzfesten Fundamenten und bei starken Unwettern stemmen gigantische Atlanten die Dächer.
Hinterlegt
verbleiben Glanz und Reichtum.
Zarengold an Türmen, Kuppeln, Wänden
fließt in feine Spitzen
und in die Nischen um die Fenster.
Selbst der Himmel wird vom Widerglanz der prachtvollen Fassaden tagtäglich aufs Neue an den Ruhm erinnert.
Und die Engel aus den barocken Wolken?
Was meinen die dazu?
Nichts!
Denn solche Engel gibt es nicht. Die Wolken sind nur mächtig aufgepludert, in Wirklichkeit aber jenseitslos.
Doch, wer kann das wissen?
Das Gedicht vom Bauern Jewgeni
Nicht weit von mir entfernt steht er, der ‚eherne Reiter‘, das stolze Denkmal mit Peter dem I. auf seinem sich aufbäumenden und voran stürmenden Pferd, errichtet von Katharina der II.
In Puschkins gleichnamigen und berühmtem Gedicht verfolgt der Reiter den armen Bauern, Jewgeni, weil dieser ihn aus Zorn verhöhnte und gerufen hatte:
»He, Städtebauer, du Wundertäter, wart nur ab!«. Der Reiter springt mitsamt dem Pferd vom Sockel, verfolgt den Mann und jagt ihn durch die Gassen. Man sieht, wie er verzweifelt flieht, so schnell er nur kann. Zur Strafe treibt der Reiter ihn für dessen Drohung am Ende in den Wahnsinn und dem Mann bleibt nur noch die dienende Demut, die ihn heimsucht. Vor dem großen Herrn geht er in die Knie. Die Mütze neben ihm im Staub. Der arme Wurm, er hat verloren.«
Puschkin beschreibt wie kein anderer Dichter den seelischen Zustand Russlands in stürmischen Zeiten.
Kurz darauf passiert Eigenartiges. Ein ärmlich gekleideter Mann setzt sich auf die Bank mir gegenüber. Er hat eine Tuba unter dem Arm, auf der er fünf Töne bläst, die sich fast wie das Horn im zweiten Satz aus Tschaikowskys 5. anhören.
Vorne prunkvoll. Und dahinter?
»Ich träume, ich wäre reich«, spricht der Mann. »Ich würde schöne Kleider tragen und am Hof ein und ausgehen, wie es mir beliebt.«
»Sie sprechen Deutsch«, sage ich.
»Ja, ich bin hier gestrandet, wie einst auch Katharina und jetzt lässt man mich nicht mehr weg von hier. Wie gefällt dir die Stadt? Mir nicht. Glanz und Elend gehen Hand in Hand. Man glotzt auf das Grandiose, die bittere Armut lebt im Verborgenen.« Er spricht wie ein Schauspieler und klatscht mit den Händen auf sein Jackett, als wolle er es abstauben.
Der Mann ist ein Intellektueller, denke ich.
Dann nähert sich ein Zweiter, noch etwas verwahrloster. Er krakeelt schon aus der Ferne. Ich kann ihn nicht verstehen, aber was er körpersprachlich sagt, lässt sich leicht entziffern. Sein Redeschwall geht in meine Richtung: »Hör nicht auf den, er ist der größte Lügner von St. Petersburg«. Und dann zu seinem Kumpel: »Ja, du bist ein Lügner, zum Teufel mit dir. Und spielen kannst du auch nicht. Immer nur fünf Töne. Wieso schleppst du eigentlich dieses Ding ständig mit dir herum, wenn du kein Künstler bist? Kommst du jetzt mit oder nicht?«
Maler, Musiker oder Dichter?
Der Mann mit dem Horn bleibt sitzen und gibt ihm zu verstehen, dass er gefälligst verschwinden soll. »Du bist genau so dumm, wie du stinkst. Hau ab!«, sagt er laut zu ihm, worauf der von ihm ablässt und geht.
»Was hat er gesagt?«, frage ich.
»Er sagt, ich sei ein beschissener Künstler, der weder Musik machen kann, noch malen oder schreiben, geschweige denn dichten.«
»Malen oder schreiben Sie denn?«, frage ich vorsichtig.
Dazu äußert er sich nicht, sondern geht an einen kleinen Andenkenstand in der Nähe, an dem jemand kleine Zinnfiguren verkauft, nimmt eine kleine Statue der Katharina und prüft sie vor seinen Augen von allen Seiten, auch von unten. Da reißt ihm der Verkäufer das Figürchen aus der Hand und brüllt ihm laut ins Gesicht.
»Was ist los?«, rufe ich.
»Der Idiot hat etwas dagegen, wenn ich der Katharina unter den Rock schaue. Er ist zu streng gläubig!«, lacht er und setzt sich wieder.
Die leibhaftige Katharina
Unmittelbar danach schreitet ein bestimmt zwei Meter großer, schlanker Mann im eleganten Kostüm mit napoleonischem Hut lächelnd vorüber und winkt wie ein Fürst seinen Untertanen. Er ist mir schon an vielen touristischen Plätzen begegnet. Ich habe es bislang immer geschafft, ihm und seiner schönen Begleitung, die jetzt auch wieder einige Meter hinter ihm schwebt, zu entkommen. Es ist Katharina höchstpersönlich in einem weit ausladenden jadefarbenen Kleid. Die zwei gehören zu einer Truppe, die ihr Geld damit verdient, sich mit den Touristen in historischen Gewändern fotografieren zu lassen. Jetzt eilen sie in die Richtung eines größeren Trupps von Asiaten. Und als sie weg sind, sagt mein Gegenüber: »Wie ich strampeln sie sich ganz schön ab. Mit einem Unterschied: ihr Geschäft geht besser als meins.« Ich hebe fragend die Schultern, während er auf meine Tüte deutet.
»Au Pont Rouge. Ich kenne dieses Kaufhaus. Was wurde gekauft?«
Ganz schön neugierig, denke ich, aber dann zeige ich ihm die Matrjoschka. Schließlich bin ich ganz stolz auf das Stück.
»Ein schönes Exemplar«, meint er, „Könnte von mir sein. Weißt du, eine Zeit lang habe ich auch solche Puppen bemalt und verkauft. Ich habe diese Kunst von meinem Großvater gelernt. Gott hab ihn selig.«
Da bin ich schon sehr überrascht und frage: „Und dann?«
»Berufsverbot.«
»Wie das denn?«
»Auflehnung gegen die Autorität.«
Wie dieser Jewgeni, denke ich.
»Ich weiß, was du denkst«, sagt er. »Nur habe ich mich entschlossen, nicht so blöd zu sein und wahnsinnig zu werden. Wenn ich einen Schub in diese Richtung verspüre, blase ich einfach in die Tuba. Soll ich dir was vorspielen?«
Der Geschichte entsprungen?
Ich winke ab, und er schaut wieder zum Stand mit den Zinnfiguren, dieses Mal aber so traurig, dass er mir plötzlich leid tut und ich spontan zu den Andenken gehe und ihm die Katharina für zwei Euro kaufe.
Er ist überglücklich, steckt die Figur sofort in die Tasche seines heruntergekommenen Jacketts, über das ein vergilbter Schal baumelt, und meint: »Ich heiße Jewgeni. Und du?«
Da bin ich umso mehr überrascht.
»Na ja in gewisser Weise bin ich ein Nachkomme von Puschkins Held in dessen Gedicht vom Reiter, der dort …« und dabei schaut er nach beiden Seiten und flüstert »… so grässlich großtuerisch vor sich hin protzt. Aber, wie gesagt, ich lasse mich nicht in die Demut zwingen. Verstehst du?« Und dann kniet er kurz nieder und macht auf jämmerlich: »Verzeiht ihr hohen Herren, so habe ich das nicht gemeint.«
Jetzt will ich doch mehr wissen und frage, ob er mir erzählen würde, was passiert sei. Er hingegen fragt mich, warum ich hier sei. Die Antwort ist einfach, ich wollte schon immer mal St. Petersburg sehen, antworte ich, außerdem hätte ich russische Vorfahren.
»Na so was«, sagt er. »Ich jedenfalls bin nicht als Tourist hier.«
Der Wert einer Geschichte
Dem will ich gar nicht weiter nachgehen, was er gleich merkt und mich darum fragt, was mir denn seine Geschichte wert sein würde.
Ich lache. »Wert? Kommt auf die Geschichte an«, sage ich.
»Wo wohnst du?«, fragt er.
Ich nenne ihm das Hotel. »Also gut. Nicht unter 300 Rubel.«
»Warum diese Summe?«
»Das Hotel hat einen Pool, eine Sauna und ein Fitnesscenter.«
Woher er das wisse, frage ich.
»Ich bin in der Stadt viel herumgekommen.«
Dabei erhebt er sich und setzt er sich direkt neben mich. Zu meiner Überraschung riecht er ganz angenehm. Nicht so wie man aus seiner Kleidung hätte schließen können.
Er bemerkt meine Gedanken und meint: »Manche Kaufhäuser haben nette Türsteher, die einen erlauben, die Herrenparfüms zu testen.«
»Okay«, sage ich.
Nach einer Weile legt er los und es passiert, dass ich mit jedem Wort mehr und mehr in seiner Geschichte zu versinken beginne. Die Sprache ist ganz eigen und erinnert mich wieder an Puschkin. Der Mann ist kein Penner, er ist ein Magier oder zumindest so etwas in der Richtung.
Und schon bei den ersten Worten seiner Erzählung hüllt mich seine suggestive Stimme in eine Art Trance, die mich bislang nur beim Hören von Musik in eine andere Welt entführen konnte.
Wie alles begann
Weißt du,
die Suche nach der Liebe
ist der des Glückes Schicksal
artverwandt.
Das musste auch Jewgeni, der ärmliche Karele, mit Haut und Haar erleben, in seiner Geschichte:
Die Welt war öd und leer
nur Nebelschwaden
haben sie umhüllt.
So kam es, dass in diesen Zeiten
Jewgeni arg umhergetrieben wurde.
Über das Moor, das Meer und durch die Straßen von
St. Petersburg ist er gerannt, das Glück zu finden.
Sein Glück.
»Wo bin ich? Und wo bist du?«, hat er gerufen.
Doch als Antwort kamen immer nur die Worte:
»Weißt du es nicht? Oh doch, du weißt es.
Kälte’ bin ich. Ich kann Knochen brechen.«
»Nicht meine, nein nicht meine!«, rief er.
Getrieben von einer fernen Liebe
Und in einer besonders stürmischen Nacht, da ist ihm aus trotziger Erregung heraus sein Handwerkszeug, ein altes Vergrößerungsglas, auf den Stein gefallen und unbrauchbar geworden.
Ganz schlimm war das für ihn, nicht mehr arbeiten zu können, nicht mehr die Kunst der Familie fortzuführen und nicht mehr seine Puppe vollenden zu können, die Puppe seiner fernen Liebe, mit ihrem Gesicht außen und seinem innen, die Puppe mit Katharinas Antlitz außen und dem seinem innen und dem winzigen Gedicht, das er für sie verfassen will, auf seinen Lippen.
»So geht das nicht, Knochenmann. Nicht mit mir!«, sprach Jewgeni mutigen Herzens der Flut entgegen und sein Gemüt machte sich gen Süden auf den Weg. Auf seinen Weg.
Zur Stadt hinüber, um das nachzukaufen, was zerbrochen war, unentbehrlich für seine Arbeit: ein Vergrößerungsglas.
Und er findet einen Laden in der Stadt, in dem es solches gibt, mit kleinen Macken zwar und in abgenutztem Zustand, jedoch besonders günstig.
Er kauft das Glas und da geschieht es, wie es kommen sollte, da sieht er Katharina leibhaftig in ihrer Kutsche.
Sie rattert vorbei, als ein Winterblitz am Horizont entlang den Wolkensaum erhellt und ihr Gesicht erleuchtet, und es passiert, dass ihr Blick sein junges Herz trifft wie ein zweiter Blitz, der sich in seiner Brust entlädt.
Ein gefährlicher Plan
Und, mit einem Mal, ist alles klar: Heut Nacht, da muss er zu ihr, muss sein Gedicht vollenden, sein Gedicht, das er zu schreiben lange schon begonnen hatte.
Nur ein Wort fehlt noch in seinem Satz.
Ein Wort, das alles übertreffen soll.
Das Wort, das weiß er, kann er nur dichten, wenn er genau an jenem Orte sich befinden würde, an dem allein sich aller Sinn entfalten kann, wenngleich auch nur für einen Augenblick.
So muss er also zur Zarin selbst in die geheimen Räume.
Schon gleich in dieser dunklen Nacht will er sich in den Prunksaal schleichen, sich wie ein Aal dem Schlafgemach der Zarin nähern und einen Blick auf seidiges Geflocktes werfen und auf ihre Hände, ihre Schultern und die Augen. Und dann wird er es finden, dieses Wort, das Wort für seinen Satz und er wird es in winziger Schrift auf den dünnen Rand schreiben, in schönsten Lettern, die er von Klein an zu zeichnen gelernt hatte, mit höchster Inbrunst, als handle es sich um ein heiliges Wort.
Er zittert und Schweiß tritt auf die Stirn, belegt seinen Körper und rinnt am Rücken hinab.
Was er braucht, hat er dabei und prüft es noch einmal: Die kleine Matrjoschka, die dünne Schreibfeder, etwas Tinte und auch das Glas für die Vergrößerung.
Die Kunst, ganz klein zu schreiben, hat er von seinem Vater einst gelernt und der wiederum von dessen. Es ist die Kunst, Texte so klein zu schreiben, dass sie auf Haare passen.
Nun, dem geneigten Hörer sei gesagt: Die Puppe von Katherina mit sämtlichen, in ihr verschachtelten Geliebten ist der eigentliche Ausgang der Idee. Nur anders wie in dieser Historie soll jetzt nur Jewgeni selbst sich ganz vorn befinden.
Ein besonderer Sinn für alles Schöne
Und daher spricht er leise auch zu sich: »Wenn Katherina ihre Puppe öffnet, wird sie mich entdecken und die Miniatur auf meinen Lippen lesen können, weil die große Fürstin von Natur aus neugierig ist, was das Poetische betrifft und weil sie einen besonderen Sinn für alles Schöne hat.«
Nur bis zu diesem Vorhaben ist es noch ein ziemliches Stück des Weges zurückzulegen, über den runden Platz hinweg zu dem Palast und an den Wachen vorbei, direkt zum Raum der Räume, zu Katharinas Raum.
Er kennt den Weg wie seine Westentasche, er kennt das Labyrinth dort drin aus seinen Träumen und er wird den Ort erreichen und dann endlich auch das ersehnte Wort finden und es mit dem Glas und der Feder auf die erste Puppe schreiben, auf ihre Seele, die von ihm auch angefertigt und bemalt worden ist.
»Ich will der beste und der größte sein unter den Liebhabern«, spricht er. »Und wenn du dich öffnest, wird das schönste Wort der Welt in dein Herz fließen.«
Ja, so wird es sein. So muss es sein.
Doch da ruft jemand laut mit sehr brutaler Stimme: »Wer ist da? Er melde sich mit der Parole!«
Und von dem Moment an kommt alles anders.
Ein Schuss zum jähen Ende verschlägt ihm die Sprache.
Aus der Traum.
Gefunden wird Jewgeni mit seiner Matrjoschka fest umklammert in der Hand im Blute liegend.
Die Puppe aber bringt man zur Zarin. Sie sieht ihr Abbild und Jewgeni mit dem Wort auf seinen blassen Lippen, und es ist überliefert, dass mit dem Schrecken auch Entzücken über ihre Wangen strich.
Welch spätes Glück! Armer Jewgeni.
Eine teure Geschichte
Da höre auch ich plötzlich einen lauten Knall, der mich aus dem Palast zurückholt und gewaltsam wieder auf die Bank im Park hievt.
Auf der Newa hat eine Parade begonnen. Ein Kriegsschiff fährt an einem gerade auftauchenden schwarz glänzenden U-Boot vorbei, das wie ein riesiger Wal aussieht. Matrosen in Weiß stehen oben salutierend in einer Reihe.
Ich schau um mich. Doch Jewgeni ist verschwunden.
Als ich noch ganz benommen aufstehe, bemerke ich, dass auch meine Geldbörse weg ist, zum Glück nur mit Bargeld.
2000 Rubel für eine tolle Geschichte.
Meinhard Hanke schreibt
Ja, Christian Callo hat eine besondere Art und Begabung, einen Reisebericht so zu verfassen, dass man als Leser fast unmerklich in diese fremde Welt eintaucht. Wirklich sehr schön!