Schon als junges Mädchen wollte Iris Schürer Gesichtsteile modellieren. Nach dem Umweg über die Maskenbildnerei und die Zahntechnik bekam sie die Chance, an einer renommierten Klinik in Amerika zu erfahren, was Epithesen sind und wie man sie macht. Epithesen sind also künstliche Ersatzteile fürs Gesicht. Ihre Herstellung ist eine Mischung aus Medizin und Kunst, die viel Feingefühl, Kreativität, Empathie und akribisches Arbeiten verlangt.
Als Iris ihr Wissen nach Deutschland brachte und sich selbstständig machte, war sie eine von sehr wenigen Fachleuten. Heute ist die Konkurrenz zwar größer, aber über mangelnde Arbeit kann sich die fast 60-Jährige nicht beklagen.
Das Model Jessica ist eine ihrer langjährigen Patientinnen, sie verlor wegen einer rätselhaften Autoimmunkrankheit ihre Nase und Teile eines Ohrs. Die exotische Schönheit war an unserem Drehtag bei Iris, um ihre alte Nasen-Epithese durch eine neue zu ersetzen – eine jährlich wiederkehrende Prozedur. Sie hat sich bereit erklärt, nach langer Zeit wieder einmal Modell zu stehen für den Freund der Familie und Fotografen Peter Musch. Und sie war sogar einverstanden, dass wir bei eigenleben.jetzt über ihre Geschichte berichten und die Bilder von ihr zeigen.
Ein Beispiel dafür, wie mit Hilfe von Iris‘ Kunstfertigkeit Menschen darin unterstützt werden können, ins aktive Leben zurück zu kommen.
Wie kommt man auf die Idee, Gesichtsteile zu machen?
Iris Schürer berichtet im Video über ihren ungewöhnlichen Beruf, durch den sie schon vielen Menschen den Lebensmut zurückgeben konnte.
»Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich unbedingt Gesichtsteile modellieren. Bei uns im Wohnzimmer stand ein Foto, das den Mephisto mit einer übertrieben groß modellierten Nase zeigte.
Mich hat dieses Bild immer fasziniert. Ich hab gedacht: So was möchte ich gerne machen, solche Nasen und sowas modellieren.
Epithesen sind künstliche Gesichtsteile für Leute, die durch Tumor, Unfall oder Missbildung Gesichtsteile verloren haben und die man plastisch chirurgisch nicht ersetzen kann oder will. Eine Epithese ist also sowas wie eine Prothese für das Gesicht.
Menschen, denen zum Beispiel eine Nase entfernt wird, die sind erst mal schwer traumatisiert. Egal, ober sie jung sind oder alt. Was passiert: In der Klinik wird ihnen die Nase abgenommen, die Wunde wird mit einem weißen Pflaster verbunden. Sie haben ein weißes Pflaster im Gesicht, und wenn sie damit auf die Straße gehen, sieht man das über hundert Meter Entfernung. Alle Leute starren auf dieses weiße Pflaster. Damit wird also die Krankheit geradezu unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen.
Wenn diese Menschen dann von mir eine künstliche Nase, also ihre Epithese bekommen, dann schauen sie in den Spiegel und sagen ‚Jetzt kann ich endlich wieder auf die Straße gehen, ohne dass alle gucken.‘
Und natürlich ist es so, je schöner so was gemacht wird, je individueller und auch mit einem künstlerischen Aspekt, umso eher ist das für die Seele der erste Schritt zur Heilung und zum Gesundwerden und dazu, wieder ins Leben zurückzukehren.
Als ich in Amerika war, hat man mir gesagt, wir gehen jetzt zu einer Patientin, die hat keinen Unterkiefer mehr und der fehlt die Zunge. Und da habe ich mir gedacht: ‚Okay, Iris, jetzt zählt’s, jetzt wird sich’s zeigen. Wenn du umkippst, dann ist das nichts für dich.‘
Und es ist interessant: Meine Fantasie hat mir viel wildere Bilder vorgegeben als das, was ich dann tatsächlich gesehen hab. Wenn ich das auf einem Foto vorher gesehen hätte, dann hätte ich wahrscheinlich gesagt: Nee, das mach ich nicht, das geht nicht. Aber wenn du an dem Patienten sofort etwas machen kannst, das nimmt dir die Scheu davor.
Ich hab eine Freundin, die wollte auch Epithetik machen. Doch als sie die erste Patientin gesehen hat, hat sie gesagt: „Iris, das kann ich nicht, das geht nicht, das pack ich nicht.“
„Ich bin kein distanzierter Mensch“
Meine Beziehung zu den Patienten ist natürlich schon allein deshalb intensiver, weil wir einfach viele, viele Stunden zusammen verbringen. Ich sitze da unten in meiner Werkstatt, und wir sind teilweise nur 50, 60 Zentimeter voneinander getrennt. Und bis ich so eine Nase modelliert hab, vergehen locker mal sechs bis acht Stunden. Und die sind wir zusammen. Und da redet man auch miteinander. Es ist klar, dass sich da mit einigen Patienten wirklich eine enge Beziehung ergibt. Ich sage immer, das ist Epithese mit Familienanschluss.
Früher waren da die Kinder. Sie waren noch klein, und wenn sie geschrieen haben, hab ich gesagt: Entschuldigung, ich muss ich mal schnell stillen gehen. Dann sind da noch die Hunde. Und es findet ja auch alles in meinem Privathaus statt. Und es ist auch so meine Art, ich bin kein distanzierter Mensch.
Jessica, das ist wirklich ein eigentlich dramatischer Fall. Jessica hatte eine Autoimmunerkrankung, das ist kein Tumor gewesen. Bei einem Tumor an der Nase muss ein Stück von der Nase weggeschnitten werden.
Bei Jessica war es so: Sie hat auf ihre Schulter geguckt und hat gesehen, wie die Haut, während sie mit ihrer Ärztin telefoniert hat, schwarz geworden ist.
Autoimmunerkrankungen kriegst du manchmal nicht in den Griff, da sterben dir die Leute unter den Fingern weg. Aber Jessica hat die Biege gekriegt. Sie hat einen Teil ihrer Nase verloren, und sie hat einen Teil ihres Ohrs verloren.
Jessica ist jetzt, glaube ich, das sechste oder achte Jahr bei mir. Durch diese künstliche Nase, und gerade jetzt mit der neuen, hat sie plötzlich wieder ein Lebensgefühl bekommen. Sie geht wieder raus und nimmt am Leben wirklich ganz aktiv teil. Die ersten Jahre waren für die Jessica sehr traumatisierend. Sie hat sich zurückgezogen, trotz Epithese. Aber jetzt, jetzt kommt sie, sie kommt jetzt mehr und mehr.
Es ist ein großes Geschenk, wenn eine Epithese fertig ist und wenn sie gut geworden ist, wie eigentlich in den meisten Fällen. Also hier geht keiner raus, ohne dass mir die Epithese gut gefällt. Und ich sehe dann die glücklichen Augen der Patienten, und das macht mich glücklich, das ist ein großes Geschenk.
Der Zustand der Natur
Was mich wirklich sorgt, das ist der Zustand unserer Natur. Wir haben jetzt seit zehn Tagen jeden Tag Sturm. Jede Nacht höre ich die Bäume fallen. Und die Leute sagen, die Bienen sterben.
Bei mir ist es nicht so, ich höre die Vögel, ich habe viele Hummeln, ich habe das alles noch, aber… Letzte Woche habe ich die ersten Zitronenfalter gesehen, ich hatte Tränen in den Augen vor Freude und habe mir gedacht, es gibt Leute in Deutschland, die haben vor 20 Jahren den letzten Schmetterling gesehen.
Ja, wir müssen da was tun.
Ich kann mir schon vorstellen, dass ich Epithesen mache, so lange ich meine Finger bewegen kann. Es ist einfach wunderschön, ich könnte den ganzen Tag modellieren! Und vielleicht kriegen wir das hin, bis ich 64 bin, das ist so in fünf Jahren, dass ich dann ein, zwei Menschen hier hab, die mir diese ganze Bürokratie abnehmen.
Und dann modelliere ich von früh bis spät weiter Epithesen.«
Was sagen Sie dazu?