Gerd Schütz war 20 Jahre lang unser Nachbar. Oft war er für längere Zeit verschwunden, und wenn wir ihn dann nach Wochen im Treppenhaus oder auf der Straße trafen, hat er von seinem neuesten Abenteuer irgendwo am anderen Ende der Welt erzählt.
Kurz bevor wir aus München weggezogen sind, hab ich mich mit ihm zusammengesetzt, um endlich Genaueres über sein spannendes Leben zu erfahren.
Gerd ist Jahrgang 50. Sein Leben ist von zwei Leidenschaften geprägt: der für seinen Beruf als Steuerberater und der für hohe Berge. Damit sind nicht etwa hoch aufragende Alpengipfel gemeint, nein, Gerd besteigt die höchsten Berge, die die Kontinente zu bieten haben: die Seven Summits ››. Und in zwei Jahren, wenn er 70 ist, will er, nach mehreren Anläufen, endlich den Mount Everest ›› besiegen und der älteste Europäer auf dem höchsten Berg der Welt sein.
Sechs von den Seven Summits hat Gerd bereits bestiegen. Und das nicht etwa als durchtrainierter Sportler, der Zeit seines Lebens auf dieses Ziel hingearbeitet hat. Seine Karriere als Extrembergsteiger hat erst begonnen, als er 58 war, obwohl er schon als kleiner Junge davon geträumt hatte. Damals durften er und seine Brüder Radiosendungen hören, in denen von den Abenteuern tollkühner Männer im fernen Himalaya die Rede war. Und genau solche Abenteuer wollte er auch erleben, wenn er erst erwachsen war.
Doch sein Leben verlief anders, als er es sich erträumt hat.
Der lange (Lebens-)Weg auf den höchsten Berg
Das Geld der Eltern reichte nur für das Studium seiner beiden älteren Brüder, deshalb sollte Gerd eine Lehre machen. Er aber besucht heimlich das Abendgymnasium, um das Abitur zu machen. „Die Eltern meinten, ich sei abends mit Mädels unterwegs.“ Irgendwann läßt sich sein Tun nicht mehr verheimlichen. Wider Erwarten akzeptieren und unterstützen die Eltern seinen Plan.
Während der Bundeswehrzeit lernt er beim Karneval ein Mädchen kennen. Sie fahren zusammen in Urlaub, das Mädchen wird schwanger. Obwohl er erst 20 ist, bestehen die Eltern auf einer Heirat, finanzielle oder großelterliche Hilfe für den Nachwuchs gibt es nicht. Der Traum vom BWL-Studium mit anschließendem Job in China ist damit ausgeträumt. Gerd empfindet es als Katastrophe, dass er all seine Pläne aufgeben muss. Er nimmt verschiedene Jobs an, um die junge Familie zu ernähren. Schließlich wird er Bilanzbuchhalter – das Sprungbrett für seinen späteren Beruf als Steuerberater.
Die Ehe geht nicht gut. Gerds Wunsch, in die weite Welt hinauszuziehen, stößt bei seiner jungen Frau auf Abwehr, zu verschieden sind ihre Lebensentwürfe. Gerd lässt seine Familie in seiner Heimatstadt in Oberfranken zurück und geht nach München, um an der Uni die notwendigen Kurse für den Steuerberaterberuf zu belegen. Das Paar ist schon in der Trennungsphase, als seine Frau ihn besucht – sie wird erneut schwanger. Er geht nach Oberfranken zurück, arbeitet dort als Steuerberater, engagiert sich sozial, wird stellvertretender Bürgermeister. Die Scheidung lässt sich nicht mehr vermeiden und Gerd kehrt endgültig nach München zurück, wo er seine eigene Kanzlei eröffnet.
„Ich habe nur gearbeitet, nicht gelebt.“
Zehn Jahre arbeitet er vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, um die hohen Scheidungsschulden abzutragen. Er liebt zwar seinen Beruf, der enge persönliche Kontakt mit den Mandanten ist ihm wichtig, mit seinem kleinen Team zu arbeiten macht ihn glücklich. Doch seine privaten Beziehungen zerbrechen an der geradezu fixen Idee, die Schulden so schnell wie möglich loszuwerden. Sein Arbeitstag beginnt morgens um vier, abends ist er nur noch müde. Für Urlaub hat er keine Zeit. Im Rückblick sagt er: „Es war ein Fehler, dass ich mir nicht mehr Zeit genommen habe. Ich habe nur gearbeitet, nicht gelebt. Mit 50 war ich sehr unzufrieden mit meiner Situation, und ich hab verstanden, dass ich aus dem Hamsterrad rauskommen und was verändern muss.“
Weihnachten auf dem Kilimandscharo
Endlich nimmt er sich Zeit für seine eigenen Interessen und beginnt mit dem Bergsteiger-Training. Sein erster Berg wird der Kilimandscharo ››. Er ist inzwischen 58. Um der weihnachtlichen Einsamkeit zu entkommen, nimmt er sich vor, an Heiligabend auf dem Gipfel des höchsten afrikanischen Berges zu stehen, dem ersten der Seven Summits. Und er schafft es, allein mit einem Führer. „Das war ein unglaublich tolles Erlebnis!“
Als ihn beim anschließenden Skiurlaub sein Skiführer fragt, ob er Lust habe, im Herbst mit ihm den Anden-Gipfel Aconcagua ›› zu besteigen, sagt er zu.
Dreimal hat er Anlauf genommen, um den mit 7000 Metern höchsten Berg außerhalb Asiens zu besteigen. Schlechte Wetterbedingungen, Streit im Team und schließlich Erfrierungen an den Fingerkuppen zwingen ihn jedes Mal zum Aufgeben. „Aber ich wollte unbedingt hoch! Es geht alles, wenn der Kopf nur will. Und wenn man dann auf dem Gipfel steht, merkt man die Erschöpfung nicht. Sobald du dich aber entscheidest, umzukehren, merkst du, wie fertig zu bist. Dann passieren auch die meisten Unfälle.“
Die Besteigung des Aconcagua motiviert ihn, auch die anderen Gipfel der Seven Summits zu versuchen. Im Rückblick weiß er, dass er an dritter Stelle gleich den Mount Everest hätte angehen sollen. Die Erfahrungen, die dieser Berg bereit hält, hätten alle weiteren Besteigungen leichter gemacht. „Du weißt dann, dass es geht. Dass du es schaffen kannst.“ So aber hat er erst die anderen Berge der Reihe nach bestiegen.
Stürzende Bergführer, Riesenspinnen und Haar-Räuber – ein Abenteuer jagt das andere
Er erlebt dabei immer wieder besondere Abenteuer, aber auch kritische Situationen: einmal stürzt sein Bergführer von oben auf ihn herab und bricht ihm die Schulter; ein anderes Mal gerät er in eine Gletscherspalte und muss von seinem Führer daraus geborgen werden.
Im Dschungel von Papua-Neuguinea erwartet ihn ein geradezu surreales Erlebnis: das Team muss unter einem Meer handtellergroßer Spinnen hindurchkriechen, die in morgendlicher Starre in ihren Netzen hocken, die wie eine riesige silbrige Decke ein ganzes Tal überspannen. In Nepal reißt eine Frau ihm ein Büschel Haare aus: dort kennt man kein altersweißes Haar, und möglicherweise hoffte sie, ein Büschel davon möge ihr Glück bringen.
Im April 2015, beim zweiten Anlauf auf den Mount Everest, hat er das einschneidende Erlebnis seines Lebens. Auf 6400 Meter Höhe werden er und seine Gruppe von dem großen Erdbeben überrascht, das im wahrsten Sinn des Wortes aus heiterem Himmel über sie hereinbricht. „Die Luft war voller Kreischen, Donnern, Krachen. Der ganze riesige Berg hat gerumpelt und gezittert und gezuckt. Felsbrocken sind ganz nah an uns vorbei herabgestürzt, immer wieder sind Schneelawinen die Hänge hinunter gedonnert. Ich habe sofort gewusst, jetzt geht es um Leben und Tod. Das Schlimmste waren die Nachbeben. An Schlaf war nicht zu denken. Es gab keine Funkverbindung, überall war Chaos und Panik.“
Sie haben großes Glück, dass sie überleben. Eine Woche lang gelten sie als verschollen. Am sechsten Tag wagt Gerd mit seinem Führer den Abstieg zum Basislager. Langsam arbeiten sie sich über eine völlig veränderte Landschaft voran. Überall sind Gletscherspalten, wo vorher keine waren, Felsbrocken versperren die Route. Es dauert sehr lange, bis sie im Lager ankommen.
„Mein Xi-Stein ›› hat mich gerettet und mir ein zweites Leben geschenkt“, sagt er und zeigt auf den korallenfarbigen Stein, den er an einem Band um den Hals trägt. „Dies hier ist mein zweiter Xi-Stein. Der erste ist verbraucht. Für so einen Stein werden zwischen 30.000 und 100.000 Dollar bezahlt, wenn er echt ist. Es gibt viele Imitate, aber die Tibeter erkennen sofort, wenn der Stein echt ist. Sie wollen ihn dann unbedingt berühren.“
Kein Glück in der Liebe, aber beim Überleben
In der Liebe hat ihm der Stein kein Glück gebracht. Als seine Freundin erfährt, dass er zum Mount Everest zurückkehren will, um das traumatische Erlebnis zu verarbeiten, verlässt sie ihn. „Ich war wohl zu extrem für sie.“
Das hält ihn nicht davon ab, schon im Jahr danach einen erneuten Versuch an seinem Schicksalsberg zu wagen. Doch wieder soll die Gipfelbesteigung nicht gelingen. „Es hat eine Reihe von Fehlentscheidungen gegeben, die schließlich dazu geführt haben, dass ich bei 8300 m Höhe abbrechen musste“.
Zuhause beschließt er, beruflich kürzer zu treten und sich mehr auf seine Vorträge und auf sein Training zu konzentrieren. Noch einmal macht er eine neue Kanzlei auf (er ist jetzt 66 Jahre alt), immer noch geht er morgens zwischen 5 und 6 Uhr ins Büro. Der Beruf macht ihm nach wie vor großen Spaß, auf jeden Fall will er ihn so lang wie möglich weiterführen.
Dann, Anfang dieses Jahres, stellt er eine ungewohnte Kurzatmigkeit fest: Herzprobleme. Trotzdem fährt er nach Nepal und besteigt einen 6000er. „Ich hab tausend Schutzengel gehabt, dass da nichts passiert ist. Das war sehr leichtsinnig, ich hätte leicht einen Schlaganfall erleiden können.“
Zurück in München wird er operiert. Die Reha verweigert er: „Ins Büro zu gehen ist besser als jede Reha für mich.“ Trotzdem hat er sich vorgenommen, das Leben nun mehr zu genießen. Er macht einen Tanzkurs, lernt „endlich richtig“ Gitarre zu spielen. Und ab Juli geht das Training wieder los. Denn 2020 will er auf jeden Fall als ältester Deutscher und ältester Europäer auf dem Gipfel des Mount Everest stehen.
Es ist nie zu spät, seine Träume zu leben
Gerd ist überzeugt, dass er es schaffen wird: „Es geht alles, wenn man nur ein Ziel hat! Und man muss sich Zeit lassen. Ich will nicht nur hoch und wieder runter. Wenn ich auf die Berge gehe, möchte ich auch das Land und die Menschen kennenlernen. Und ich will die Natur genießen. Ich will auch die Seele und das Herz befriedigen. Deshalb nehme ich mir immer viel Zeit.“
Gerd Schütz ist ein Mann, der für das, was er tut, mit Leidenschaft brennt. Und er ist felsenfest davon überzeugt, dass der Mensch alles erreichen kann, wenn er es nur will:
„Es ist nie zu spät, mit etwas Neuem anzufangen oder alte Träume zu verwirklichen. Man muss gesund sein – oder sich bemühen, gesund zu werden; das geht nämlich auch. Man muss sich überlegen, was einem Spaß machen könnte. Nicht einfach nur irgendwas machen. Und dann muss man den ersten Schritt tun. Das ist das Schwierigste. Wenn das geschafft ist, dann möchte man die glücklichen Erlebnisse nicht mehr missen. Nach dem erfolgreichen ersten Schritt traut man sich, weitere solche Schritte zu gehen. Und man darf keine Angst vor Veränderungen haben. Mir ging es nach jeder Veränderung immer besser. Man muss nach vorn gehen, nie zurück! Der Aufwand zahlt sich immer aus.
Und was kann schon passieren? Für mich kann das Schlimmste nur sein, dass ich abstürze und tot bin.“
über den Steuerberater und Extrembregsteiger, seinen Beruf und seine Leidenschaft, viele Bilder und Inspirationen finden Sie auf der Website ›› von Gerd Schütz.
Wir wünschen Gerd von ganzem Herzen, dass sich sein Traum erfüllt und wir eines Tages in der Zeitung lesen: „Ältester Europäer auf dem höchsten Berg der Erde: Ein 70-jähriger Münchner hat es geschafft!“
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