Heute fühlt sich Auguste unternehmungslustig. Sie wird in die Stadt fahren und eine Kunstausstellung besuchen: „Lust der Täuschung“. Es dauert, bis sie sich frisiert und angezogen hat. Der Inhalt der Handtasche muss kontrolliert werden. Alles nicht einfach, wenn man an Krücken geht und nur langsam einen geschwollenen Fuß vor den anderen setzen kann, zu schweigen davon, dass es besonderer Tricks bedarf, eine Hand frei zu bekommen.
Schließlich sitzt sie in ihrem elektrischen Rollstuhl wie ein Ei im Eierbecher und verlässt ihre behindertengerechte Wohnung. An der Bushaltestelle stehen zwei junge Frauen, das heißt, sie stehen eigentlich nicht, gehen hin und her, schauen in die Auslage eines Ladens und unterhalten sich dabei laut. Auguste achtet nicht darauf, bis der Satz fällt: „Dieses Nagelstudio von ihr ist Weltklasse!“
Mal abgesehen von der fragwürdigen Grammatik – Auguste muss einen Moment überlegen – ah ja. Sie wirft einen Blick auf die Fingernägel einer der Frauen. Lang, dunkellila, mit Glitzer drauf. Wer braucht so etwas? Noch rätselhafter: Was macht die „Weltklasse“ eines Nagelstudios aus?
Eigentlich schlank und beweglich
Als Auguste in den breiten Eingang der Ausstellung rollt, sieht sie sich einer getönten, reflektierenden Fläche gegenüber, die jeder Besucher umkurven muss. Sie erschrickt vor ihrem Spiegelbild. Da sitzt eine zusammengesunkene, dicke Frau im formlosen beigen Mantel. Das runde, gedunsene Gesicht hat fast dieselbe Farbe, ebenso die dünnen Haarfransen, die unter einer ebenfalls beigen Kappe hervorschauen. Furchtbar! Wie ein Haufen nasser Sand. Aus gutem Grund schaut sie freiwillig schon lange nicht mehr in einen Spiegel. Was die Krankheit aus ihr gemacht hat! Das ist doch gar nicht sie. Auguste ist eigentlich und tief drinnen immer noch schlank und beweglich, mit einem hübschen Gesicht und ausdrucksvollen Augen, nicht solchen blassen, wässrigen, wie sie ihr jetzt entgegen starren. Schnell wendet sie sich ab und den Kunstwerken im ersten Saal zu.
Viele Besucher drängen sich durch die Räume, bilden dichte Gruppen vor den Bildern, die der Audioguide bespricht. Auguste wollte keinen. Zum Sehen und Verstehen braucht sie wenigstens keine Hilfe, sie hat ein paar Semester Kunstgeschichte studiert. Es hilft ihr, sich in die Bilder zu vertiefen, sie eingehend zu betrachten, einzuordnen und zu beurteilen. Da kann sie vergessen, wie sie selbst aussieht. Aber schnell stößt sie wieder an Grenzen. Es gibt Exponate in Vitrinen, auf die man von oben schauen muss. Das kann sie vom Rollstuhl aus nicht.
An den Eingängen einiger Nebenräume bilden sich lange Schlangen. Hier kann man mit Spezialbrillen Erfahrungen mit Virtual Reality machen, zum Beispiel auf einer Planke hoch über einer Wolkenkratzer-Schlucht stehen und sich trauen, hinunter zu springen. Ironie des Schicksals: Wegen ihrer Behinderung könnte Auguste sich an die Spitze der Schlange stellen, aber sie hätte nichts davon, könnte weder virtuell noch real springen, außerdem würde ihr schwindlig und übel werden.
Wohlerzogene Bildungsbürger
Im größten Saal entschließt sie sich, nicht an den Wänden entlang zu rollen, sondern weiter in der Mitte stehen zu bleiben und mal hierhin mal dahin zu schauen. Nun müssen die Anderen an ihr vorbei, und das ist auch interessant. Die Entgegenkommenden vermeiden Blickkontakt und halten mehr Abstand als nötig, wenn sie rasch weiter gehen. Auguste spürt, dass sie Rücksichtnahme heucheln, diese wohlerzogenen Bildungsbürger, während sie sich eigentlich vor ihr grausen und nur schnell vorbei wollen. Sie versteht das und wendet sich wieder den Bildern zu.
Kunst … was ist Kunst? Unter anderem Illusion … Nachahmung der Natur, gewollte tiefere Bedeutung und letzten Endes doch nur subjektiv, ein Spiel mit Ausdruck und Wahrnehmung, mehr oder weniger frag-würdig, wenn auch manchmal Weltklasse.
Endlich wieder daheim, ist sie erschöpft, macht sich den Rest der Suppe von gestern warm, isst, nimmt ihre Medikamente und legt sich dann angezogen aufs Bett, wo sie sofort einschläft.
Am frühen Abend kommt der Pflegedienst. Diesmal ist es Pawel. „Gute Abend, Madame!“ ruft er fröhlich, sobald er durch die Tür ist. Inzwischen findet Auguste seinen slawischen Akzent sympathisch. Anfangs war es nicht leicht für sie, sich von einem Mann an- und ausziehen, anfassen und waschen zu lassen. Am liebsten hätte sie ihn dabei nicht angeschaut. Andererseits drängte es sie, mit Argusaugen zu überwachen, wie er sie ansah. Mit Ekel und Abscheu, weil sie dick, faltig und fleckig war? Oder vielleicht mit einer fiesen Lust, weil ihre Brüste und ihr Hintern so riesig waren? All das war ihr im Alltag schon begegnet.
Weich wie Entenküken
Aber Pawel ist anders. Er fasst sie resolut und achtsam an, wie man es mit einem verstörten Kind machen würde. Dabei redet er von etwas anderem, einer Zeitungsnachricht, dem Wetter, seiner Familie in Polen. Zum Schluss macht er ihr ein Kompliment: dass ihre Haare voller geworden sind, wie gut ihr das neue Nachthemd steht, etwas in der Art. Heute sagt er: „Ihre Hände sind weich wie Entenküken, Madame.“
Auguste sitzt fertig für die Nacht in Schlafanzug und Bademantel vor dem Fernseher, neben sich das eine Glas Wein, das sie sich täglich gönnt. Sie greift zur Programmzeitschrift, und ihr Blick fällt auf ihre Hände. – Entenküken, naja, aber wenn sie sie ein bisschen besser pflegen würde? Ihre Nägel haben eine hübsche Form. Wenn sie zartrosa lackiert wären? Mit Perlmuttschimmer? Sie wird im Internet nach einem Nagelstudio in ihrer Nähe suchen. Es muss ja nicht gleich Weltklasse sein.
Simone Brugger schreibt
Sehr schöner Text! Vielen Dank dafür.
Ulrike Ziegler schreibt
Was für eine schöne Geschichte! Einfühlsam, berührend, hoffnungsvoll! Bravo, Barbara! Ich mag deine Texte sehr!