Es ging ihr gut. Das sagte sich Hanna immer wieder. Kein Grund zur Sorge. Seit einigen Jahren im Ruhestand, sehnte sie sich keineswegs ins Arbeitsleben zurück. Sie hatte sich längst damit abgefunden, dass sie nicht ihren Traum leben konnte, sondern in der städtischen Verwaltung aufgestiegen war, was ihr jetzt eine solide Rente sicherte. Sie war nun schon lange Single und konnte sich gar keine andere Lebensform mehr vorstellen. Alles war gut, wirklich.
Alles war in bester Ordnung
Hanna haderte kaum mit ihrem Alter, dafür war sie zu realistisch. Es war normal, dass sie nicht mehr so fit und sportlich war wie früher. Für ihre Jahre war sie bei guter Gesundheit. Sie achtete auf ihr Gewicht und ihr Äußeres.
Langeweile war Hanna fremd. Sie las viel, sang in einem Chor, machte Wassergymnastik in einer Gruppe und ging viel raus in die Natur. Alles war in bester Ordnung, keine Frage, und Hanna war dankbar dafür.
Aber es gab graue, verregnete Sonntage, die in Zeitlupe dahin schlichen, oder auch grundlose Müdigkeiten, wie jetzt gerade, in denen der Gedanke aufblitzte: Was mache ich hier eigentlich noch? Soll das jetzt noch ein oder zwei Jahrzehnte so weiter gehen? Wenn ich tot umfiele, wäre das für niemanden schlimm, und mir wäre es egal.
Der Riss, der sich da auftat, schloss sich schnell wieder. Jammern ohne echten Grund war unter Hannas Würde.
Ein Spaziergang half immer
Sie machte einen Spaziergang, das half immer. Es war Februar, in den Vorgärten lugten Schneeglöckchen hervor, sonst war alles noch graubraun.
Auf einer großen, verwilderten Wiese, die sich zwischen Vorstadthäusern gehalten hatte, stand ein bulliger Mann, der hingebungsvoll eine Drohne steuerte, die knatternd immer neue, immer weitere Kreise zog. Diese Dinger sind eine Pest, dachte Hanna, jedenfalls, wenn sie nicht einem erkennbar sinnvollen Zweck dienen.
Ihr Weg führte sie an der Wiese vorbei und zu einem angrenzenden Grundstück mit einem erst kürzlich gebauten Einfamilienhaus.
Innen am Zaun stand eine zierliche Frau, die jetzt mit erstaunlich kräftiger Stimme den Drohnenpiloten zu sich rief. Der kam auch angetrabt und wurde sogleich unaufgeregt aber mit Nachdruck abgekanzelt: »Lassen Sie das gefälligst! Wenn ich Ihre Drohne noch einmal über unserem Grundstück sehe, zeige ich sie an!« Der Mann, älter und doppelt so breit wie die Frau, entschuldigte sich und versuchte eine Erklärung, es sei ein Versehen. Dann zog er mitsamt der Drohne ab.
Bravo! dachte Hanna und lächelte die Frau im Vorbeigehen an.
In einer gottverlassenen Gegend
Ein paar Tage später machte Hanna sich auf den Weg zu einem Treffen ihres Literaturkreises. Nach einer U-Bahnfahrt quer durch die Stadt stand sie auf dem großen Bahnhofsplatz in Moosach und wartete auf ihren Bus, der erst in zwölf Minuten kommen würde.
Es war 19 Uhr, schon dunkel, kalt und zugig. Eine gottverlassene Gegend. Außer einigen Obdachlosen, die auf Bänken saßen oder lagen, Flaschen in der Hand, war niemand zu sehen.
Dann tauchten in einiger Entfernung zwei junge Männer auf, die Hanna schon beim Aussteigen aus der U-Bahn unangenehm aufgefallen waren. Einer hellblond, der andere dunkelhaarig, in Jeans und Lederjacken, beide eher schmal, kaum zwanzig Jahre alt, schätzte sie, aber laut, aufgedreht, mit großspurigem Macho-Gehabe.
Die sind auf Krawall aus, hatte Hanna gedacht.
Es waren dumme Jungen, sie würden ihr nichts tun
Hanna schaute weg. Als sie Stimmen hörte, sah sie wieder hin. Die beiden jungen Männer verstellten einem dritten den Weg. Sie schubsten und pöbelten. Der Angegriffene mochte etwas älter sein, ein Büro-Typ im Mantel mit Aktentasche. Er wehrte sich nicht, versuchte zu beschwichtigen, auszuweichen und an den beiden vorbei zu kommen, die immer aggressiver wurden und zuschlugen. Noch war es ein Geplänkel, aber dabei würde es nicht bleiben.
Was tun? Hanna wusste, sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie einfach zusah. An den Haltestellen waren keine Busse. Außer ihr war niemand da.
Sie dachte an die kleine Frau und den Mann mit der Drohne. Wenn sie die Polizei anriefe, würde Zeit vergehen, in der ein Mensch womöglich schwer verletzt würde. Die Angreifer hatte sie ja schon aus der Nähe gesehen. Das waren dumme Jungen, keine abgebrühten Ganoven. Sie würden einer alten Dame nichts tun.
Entschlossen richtete sie sich zu voller Größe auf und ging mit energischen Schritten auf die drei zu, dabei tastete sie nach dem Handy in ihrer Manteltasche.
»Halt! Sofort aufhören!«
Sie stellte sich vor den Bedrängten. Die Angreifer waren überrascht, versuchten aber, an ihr vorbei den anderen, der in eine unbeholfene Boxerstellung gegangen war, zu stoßen und zu schlagen.
»Aufhören! Ich rufe die Polizei!«
Hanna zückte das Handy.
»Der hat uns angegriffen, wir verteidigen uns nur!«
»Unsinn! Ich habe alles gesehen. Lassen Sie den Mann in Ruhe! Sofort aufhören!«
So lebendig hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt
So ging das noch ein paar mal hin und her. Die beiden jungen Männer schlugen und schubsten, Hanna ging mit ausgebreiteten Armen dazwischen. Sie achtete darauf, nicht zu provozieren.
Endlich kamen ihnen Leute entgegen, die aus einem Bus ausgestiegen waren. Alle gingen mit unsicheren Blicken vorbei, bis auf einen Mann, der sich schweigend neben Hanna und den Angegriffenen stellte.
Die beiden Schläger gaben nicht sofort auf, sahen dann wohl ein, dass sie sich hier nicht weiter austoben konnten, aber sie wichen maulend nur ein paar Schritte zurück.
Hanna nickte dem hilfreichen Passanten zu, der darauf seiner Wege ging, und begleitete den Mann mir der Aktentasche demonstrativ zu seinem Bus, der inzwischen angekommen war. Der Gerettete bedankte sich verlegen.
Auch Hanna erreichte ihren Bus. Es tat gut zu sitzen. Sie spürte das Adrenalin in ihren Adern. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Tina Stadlmayer schreibt
Eine wunderbare Geschichte! Vielen Dank dafür, Barbara. Hoffentlich bin ich auch so mutig, wenn es mal drauf ankommt.