Wenn ich einer alten Dame über die Straße helfe, wenn ich das von einem achtlosen Menschen neben den Müllbehälter abgeworfene Schokoladenpapier aufhebe und hineinwerfe, wenn ich mich für mein Zuspätkommen entschuldige, damit kann ich leben. Die Dame braucht wirklich Hilfe, die Umwelt soll nicht unter der Treffunsicherheit gleichgültiger Mitbürger leiden und für meine Unpünktlichkeit ist eine Entschuldigung fällig.
Aber ich bin auch dann nett, wenn ich es gar nicht sein will. Wenn der Schuster beim Aushändigen meiner reparierten Stiefel mit süffisanten Lächeln eine Bemerkung über meine strammen Waden macht, wenn mein Mann ein arrogantes Witzchen über sein schusseliges Frauchen vor den Freunden zum Besten gibt, oder wenn die Nachbarin sich beklagt, weil meine Kinder am NACHMITTAG zu laut spielen, dann ist mir das Lächeln ins Gesicht gemeißelt. Obwohl der Zorn schon bis zum Hals hinauf lodert, kann er die Barriere „Erziehung“ nicht passieren. Die sitzt irgendwo zwischen Hals und Herz wie eine unüberwindbare Festung.
Wut auf die eigene Gutartigkeit
Neulich war es mal wieder soweit. Ich sitze im Wintergarten eines Bäckers und will mich nach einem anstrengenden Arzttermin bei einem Cappuccino erholen, bevor ich mich auf die lange Heimfahrt mache. Plötzlich höre ich Vogelgezwitscher und denke zunächst: Ach, wie nett. Aber das Vögelchen lärmt in Alarmtonlage und flattert verzweifelt an den riesigen Fensterscheiben entlang. Draußen zwitschern seine Gefährten und es kann nicht verstehen, warum es nicht zu ihnen gelangen kann. Ein Alptraum für das kleine Tier und nun auch für mich. Ich sehe mich suchend um, außer mir sitzt nur noch eine ältere Dame an einem der Tische und sieht dem Vogel ebenfalls mitleidig zu. Da ich die Glastüren nicht öffnen kann, gehe ich in den Verkaufsraum, um die Verkäuferin um einen Schlüssel für die Verandatür zu bitten. Ich warte geduldig bis sie ihren Kunden zu Ende bedient hat und bringe mein Anliegen freundlich vor.
„Der kommt schon raus“, bügelt sie mich ab. Ich setze mich hoffnungsvoll zu meinem Cappuccino zurück und warte gespannt. Das Vögelchen kämpft, nun schon leicht ermattet, weiter an falscher Stelle um Freiheit. Meinen Cappuccino kann ich schon lange nicht mehr genießen. Ich bitte erneut höflich um einen Schlüssel. Und werde noch genervter abgewiesen. Nun wäre der Zeitpunkt gekommen gewesen, um energisch zu werden. Albert Schweitzer, den Heiligen Franziskus von Assisi und Eugen Drewermann hatte ich auf meiner Seite, trotzdem blieb mein Lächeln ins Gesicht gemeißelt, während ich das Cafe verließ. Draußen ließ mich so viel Ignoranz gegenüber einem hilflosen Geschöpf vor Wut beben. Und meine „Gutartigkeit“ machte mich noch wütender. Jetzt zurückgehen können und mit Nachdruck den Schlüssel verlangen, wenn das nur ginge! Bin ich nicht genauso wie der Vogel eingesperrt hinter den Scheiben meiner anerzogenen Höflichkeit und Bescheidenheit? Einmal so richtig explodieren können, das müsste befreiend sein.
Am Parkplatz angekommen, schreckt mich Gebrüll aus meinen Gedanken auf: „Du A…, ich hau dir eine rein. Das ist mein Parkplatz!“ Ich sehe einen hochroten, extrem erregten Mittfünfziger auf ein friedliches Ehepaar zuspringen und blicke hilfesuchend um mich, während ich nach meinem Handy greife. Was mache ich, wenn der Explodierende auf die Opfer eindrischt? Zum Glück bleibt es bei verbalen Attacken. Das Ehepaar und ich blicken peinlich berührt zu Boden, während der Angreifer noch einige Funkensalven versprüht.
Und ich begreife, dieser Mann ist genauso eingesperrt, in der Festung seiner Aggressionen.
Was sagen Sie dazu?