Schon als sie aufwachte war etwas anders.
Sie rieb sich die Augenlider, die noch vom Schlaf wie schwere Türen in den Angeln hingen und blinzelte zur Lampe an der Decke. Sie sah noch genauso aus wie gestern Abend und doch, da war etwas Unbestimmtes, etwas Verstörendes, so als sei diese Lampe keine Lampe mehr, nur noch ein Gegenstand der unter der Decke hing und schwer über ihr schwebte.
Während sie diesen Gedanken nachsann und zum Fenster sah, durch das sich die ersten Sonnenstrahlen über vom Schnee verzuckerten Dächern stahlen, fühlte sie ihren Herzschlag hart gegen die Rippen trommeln. Er war schnell und heftig und dazwischen fühlte sie eine Enge, eine Last, die ihre Brust umschloss. Dabei würde es ein heller, sonniger Tag werden nach all den Tagen des Nebels, des Schneetreibens, das sich in eine glitzernde weiße Porzellan-Landschaft verwandelt hatte. Doch dieses Bild löste keine Freude, keine Sehnsucht in ihr aus, eher ein Gefühl allein in der Weite der Arktis zu sein, ein Ort an dem sie noch nie gewesen war und den sie nur aus Filmbildern kannte. Doch jetzt, inmitten der Stadt, umgeben von Nachbarn und Häusern, Bäumen und Straßen, wusste sie plötzlich wie es sich anfühlte in dieser namenlosen Unendlichkeit das einzige lebende Wesen zu sein.
Haltlos bis zur Erlösung
Ein Endzeitszenario aus Filmen von Emmerich fiel ihr ein und sie schloss wieder die Lider um dieses Bild nicht mehr sehen zu müssen. Doch es ließ sich nicht verdrängen, je mehr sie es versuchte umso mehr kam es zurück mit einer Hartnäckigkeit, der sie machtlos gegenüber stand und sie aufgeben ließ. Und dieses Aufgeben war wie Rutschen, erst langsam dann immer schneller, hinein in eine Eisspalte die sich geöffnet hatte und sie aufnahm in eine sich verändernde Welt voller Formen und Farben, die vom hellen Weiß zu Grau und Blau, Meergrün wechselten und sie umschlossen wie wirbelndes Wasser.
Dann war es plötzlich ruhig und sie fühlte festen Grund nach all dem Brodeln und Gleiten, eine nie gefühlte Stille erfüllte ihr ganzes Sein und schwerelos ließ sie sich treiben wie eine Qualle über Meeresgrund, jegliche Enge und Last waren verschwunden und Gedanken waren wie ferne flimmernde Lichter, die kurz aufblitzten und wieder verschwanden. Eingehüllt in dieses friedliche Schweben spürte sie, wie sie immer leichter wurde, wie sie zu schmelzen begann, wie ein Eiszapfen an der Dachrinne, der unter der Sonne sich auflöste und sich tropfend fallen ließ zur Erde. All dies war begleitet von einem Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit, fern jeder Furcht oder gar Angst.
Boden unter den Füßen
Mit dem Aufprall zur Erde setzte plötzlich ihr Denken wieder ein. Und sie erinnerte sich an diesen Morgen, der so sonderbar und anders gewesen war. Sie schlug die Augen auf und sah zur Decke, von der die Lampe hing, die plötzlich wieder eine Lampe war. Als ihr Blick auf die Uhr fiel, bemerkte sie, dass eine Stunde vergangen war und doch schien alles was sie erlebt hatte nur die Dauer von Augenblicken zu sein. Sie hatte ein Bedürfnis nach Strecken und Dehnen, nach Aufstehen und Bewegung, nach Sprechen und Singen, und während sie ihre Glieder schüttelte wie ein Federbett am Morgen, sah sie in den hellen Tag und wandte sich ihm zu mit einer freudigen Erwartung, die sie seit vielen Tagen nicht mehr gespürt hatte.
»Verstimmung« von Elfriede Hafner-Kroseberg (Regie: Iris Seyband / Aufnahme und Schnitt: Volker Gerth):
Wie es zu dieser professionellen Aufzeichnung kam, berichtet uns Iris Seyband in einem Beitrag › .
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