Auf dem Weg zum Zeitungskiosk ging er fast immer auf der rechten Straßenseite entlang, die von dichten Büschen gesäumt war. Nach einiger Zeit passierte er eine Stelle, an der keine Büsche standen, sondern eine längere freie Strecke. Seit einigen Tagen hatte hier ein Zirkus seine Zelte aufgeschlagen, mit dem fremd klingenden Namen ‚Zirkus Serrano’.
Wiederaufkommende Erinnerungen
Ein zeltartiger Rundbau mit Planen und einem runden Dach, ähnlich einer nomadischen Jurte. Er blieb stehen und lugte durch einen breiteren Spalt in der Zeltbahn, aus der ein durchdringender Geruch von Stall, Tieren und Dung drang. Dicht an dicht standen dort Kamele, mit Höckern und quastenartigen Schwänzen. Der Geruch war derart penetrant und durchdringend, dass er sich für einige Zeit die Nase zuhielt. Die Tiere mahlten mit ihren Mäulern und Zähnen und schauten irgendwohin in eine nicht vorhandene Ferne.
Er erinnerte sich an seine Kindheit und wie ihn damals der Zirkus, der in ihrem Dorf gastierte, ungeheuer faszinierte und er dem Besuch mit seiner Mutter und der Schwester entgegen fieberte. Er spürte plötzlich eine starke Erregung,
So wie damals, als er den Tieren und den Clowns zusah, wie sie ihre Runden drehten und die Clowns sich mit Kübeln voll Wasser überschütteten und die Menschen johlten und kreischten vor Lachen. Sollte er dieses frühe Kinderlebnis nicht doch wieder erwecken, das Gefühl wieder erleben, das ihn damals durchbebte, als die junge Reiterin auf dem Rücken des Pferdes an ihm vorbei galoppierte? Warum eigentlich nicht, er als jetzt 70-Jähriger, warum eigentlich nicht?
Wie bei der ersten Liebe
Dieser Mittwoch war doch gut geeignet, er hatte Zeit zur Nachmittagsvorstellung hinzugehen. Seine Frau war bei einer Freundin zum Kaffee eingeladen, sie würde also erst später nach Hause kommen. Irgendwie freute er sich, hatte jedoch ein Problem, seinen starren Rhythmus von Gewohnheiten so abrupt zu durchbrechen.
Als er am Nachmittag wieder an den Büschen vorbei ging, spürte er ein Herzklopfen, wie bei der ersten Liebe mit seiner Frau. Er lachte und sagte sich, was ist schon dabei, sich dieser Empfindung hinzugeben. Das Leben hatte ihn abgestumpft, das Erotische war zweitrangig geworden, es gab wenig, was ihn noch faszinierte und aus dem gewohnten Einerlei heraushob. Er sah zu den Kamelen hin, doch sie waren nicht mehr an ihrer Stelle, doch der intensive Geruch ihrer voran gegangenen Anwesenheit im Stall war noch stark zu riechen.
Anders als Fernsehen und Handy
Als er am Eingang zur Kasse angelangt war, sah er, dass die Zeltbahnen am Eingang an beiden Seiten zurück geklappt waren und nur wenige Leute mit ihren Kindern ins Innere schlenderten. Er beobachtete, dass die Kinder keine besonderen Emotionen zeigten, wahrscheinlich waren sie durch Fernseher und Handys ganz andere Sensationen gewohnt.
Er löste seine Karte bei einer jungen Frau, die als Scheherazade verkleidet war, ein durchsichtiger Schleier ließ ihr Gesicht etwas mattmilchig erscheinen. Er sah sich im Vorraum um. Einige Kinder mit Erwachsenen standen an einem Kiosk mit Süßigkeiten an, und zwei Kerle lehnten an der Bar an der Theke, neben sich ein kleines, blondes Mädchen mit einer Zopffrisur.
Er hatte eine derartige Situation erwartet, und wie auf einen Schlag war seine überspannte Erwartung verschwunden.
Im Innern des Zeltes verlief eine Art runder Arena, auf deren sie umgebenden Holzrändern, ein kleiner Clown entlang tänzelte. Auch das Programm erwärmte ihn nicht, kein Erlebnis tauchte aus der entfernten Jugendzeit auf. Er bereute schon, dass er sich so in seine Imagination hinein gesteigert hatte, als doch noch eine Nummer seine Aufmerksamkeit erregte.
Ein ältlicher Mann in schäbiger Hose hantierte mit einigen abgewetzten Kolben, die ihm immer wieder zu Boden fielen und einen Lachsturm der Zuschauer entfachten. Er tat im leid, denn das Versehen war nicht gespielt, sondern seiner Ungeschicklichkeit zuzuschreiben. Dann erschienen auch die Kamele aus dem Stall und trotteten brav um das Rund der Arena.
Er begann sich zu langweilen und ersehnte die Pause. Etwas unbefriedigt stand er auf, beschloss jedoch, noch zu bleiben, vielleicht brachte der zweite Teil des Programms noch eine gewisse Steigerung auch seines Kindheitsgefühls.
Die Menschen wollen das so
Unschlüssig stand er im Vorraum als plötzlich das kleine Mädchen mit der Zopffrisur vor ihm erschien und ihn starr anblickte. Dann fragte sie ihn schüchtern, ob er sie zum Tiger führen würde. Aus dem Programmheft wusste er, dass auch ein Tiger beim Zirkus war. Er war etwas irritiert und erwiderte „Warum willst du denn zum Tiger?“. Sie sah zu Boden und sagte dann „Er hat ja so schöne Flecken am Bauch und am Rücken, der Tiger.“
Er grinste und erklärte ihr, dass kein Tiger schöne Flecken habe, sondern sie meine wohl einen Leoparden, diese hätten schon helle und dunkle Flecken am Körper. Sie sah ihn mit ihren hellen Kinderaugen an und sagte „Gehst du mit mir jetzt zum Tiger, ich möchte seine Flecken sehen.“ Er lachte und wies auf die Zeltplane, die auch blaurote Streifen hatte und sagte „schau … wie heißt du eigentlich?“ „Amra“ sie lächelte und zupfte verlegen an ihren blonden Zöpfen. „Ein schöner Name, Amra, wirklich schön.“ Dann fasste sie ihn an der Hand, und sie gingen an dem Süßigkeiten Stand vorbei zu den Stallungen der Tiere.
Es dauere nicht lange, dann standen sie vor dem Käfig des Tigers. „Warum ist er nicht vorne bei uns?“ „Na ja, der hat am Abend seinen Auftritt, siehst du nun seine Streifen?“ Sie nickte heftig und ging näher ans Gitter heran. Der alte Tiger schritt stumpf am Gitter entlang und rieb seine Flanke an den eisernen Stäben. „Lang ihn nicht an“ sagte er „er wird zornig und mag das nicht. Siehst du dort den Fleischbrocken, das ist sein Essen.“ Sie sah ihn ruhig an und sagte zu ihm „Er tut mir so leid, der Tiger…er hat so schöne Streifen und ist immer eingesperrt und darf nie hinaus.“ „Ja erwiderte er „aber die Menschen wollen es so. Verstehst du, deshalb sperren sie die wilden Tiere ein.“
Ein ungutes Gefühl
Dann ertönte die Klingel zum Ende der Pause, und sie fasste wieder seine Hand und ging mit ihm in den Vorraum. Die beiden Männer standen wieder an der kleinen Bar und tranken Bier und lachten und schlugen sich auf die Schenkel. Die Kleine lief zu ihnen, und er sah, wie der eine Mann ihr eine Ohrfeige verpasste und sie von sich weg schubste. Dann blickte er zu ihm herüber, und sein Gesicht kam ihm finster und bösartig vor.
Mit einem unguten Gefühl ging er an seinen Platz und setzte sich. Auch der zweite Teil des Programms blieb hinter seinen Erwartungen zurück, es war ihm nicht gelungen, den Zauber der Kindheit erneut aufzurufen und ihn in Kontrast zu seinem jetzigen Leben zu bringen.
Ein Schlag in die Magengrube
In Gedanken versunken spürte er plötzlich einen Stoß in die Seite und eine raue Stimme flüsterte „Du alte Sau, wolltest du deinen Dicken in ihre kleine Fotze stecken, ha?“ Neben ihm hatte sich der eine Mann gesetzt und der andere auf die andere Seite, der große Kerl mit der Glatze. Er sagte „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe!“ Da puffte ihn der andere und grinste ihn an „Du Arschloch, du stehst wohl auf kleine, blonde Mädchen…das werden wir dir schon noch austreiben, du Sau du mistige.“
Er wollte sich erheben und aus der Arena gehen, aber die beiden Kerle hielten ihn fest und einer zischte „du gehst mit uns, wir passen schon auf dich auf.“ Dann packten sie ihn an den Armen und zogen ihn hinaus in den Vorraum. Niemand war dort zu sehen, die Zuschauer waren alle verschwunden, und auch der Kiosk war verwaist.
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Er merkte, dass die beiden getrunken hatten, denn ihr Atem war geschwängert von Alkohol. Das kleine Mädchen stand neben dem einen Mann und sagte „Papa, lass doch den Mann…er hat mir…“ „Halt dein Maul du Miststück…gehst einfach mit solchen Hurenböcken im Zirkus spazieren… wir sprechen uns noch“, und er schlug ihr wieder ins Gesicht.
Dann wandte er sich ihm zu und versetzte ihm einen harten Schwinger in die Magengrube, dass er zusammenknickte und zu Boden stürzte. Da traf ihn ein Schlag in den Rücken, dass er glaubte, noch nie einen solchen Schmerz verspürt zu haben. Tränen liefen ihm über die Wangen und in die Augen, und er konnte nichts mehr erkennen.
Folge dem Tiger
„Du Sau du dreckige…du fickst keine kleinen Mädchen mehr…das verspreche ich dir…du…du…!“ Und wieder traf ihn ein wuchtiger Schlag in den Hinterkopf, dass er glaubte, es sei das Ende, und er versuchte, sich mit den Händen zu schützen. Und dann war eine plötzliche Leere in ihm, er schloss die Augen…und dann erkannte er den Tiger. Wie aus weiter Ferne winkte er mit den Pfoten, und sein Gesicht war so friedlich, und seine Streifen leuchteten in der Sonne, dass sie ihn blendeten, und er wusste mit einem Mal, dass er ihm nachlaufen musste. Immer weiter…immer weiter…immer weiter…bis er nicht mehr zu sehen war.
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